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Man kennt das Format eigentlich eher von Computerspielen – im Gegensatz zu Büchern, Filmen oder Hörspielen kann man bei vielen Adventure-Games mehr oder weniger die Handlung des Geschehens mitbestimmen. Zuletzt konnte man als Zuschauer der Black-Mirror-Folge "Bandersnatch" selbst Entscheidungen treffen, welche den Verlauf der Geschichte in verschiedene Richtungen lenkte.
Dieses Konzept haben jetzt der Autor Daniel Wild und der Regisseur Martin Heindel für ihr neues Hörspielprojekt angewendet. Tag X lässt dem Hörer die Wahl, wie er ins Geschehen eingreifen will. Dafür haben die beiden Macher ein Bürgerkriegsszenario in einer deutschen Großstadt entwickelt.
Ohne zu spoilern kann man verraten, dass es im dem Hörspiel einen Aufstand abtrünniger Polizei- und Militäreinheiten gegeben hat und zeitgleich ein mysteriöser Virus freigesetzt wurde. Wie die beiden Vorfälle zusammenhängen, erfährt der Hörer Stück für Stück – wenn er denn die richtigen Entscheidungen trifft.
Der Held erwacht blind auf einer verlassenen Straße und kann sich nicht erinnern, wie er dort hingekommen ist. Kurz darauf trifft er auf eine Sanitäterin, die ihn untersucht – dann aber in der verseuchten Sperrzone allein zurücklässt.
Schon in dieser Eingangssequenz muss der Hörer erste Entscheidungen treffen, die sich später auf dem Verlauf der Handlung auswirken. Auf sich gestellt, muss man sich nun entscheiden, dem Geräusch des wegfahrenden Sanitätsfahrzeugs zu folgen, an Ort und Stelle auf Hilfe zu warten oder der Musik zu folgen, die plötzlich erklingt.
Bei jeder aufkommenden Frage wird die Geschichte kurz unterbrochen. Entweder muss man sich nun zwischen zwei bis drei alternativen Möglichkeiten entscheiden oder die Antwort auf eine gestellte Frage eingeben. Technisch gibt es die Möglichkeit an dem interaktiven Hörspiel über Sprachsteuerung durch Alexa und Co, über eine App auf dem Smartphone oder mit seinem Computer teilzunehmen.
Im Laufe der Handlung stößt der Held auf verschiedene Bürgerkriegsparteien, wilde Tiere, Menschen in Not und auf ein kleines Mädchen. Das Szenario ist grausam und nicht alle Menschen, die man trifft, sind dem Helden freundlich gesonnen. Wer mehrere Versionen durchgespielt hat, weiß nach und nach, wem er trauen darf.
Sehr gut bauen die Macher die Informationen über die politische Situation und die Ursprünge der geheimnisvollen Viruserkrankung ein. Mal kann man etwas in den Radionachrichten aufschnappen, Informationen aus den Erzählungen eines Kleinkindes ziehen oder Personen gezielt fragen und auf ehrliche Antworten hoffen.
So bleibt die Spannung des Hörspiels auch beim dritten und vierten Durchgang gewahrt. Nur wer sich mehrere Fassungen anhört, bekommt einen Blick für die großen Zusammenhänge – und weiß rückblickend, warum einige seiner Entscheidungen für den Helden tödlichen endeten.
Denn nicht alle Entscheidungen resultieren in einem guten Ende, und manche Wege führen schnell in den sicheren Tod. Irgendwann kristallisieren sich zwei Hauptpfade der Handlung heraus, die sich aber wieder in vielen Wege aufsplitten. Die meisten Hörer werden wohl früher oder später in dem verlassenen Spätkauf landen, da man für den anderen Hauptzweig eine fragwürdige Entscheidung treffen muss.
Ein großes Problem der interaktiven Version von Tag X ist die Bedienung. Der Hörer kann, wenn er zu einem der 13 möglichen Enden gekommen ist, immer nur zur letzten Entscheidung oder ganz zum Anfang zurückspringen. So muss man, um erneut zu einen der entscheidenden Wendepunkte zu kommen, immer wieder beim Beginn einsetzen und kann nicht zu den relevanten Stellen des Hörspiels springen.
Dies hätte man sicher technisch anders lösen können. Der ein oder andere Hörer könnte das Hörspiel frustriert abbrechen, weil er nicht erneut mehrere Minuten hören und abwarten will, um wieder zu einem entscheiden Punkt der Geschichte zu gelangen.
Als Erzähler führt Christian Jungwirth durch die Geschichte, der vor allen als Sprecher von Fernsehdokumentationen und Werbespots tätig ist. Er macht seine Sache sehr gut, und seine Stimme weist oft Ähnlichkeiten zu Joachim Kerzel (Synchronstimme von Jack Nicholson und Dustin Hoffman) auf. In Tag X sind je nach Entscheidung unter anderen auch Eli Wasserscheid (Ballon), Ferdinand Dörfler (Der Pass), Wowo Habdank (Tannbach) und Ann-Sophie Ruhbaum zu hören.
Regisseur Martin Heindel inszenierte und schrieb unter anderen die Hörspiele Im Raum, Eifelgeist, NeuNuernberg, Der Wald oder Die Fabrik. Der Autor Daniel Wild hatte 2017 mit dem Kinofilm Lux – Krieger des Lichts sein Regiedebüt, zu dem er auch das Drehbuch verfasste.
Ganz neu ist die Idee eines interaktiven Hörspiels nicht. Da wäre zum Beispiel die Folge "Die Dr3i – Hotel Luxury End", in welcher die Hörer entscheiden konnten, welchen Verlauf die Ermittlungen von Justus, Peter und Bob (die in der Folge wegen Rechtsstreitigkeiten nicht als Die drei Fragezeichen auftreten durften) nehmen. Dennoch haben Heindel und Wild ein spannendes Katastrophenszenario erschaffen, welches viele Geheimnisse präsentiert und mit einer schlüssigen Auflösung der Geschehnisse aufwarten kann.
Eine bearbeitete Hörspielversionen, in der man keine Entscheidungen selbst treffen muss, kann man im Hörspielpool des Bayerischen Rundfunks finden. Die interaktive Version von Tag X ist aber zu bevorzugen, da sie deutlich mehr Spaß macht, mehr Hintergrundinformationen liefert und sich die Ansprache in der zweiten Person Singular in der reinen Hörspielversion auf Dauer recht merkwürdig anhört.
Fazit
Tag X kann durch ein sehr gutes und düsteres Grundszenario überzeugen, welches auch ohne die interaktive Version funktioniert. Besonders gelungen ist der Spannungsaufbau, in dem die unterschiedlichen Informationen nur häppchenweise in die verschiedenen Pfade der Geschichte eingestreut werden. Das macht Lust, dem Helden durch möglichst viele Versionen zu den 13 möglichen Enden zu folgen. Die Navigation hätte der Bayerische Rundfunk besser lösen können. Sogar die alte Drei-Fragezeichen-CD "Hotel Luxury End" hat dieses Problem besser gehandhabt – da wäre es für ein interaktives Online-Hörspiel im Jahr 2020 sicher auch möglich gewesen, mehr Punkte zum Wiedereinstieg in die Handlung anzubieten.