Call of Cthulhu Titelbild
Eine nebelverhangene Insel, bevölkert von kauzigen Fischern in brüchigen Holzbauten. Einen großen Fang hat hier seit Jahren niemand gemacht, doch keiner denkt an das Festland. Man bleibt unter sich, Fremden wie dem Privatdetektiv Edward Pierce wird misstraut, gesprächig ist hier auf Darkwater Island niemand. Es ist 1924, der Schrecken des Ersten Weltkrieges liegt noch vielen in den Knochen, doch auch einem gestandenen Veteranen wie Pierce will kein Seemann hier von den einheimischen Bräuchen, die mehrere ominöse Symbole und eine fremde Sprache beinhalten, erzählen. Die Bewohner der Insel leiden unter Schlaflosigkeit, jeden Tag verschwinden Nachbarn, Haustiere - selbst Möwen haben sich verflüchtigt. Der Detektiv watet also auf der Suche nach der exzentrischen Malerin Sarah Hawkins durch den Keller eines überfluteten Hauses. Hüfthoch und undurchsichtig. Im nächsten Moment, wie sollte es auch anders sein: Tentakel. Dann Dunkelheit.
Die beschriebenen Szenen stammen aus dem neuen Videospiel Call of Cthulhu, natürlich basierend auf der bekannten Kurzgeschichte von H.P. Lovecraft. Der Ruhm des Vaters allen kosmischen Horrors ist in Deutschland nur von seinem Namensvetter H.P. Baxxter übertroffen, seinesgleichen Komponist und Vater aller kosmischen Elektromusik. Der Cthulhu-Mythos ist heutzutage überall zu finden. Kaum ein Horror-Universum ist nicht vom lovecraft’schen Wahnsinn und übernatürlichen Fürchten inspiriert. Doch wie anhand des obigen Szenarios zu sehen, werden nur wenige Elemente wirklich dem Horror des Amerikaners zugeschrieben. Fischmenschen, Tentakelwesen und alte Götter - das ist Lovecraft! So könnte man jedenfalls heute denken, wenn man sich Medien ansieht, die sich mit dem Namen des Autors schmücken. Am Beispiel des aktuellen Videospiels vom französischen Studio Cyanide lassen sich diese offensichtlichen Inspirationen sehr gut sehen, aber auch ein Blick in die Essenz anderer Werke kann gewagt werden.
Fischmenschen, Geisteskrankheiten und andere Klischees
Die Entwickler verzichten glücklicherweise auf das Gewand eines Actiontitels - sicherlich lassen sich Waffengewalt und Horror kombinieren, doch die Franzosen wollen sich sichtlich auf die erzählerische Aspekte Lovecrafts einlassen. Übernommen aus dem gleichnamigen Pen-and-Paper-Rollenspiel ermittelt der Protagonist Edward Pierce mit Fragen, Überzeugungsarbeit und brillanter Tatortsicherung. Das ist zum Teil sogar wesentlich unblutiger als die Originalbücher: Im Spiel geht es leise und heimlich zur Beobachtung eines Kultistentreffens, während Lovecraft dies mit dutzenden Toten und Gefangenen auflöst. Auf dem digitalen Bildschirm wird der Spieler dazu angehalten, sich auf die Kultisten einzulassen - so sind diese ja auch nur Zivilisten, denen alte Götter unsanft in den Verstand geflüstert haben.
Daran zeichnet sich ein Merkmal von vielen Geschichten um kosmisches Grauen ab. Der 1890 geborene Autor hat in seinen Büchern außerhalb des menschlichen Verstandes selten Grauzonen etabliert. Betrachtet man die Geschichten ohne das heute stark abgenutzte Etikett “Psychologischer Horror”, gibt es oft klare Feindbilder. Lovecraft malte seine Geschichten Schwarz und Weiß, oft auch wortwörtlich, sein Rassismus und die Feindseligkeit gegenüber Minderheiten sind ausführlich überliefert. Kunst und Künstler sind in den Originalen schwer zu trennen: Die weltweiten Cthulhu-Kulten aus seinen Schriften sind klar an antisemitische Verschwörungstheorien angelehnt. Glücklicherweise lassen Medien aus diesem Jahrhundert diesen Aspekt aus - die Erzählungen brauchen ihn sicherlich nicht.
Unklare Feindbilder im Videospiel tragen dabei sogar zu der größten Stärke von Call of Cthulhu bei. Ist in vielen Horrorfilmen das Grauen greifbar, etwa eine Kreatur oder ein Massenmörder, so sitzt es hier im Menschen selbst. Geisteskrankheiten und Wahnsinn sind bei Lovecraft immer zu finden, geschuldet ist es wahrscheinlich auch einem Boom auf dem Forschungsgebiet zu seinen Lebzeiten. Privatermittler Pierce hebt bei seinem Vorgehen viele Bücher auf, bei Freuds Traumdeutung spricht er ein Lob aus, es handele sich schließlich um ein nützliches Werkzeug beim Verhören. Genau an der Stelle vollführen viele Medien einen Drahtseilakt: Sind psychologische Erkrankungen ein Teil der Erzählung, mit dem würdevoll umgegangen wird, oder doch nur ein Mittel zum Zweck?
Alte Götter mit neuen Methoden
H.P. Lovecraft sieht immerhin, dass hinter der Psyche doch noch ein Mensch steht. In einem Essay von 1927 schreibt er, frei übersetzt: "Geschichten von normalen Gefühlen und Ereignissen, oder von gewöhnlichen sentimentalen Veränderungen solcher Gefühle und Ereignisse, werden immer den Geschmack der Mehrheit dominieren. Wahrscheinlich zu Recht, denn diese Dinge machen natürlich den größten Teil der menschlichen Erfahrung aus". So gesteht er sich auch ein, dass seine Bücher nur eine Nische ausmachen, nutzt das Wissen um den Stellenwert von normalen Gefühlen aber für sich. Die Helden seiner Geschichten sind besessen davon, normal zu sein, umgeben von verrückten Kulten. Aber je näher sie der Wahrheit kommen, die ihnen beispielsweise das Necronomicon liefert, desto schneller verlieren sie ihren Verstand. Dieser Verlust der geistigen Gesundheit als Preis für ein höheres Wissen, macht am Ende niemanden zum Gewinner, außer natürlich alte, oktopusgesichtige Götter. Lovecraft lässt den Menschen immer wieder und wieder versagen.
In Call of Cthulhu macht sich dieses Scheitern schon früh bemerkbar. Der Protagonist ist ein Veteran des Ersten Weltkrieges. Fälle nimmt er nur an, wenn sie genug Potential bieten, ihn eine Weile vom Alltag abzulenken. Seine Lizenz droht im entzogen zu werden, aber diese Sorgen ertränkt er im Glas, so tief, dass man meint, R'lyeh, die versunkene Heimat von Cthulhu selbst, am Boden zu sehen. Bei seinem Fall sucht er die Wahrheit hinter dem Tod der Familie Hawkins. Nicht etwa die grauenvollen Visionen der Ehefrau oder der mörderische Kult der Insel sind schuld: In einem Familiendrama hat der missbrauchende Vater Feuer gefangen und so Frau und Sohn mit in den Tod, in das Inferno gerissen. Wieder menschliches Versagen, da braucht es nicht mehr viel, um die korrupten Worte Cthulhus in den Kopf zu pflanzen.
Nach solch fürchterlichen Vorkommnissen ist es natürlich leicht, anderen aus dem Weg zu gehen und Mitmenschen zu misstrauen. Es herrscht die Angst vor weiteren Menschen, die plötzlich durchdrehen. In Lovecrafts Worten: „Das älteste und stärkste Gefühl ist Angst, die älteste und stärkste Form der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten“. Und das Unbekannte muss nicht aus dem tiefsten Ozean auftauchen, ein Fremder vom Festland reicht völlig. So löst der Protagonist eine Spirale der Angst aus, aus der auch er selbst nicht entkommen kann. Im Spiel treiben Edward Pierce kleinste Entscheidungen weiter in die Enge: Einen Schluck Whiskey an der Bar trinken, oder doch lieber nüchtern ermitteln? Im uralten Buch voller Geheimnisse blättern, oder doch lieber mit der Polizei kooperieren? Wer sich auf den Wahnsinn einlässt, wird mit neuen Optionen gesegnet: Pierce kann kryptische Zeichen entziffern und Diskussionen mit antiken Wahrheiten lösen. Am Ende sind die Entwickler vor der Konsequenz dieser Entscheidungen aber zurückgeschreckt: Wie der Fall endet, wird in den letzten Sekunden auf Knopfdruck entschieden. Ein wenig mehr Mut hätte an der Stelle nicht geschadet, so verliert der Protagonist in Lovecrafts Geschichten eher die Fähigkeit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Fazit
Entweder ist diese Entwicklungsentscheidung also der größere Plan eines mächtigen Geschöpfes, oder doch nur das kurze Versagen eines Menschen. Call of Cthulhu versagt aber trotzdem nicht bei dem , was es sein will: Eine Lovecraft-Geschichte zum Miterleben, in der der Spieler den Weg in die eigene Verdammnis geht. Wer also Fischerdörfer, Kultisten und Tentakel noch nicht satt hat, kann zugreifen. Andere sollten durch das nicht erwähnenswerte Gameplay und eine kurze Spielzeit zum hohen Preis aber vielleicht noch abwarten. Man kann nur hoffen, dass eines Tages auch andere Geschichten und Szenarien des Kult-Autors adaptiert werden.
Call of Cthulhu erscheint heute für Playstation, Xbox und den PC.