Der Angler

John Langan

„Der Angler“ ist nicht nur der erste Titel eines neuen Verlags Wandler gewesen, sondern der zweite Roman John Langan, für den er mit dem Bram Stoker Award als bester Horrorroman ausgezeichnet worden ist.  Der 1969 geborene Langan spricht nicht nur in seiner Danksagung, sondern in dem ausgezeichneten, der Buchveröffentlichung hinzugefügten Interview über die lange Entstehung des Buches. T.E.D. Klein kann sich diesen Worten anschließen, denn „Der Angler“ brauchte mehr als zehn Jahre zwischen der Idee und der Drucklegung, bis diese dunkle, an eine perfekte Mischung aus Stephen King und H.P. Lovecraft erinnernde Geschichte das Licht der Welt erblickt hat.

 Hauptberuflich unterrichtete Langan an der City University of New York  unter anderem kreatives Schreiben, aber auch Gothic Fiction. Sein erster Roman „House of Windows“ erschien 2009. Zwischen 2008 und 2022 folgten insgesamt fünf Kurzgeschichtensammlungen, vor allem in kleineren Verlagen. Seine erste Storysammlung „Mr. Gaunt and Other Uneasy Encounters“ ist ebenfalls für den Bram Stoker Award nominiert worden.

Im Original heißt die Geschichte simpel „The Fisherman“, „Der Angler ist eine perfekte Übersetzung des Titels, drückt aber die mehrfache Doppeldeutigkeit der Geschichte nicht ausreichend genug aus. Es ist eine Geschichte, in welcher sich Verzweiflung, Sehnsucht und die Suche nach dem wahren Glauben   gegenüberstehen. Es ist selten, dass so viele Männer das Wichtigste in ihrem Leben verloren haben. Auf unterschiedliche Art und Weise kämpfen sie gegen die Einsamkeit und den Schmerz an. Das Erstaunliche ist, dass ausgerechnet der Charakter, dessen Frau für den Leser als „erste“ stirbt, am ehesten damit abschließen kann, weil er ihr Ruhe und Frieden gönnt. Abraham oder Abe an seine deutlich jüngere Frau kurz nach ihrer Eheschließung an Krebs verloren. Er stand an ihrer Seite und hofft, dass sie im Jenseits ein anderes, besseres Leben führen würde. Zwar ohne ihn, aber auch ohne Schmerzen. Aus dem Nichts heraus beginnt der dem Alkohol verfallene Abe zu angeln und findet eine gewisse Ordnung in seinem Leben. Der Drang, Angeln zu gehen, sieht er als einzigen übernatürlichen Fingerzeig seiner verstorbenen Frau an.  

Abe ist auch der Ich- Erzähler der Geschichte. An mehreren Stellen macht John Langan deutlich, dass Abe diese Geschichte niedergeschrieben hat, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Aber diese Erzählung ist noch deutlich mehr, wie sich an einer anderen Stelle des Buches zeigt. Es ist eine Reise tief in das dunkle Herz des amerikanischen Hinterlandes. Auf dieser Reise scheint ihn Dan zu begleiten. Dan hat seine Frau und die Zwillinge durch einen schrecklichen, vermutlich auch ein wenig selbstverschuldeten Autounfall verloren. Ein Narbe wird Dan Zeit seines restlichen Lebens an diesen Moment erinnern.

Abe lädt Dan auf eine Angeltour ein. Schweigend sitzen die Männer an den Flüssen und angeln. Erst nach und nach öffnet sich Dan. Zusätzlich schlägt er vor, einmal den kleinen unscheinbaren Fluss Dutchman Creek aufzusuchen, der den riesigen örtlichen Staudamm nährt. Die Einheimischen raten den beiden Männern von einem Besuch des schwierig zu erreichenden Flusses ab. Zu viele Menschen haben sich in den letzten Jahren überschätzt und die Gefahren an den steilen Hängen unterschätzt. Mehr als ein Dutzend Menschen sind in den letzten Jahren in und um den Fluss ums Leben gekommen. Der örtliche Koch erzählt Abe und Dan aber noch eine andere Geschichte.

Abe schreibt diese lange Geschichte auf. John Langan impliziert, dass er nicht nur das Gehörte niederschreibt, sondern selbst zum Erzähler der Story wird und einzelne Teile hinzugefügt, die er unter natürlichen Umständen nicht wissen kann. Handlungstechnisch ist es ein mutiger Schritt, den bislang roten Faden zu unterbrechen, in der Zeit zurückzuschreiben und einen Einschub zu präsentieren, die rückblickend länger und stellenweise auch faszinierender geworden ist, als der eigentliche „Roman“. Am Ende sind es natürlich die Erfahrungen dieser Geschichte, welche für Dan und Abe den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten könnten. Die Definition von John Langan ist in „Der Angler“ allerdings nicht klar definiert und verschwimmt wie in einigen von Stephen Kings besten frühen Arbeiten. Auf den ersten Blick fällt dem Leser „Pet Sematary“ genauso ein wie Jack Cadys „Inzaghi“.

Aber auch der Roman innerhalb des Romans wird nicht geradlinig erzählt und greift wieder auf eine Erzählung innerhalb der Geschichte zurück. Souverän trennt John Langan diese einzelnen Schicksale und gibt im Laufe der beiden Handlungsbögen lange Zeit nur die notwendigen Informationen preis.

Die „andere“ Handlung spielt vor dem Ersten Weltkrieg. Einwanderer aus Deutschland schaffen es, beim Bau des Staudamm angeheuert zu werden, obwohl sie nicht die notwendigen Fähigkeiten haben. Sie mussten  Deutschland aus Gründen verlassen, welche der zweite Erzähler dieses Buches fast nebenbei gegen Ende seiner persönlichen Geschichte präsentiert. Fähigkeiten, die den Menschen beim Überleben helfen. In dem kleinen Dorf wohnt eine Art Scrooge, der einen Mann in Schwarz bei sich aufnimmt, nachdem seine Frau bei einem Reitunfall ihr Kind verloren hat. Niemand hat sie danach gesehen. Die Ereignisse nehmen erst Fahrt auf, als eine weitere Frau bei einem Unfall ihr Leben verliert und ihr Mann diesen Verlust nicht akzeptieren will. Er sucht den schwarzen Mann in dem Haus auf. Das Ergebnis wird das Gesicht der Gemeinde für alle Zeiten verändern, auch wenn es nur Bestandteil einer wiederum sehr viel größeren Geschichten von Lovecrafts Dimensionen ist.

Im letzten Abschnitt des Romans fließen die Vergangenheit und Gegenwart zusammen, als die eigentliche Bedrohung, das Ziel des allgegenwärtigen und sich doch im Hintergrund haltenden Anglers sein dunkles Haupt wieder erhebt.  

H.P. Lovecrafts Stärke lag in der Beschwörung einer Bedrohung aus dem Jenseits. Dabei ging der Autor mit diesem Begriff ausgesprochen ambivalent um. Das Fremde konnte unter den Bergen seiner neuenglischen Heimat genauso lauern wie nur durch eine dünne Dimensionsmauer getrennt. Teilweise kam es aus dem All und die alten, verbotenen Schriften haben deren Geschichten niedergeschrieben. Für Lovecrafts Ich- Erzähler wurde diese Bedrohung aber allgegenwärtiger und begleitete sie implizit für den Rest ihres Lebens. John Langans Grauen basiert auf den alten Schriften, auf der Beschwörung alter Geister oder vielleicht auch teuflischer Wesen, deren „ Gunst“ niemals billig ist. Der größte Teil des Hintergrund dieser Geschichte wird im mittleren Abschnitt erzählt. Wie eingangs erwähnt geht John Langan allerdings nicht chronologisch vor, sondern platziert nach der eigentlichen Familienchronik mit dem tragischen Ende  noch einen Exkurs in den Bereich der Alchemie. Während Lovecrafts Erzähler diesem Phänomen nur indirekt begegnet sind und sie den folgenreichen Spuren quasi hinterher schlichen,  ist John Langans bereit, seinen Protagonisten Spuren von grau zu verleihen. Sie sind nicht gut, aber auch nicht abgrundtief böse.

In der Gegenwart endet die Geschichte im Grunde erwartungsgemäß. Das hört sich enttäuschend an, aber John Langan agiert konsequent, aber wenig überraschend. Der Ich- Erzähler hat die Leser schon auf das kommende Unheil vorbereitet, so dass der Schrecken nur bedingt gesteigert werden kann. Die finale Begegnung und damit auch der Hinweis auf eine allgegenwärtige Bedrohung, welcher sich der Protagonist nur bedingt entziehen ist, ist verstörender als die zuvor beschriebene finale Konfrontation zwischen dem mehrfach angesprochenen Angler und den beiden Freuden, aber auch zwischen Abe und Dan direkt.

Stephen King ist in seiner langen Karriere immer am stärksten gewesen, wenn seine zutiefst menschlichen und vom Schicksal wie bei John Langan gebeutelten Menschen nicht aktiv vom Übernatürlichen bedroht worden sind, sondern grenzwertige Entscheidungen teilweise basierend auf Mythen und Legenden treffen mussten. Weniger der blanke Horror als die Tatsache, dass der Leser sich nicht in dieser schwierigen bis unmöglichen Situation entscheiden muss, machten den Reiz dieser Geschichten aus.   „Pet Sematary“ sei hier beispielhaft genannt. 

Fünf Männer verlieren unter unterschiedlichen Umständen früh ihre Frauen bzw. ihre Kinder.  Aber aus unterschiedlichen Gründen sehen sie eine Möglichkeit, diesen Verlust auszugleichen und die Toten zurückzubringen.  Der Ich- Erzähler Abe – Abraham ist ein passender biblischer Name für einen solchen Charakter – ist das bei der einzige Mann, der sich mit dem Schicksal abfindet. Vielleicht liegt es in der Tatsache begründet, dass seine Frau zwar jung, aber lange leidend an Krebs gestorben ist, während alle andere Männer ihre Frauen durch Unfälle, im Kindbett oder durch Mord teilweise auf einem grausame Art und Weise verloren haben.

Der Angler ist  der erste Mann der Kette, der sich mit dem Schicksal nicht abfinden kann. Erstaunlicherweise will er nicht Rache an den Österreichern nehmen, die seine ungarische Familie abgeschlachtet haben. Er will sie mittels der schwarzen Künste wiederbeleben und besucht in Europa Männer, die sich mit dem verbotenen Wissen auseinandergesetzt haben. In den USA während des Baus des Staudamms wird diese Idee extrapoliert. Es scheint eine Zone zu geben, in welcher die Toten wieder lebendig werden. Aber der zugrundeliegende Preis ist hoch. Es muss ein Gott gefangen werden. Dieser Aspekt verweist eher auf H.P. Lovecraft. Und in der Gegenwart sind es nur wenige Worte in einem Angeltagebuch, welche Dan auf den aus seiner Sicht richtigen, aber ins Verhängnis führenden Weg bringen.

Ihre Motive sind klar herausgearbeitet. Bis zu einem bestimmten Grad kann der Leser sogar Verständnis für sie aufbringen.  John Langans Themen sind zeitlos wie universell. Die Angst vor dem Tod (eines geliebten Menschen), die Einsamkeit und Verzweiflung.  Dieser emotionale Handlungsstrang durchzieht den Roman.  Keiner der Männer ist  wirklich Schuld, auch wenn sie mit ihren Handlungen und Taten sehr viel mehr Chaos und vor allem Tod anrichten, als es ihnen bewusst ist. John Langan spannt den Bogen bis zu den verbotenen Künsten, der Schwarzmagie. Auch hier gibt es einen Todesfall. Zwei Freunde übernehmen eine seltsame Aufgabe. Sie sollen von einem Friedhof eine bestimmte Blume holen, die für Schwarzmagie eingesetzt werden kann. Allerdings muss sie auf eine besondere Art und Weise transportiert werden: Dreimal in ein Leichentuch eingeschlagen, was einer der beiden Männer als absurd abtut. Am nächsten Tag ist er zu Staub zerfallen, sein Freund fühlt sich schuldig, wird von der Universität verbannt und muss zukünftig als Steinmetz in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Dasein fristen. Im Gegensatz Abe kann er seinen Frevel wieder gut machen, in dem er sich als erster gegen den Angler stellt, um die kleine Gemeinde am Fuße des zukünftigen Stausees zu retten.   

Sowohl Scrooge als der einfache Arbeiter verfallen nach dem Tod dem schwarzen Mann, der ihnen auf unterschiedliche Art und Weise Erlösung und die Rückkehr ihrer Frauen verspricht. Die wahre Identität des Anglers wird in einer Rückblende nach der schon angesprochenen Rückblende offenbart. Diese zusätzliche Länge unterbricht den originären Handlungsbogen vielleicht ein wenig zu lang, aber John Langan präsentiert sich als ein derartig souveräner Erzähler, das es eine Freude ist, dieser verschachtelten und atmosphärisch zwar morbiden, aber nicht nihilistischen Handlung zu folgen.

Am Ende kehrt der Autor wieder zu H.P.  Lovecraft zurück und entwickelt einen Fluss ohne Grund; ein Land neben dem unseren zu einer verstörend schönen und gleichzeitig abstoßenden Zone der Verheißung, deren Fassade dünn ist und die nur zusammengehalten wird, weil der Angler seinen größten Fang nach Jahrzehnten ein zweites Mal gebunden hat.  John Langans Beschreibungen sind griffiger als bei Lovecraft, allerdings auch morbider und surrealistischer. Langans Beschreibungen wirken auf den ersten und zweiten Blick absurd, aber sie funktionieren in dieser dunklen, stimmungsvollen Geschichte ausgesprochen gut.

Das Buch handelt auch vom Angeln. Der Autor versucht den Lesern die heilende Wirkung des Angelns zu beschreiben.  Die Einsamkeit an den Seen und Flüssen, das zur Ruhe kommen. Abe angelt nicht unbedingt, um etwas zu fangen, sondern um zu vergessen. Erst später wird er die Fische auch essen, zu Beginn schmeißt er sie umgehend wieder ins Wasser. Wie an einigen anderen Stellen des Buches  verlangt der Autor von seinen Lesern Geduld und entwickelt die von dreidimensionalen, wie sehr unterschiedlichen Charakteren bevölkerte Story um europäische Mythen, die sich vor allem in Neu England in ganz andere Richtungen entwickelt haben, ruhig und gelassen. Daher wirken die Rückkehr in die Gegenwart und  die finale Auseinandersetzung fast hektisch, abrupt. In seinem Nachwort gibt John Langan auch zu, dass er sich für den Roman eine Deadline gesetzt hat, die er abschließend nicht einhalten konnte, aber angesichts der fast phlegmatischen, aber interessanten Handlungsentwicklung gegen jede logische chronologische Erzählstruktur wirken die letzten Seiten eher effektiv als wirklich bis ins Detail überzeugend. Aber es ist eine kleine Schwäche in einem Buch, das aus der literarischen Zeit gefallen erscheint und deswegen von der ersten Seite an so lesenswert, so originell mutig wie klassisch ist. John Langan hat die Urängste der Menschen an der Gurgel gepackt und sie in den Abgrund schauen lassen. Einige schwächere Charaktere haben sich schließlich diesem Schicksal ergeben, um die innere Leere zu bekämpfen, während zwei mutige Männer schon vorher ihren inneren Frieden gefunden und andere Ziele definiert haben.  Aber der Leser kann an keiner Stelle einen metaphorischen Stab über diesen „Menschen“ brechen. Und das ist die eigentliche Stärke einer faszinierend, verstörenden, lesenswerten und zeitlosen Weird Fiction Story, in welcher die literarischen Wurzeln des Genres auf eine interessante Art und Weise neu, aber nicht unbedingt anders definiert werden.




Der Angler

  • Herausgeber ‏ : ‎ Wandler Verlag (15. Januar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 404 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3948825033
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3948825034
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 16 Jahren
  • Originaltitel ‏ : ‎ The Fisherman
Kategorie: