Wächter des Morgen

Sergej Lukianenko

Nach sechs Jahren kehrt der russische Autor Lukianenko zur Nachtwache und seinen Anton Gorodezki zurück. Im Original heißt der Roman "Die neuen Wächter", der Heyne Verlag hat daraus nicht unpassend "Wächter des Morgen" gemacht, denn es geht um die Gabe der Prophezeiung, die den Wächtern des Tages und der Nacht nicht unbekannt ist, die aber angesichts der Unbestimmbarkeit der Voraussagen bislang eher beiläufig abgetan worden ist. Lukianenko geht aber noch einen Schritt weiter. Die Propheten verfügen meistens über nur eine eingeschränkte Gabe, die sich auf ein sehr enges Spektrum bezieht. Sobald deren Vorhersage ausgesprochen und mehr oder weniger direkt/ indirekt eingetroffen ist, werden sie zu "normalen" Menschen und sind vor dem Zwielicht geschützt. Bis zur Aussprache dieser Vorhersage verfügt das Zwielicht in Form eines von Lukianenko absichtlich unbestimmt beschriebenen Wesens namens Tiger über einen gnadenlosen Jäger, der die Menschen zu töten sucht. Zu Beginn des Romans begegnet der inzwischen zu einem der wenigen hohen Magier der Nachtwache herangereifte Gorodezki an einem Flughafen einem Jungen, der nicht an Bord eines Flugzeuges gehen möchte. Er sieht den Absturz der Maschine voraus. Die Mitglieder der Nachtwache greifen aktiv in das Geschehen ein und schicken den Jungen mit seiner Mutter nach Hause. Die Maschine startet und landet sicher am Zielflughafen. Doch in dem Jungen steckt eine zweite Prophezeiung, die das Ende allen Lebens auf der Erde bedeuten kann. Mit einem Trick versuchen die Mitglieder der Nachtwache der Tiger zu irritieren. Sie ahnen nicht, dass Anton Gorodzki über einen Mitschnitt der Vorhersage verfügt, da diese nicht nur die Magie auf Erde betrifft, sondern vor allem seine heranwachsende Tochter, deren Fähigkeiten noch nicht ausgereift sind.

Die letzten beiden "Nachtwache" Episodenromane litten unter Lukianenkos hohem Arbeitstempo. In sehr kurzer Zeit hat der Russe verschiedenste Werke veröffentlicht und dabei nicht selten Ideen in unterschiedlichen Variationen recycelt. Der vorliegende fünfte Teil wirkt frischer, zumal der Autor das bisher zu stringente Fugenkonzept gelockert und einen stringenteren Roman verfasst hat.
Fünfzehn Jahre sind seit den letzten Abenteuern der Nachtwache vergangen. In Russland hat sich anscheinend nicht viel verändert. Mit einem melancholischen Unterton lässt Lukianenko seinen Charakter an die Zeiten erinnern, als die russischen Jugendlichen den viel zu engen Wohnungen nur auf die Spielplätze nach Sonnenuntergang entkommen konnten. Oder das die gegenwärtige Sowjetunion nur vordergründig sich von der Planwirtschaft und dem pervertierten Ideal eines Kommunismus dem sozialistischen Kapitalismus zuwendet. Die Unterschiede sind im Alltag nur negativ zu spüren. Altersarmut, Alkoholsucht und eine zusammenbrechende Wirtschaft stehen der Raffgier der Oligarchen gegenüber. Hinzu kommen Hohn und Spott für die normalen Ordnungskräfte, denen der Autor insbesondere in der Flughafensequenz eine lange Nase dreht. Diesen überwiegend kritischen sozial realistischen Hintergrund verknüpft der Autor nicht immer gänzlich befriedigend mit seiner phantastischen Handlung. Anton Gorodezki wirkte in den ersten vier Büchern nicht selten wie der letzte, naive und brave Soldat. In diesem Fall der "Nachtwache", der die Menschen vor übernatürlichen Einflüssen mehr als einmal gerettet hat. Wenn er plötzlich eine ungeheure Summe Geld aus dem Automaten ziehen kann, handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes um Hexenwerk, während andere Mitglieder der beiden Wachen mit ihren magischen Fähigkeiten ohne Probleme ihren Lebensunterhalt mit Glücksspiel oder Börsengeschäften verdienen können. Diese teilweise sentimentale und übertrieben erscheinende Naivität wird durch die beiden Auslandsreisen Antons verstärkt. Erst reist er auf der Suche nach Menschen, die ihm beim Propheten helfen können, nach London. Staunend betrachtet er den Reichtum, den sich insbesondere russische Oligarchen - hier impliziert Lukianenko mehr als das er diese Tatsache kritisch ausspricht - in der britischen Hauptstadt aufgebaut haben. Noch interessanter ist die Reise in den Fernen Osten, wie die waidwunde russische Seele auf eine gänzlich andere Kultur trifft. Beweinte Lukianenko in seinen bisherigen Romanen eher den Untergang eines in dieser Form niemals wirklich vorhandenen Russlands, so stellt er staunend, aber auch pointiert intelligent hinterfragend diese nur auf den ersten Blick positiven Erkenntnisse unbeschränkter Reisefreiheit den Nachteilen des Verlusts der eigenen Nationalität gegenüber. Manchmal schwafelt der Protagonist stellvertretend für den Autoren zu sehr. Aber im Großen und Ganzen zeigen diese Abschnitte ein deutlich nuancierteres Bild der russischen Gegenwart, vor dem sich zum ersten Mal in dieser Konstellation der Kampf der Tag- und Nachtwache gegen das eher schwach beschriebene Zwielicht abspielt.
Die Idee der Propheten wird von Lukianenko nicht als "Deus Ex Machina" Lösung genommen. Kaum hat er diese Fähigkeit eingeführt, beschränkt er sie teilweise auf sehr kuriose Art und Weise wieder. Der Leser kann nur schmunzeln, wenn die Miniröcke einer Maria richtig vorausgesagt und doch ganz anders eintreffend beschrieben werden. Mit dem aus dem Zwielicht kommenden Tiger gibt es sogar eine Art Kontrollorgan, das nicht allmächtig, aber zumindest Furcht einflössend ist. Die Auseinandersetzung mit dem besser im Hintergrund agierenden Zwielicht gibt der Nachtwache eine neue Aufgabe und dem Leser einen weiteren Anreiz, tiefer in das ohne Frage nicht ausgereizte Universum einzusteigen. Der persönliche Brückenschlag mit der Einbeziehung von Antons inzwischen auch pubertierender Tochter inklusive der leider zu abrupt beendeten Schlussszene wirkt teilweise zu stark konstruiert. Auch wenn die Auflösung hinsichtlich der Effektivität und Simplizität nicht nur überrascht, sondern auch die meisten der roten Fäden zufriedenstellend abschließt, hätte man sich vielleicht ein wenig mehr Dramatik gewünscht.
Für Neueinsteiger in die Serie hält der Autor unauffällig über den ganzen Roman verstreut ausreichend Hintergrundinformationen bereit. Für Fans der Serie ist der weiter fortgeschrittene Reifeprozess einiger der Protagonisten sehr viel interessanter als manche der wenigen und sehr gut verstreuten magischen "Actionszenen". Zusammengefasst wirkt "Wächter des Morgen" trotz mancher durchaus zu kürzender Passage sehr viel frischer als die letzten beiden Romane dieser ungewöhnlichen russischen Phantastikserie.

Sergej Lukianenko: "Wächter des Morgen"
Anthologie, Hardcover, 445 Seiten
Heyne- Verlag 2012

ISBN 9-7834-5331-4115

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