Raven E. Dietzel eröffnet die Sammlung mit einem ungewöhnlichen „Road Movie“. In „Sciurus“ fahren zwei Männer nachts gemeinsam in einem Wagen. Sie unterhalten sich über ihre seit Jahrhunderten stattfindenden Auseinandersetzungen und die sich daraus ergebenden Epochen. Alleine von den nicht selten doppeldeutigen Dialogen getragen entwickelt der Autor ein interessantes Garn, dem er ein konsequentes Ende hinzufügt. Auch wenn sich der Text nicht in das locker die einzelnen Geschichten miteinander verbindende Thema einpasst, handelt es sich um einen guten Auftakt und unterstreicht die Bandbreite dieser Anthologie Reihe.
Sascha Dinses „Risse“ ist im Grunde ein guter Mittler zwischen Raven E. Dietzels Story und den folgenden Arbeiten. Ein Experiment geht schief, Risse bedrohen das Überleben der Menschen. Ein für dieses Experiment verantwortlicher Mann flieht zusammen mit seiner Assistentin und sucht eine geheimnisvolle Frau, die er nur zu kennen scheint. Auch wenn Sascha Dinse eine Reihe von Klischees zu bedienen scheint, konzentriert sich der Autor mehr auf den atmosphärischen Teil und liefert eine weit offene, aber auch nachvollziehbare Erklärung ab, ohne den Fehler zu machen, das hohe Tempo des Plots durch zu viele Exkurse künstlich und unnötig abzubremsen.
Ute Dietrichs „Das Depot“ ist der erste Text, in welchem die Sonne der Auslöser der Katastrophe ist. Zwei Überlebende versuchen das Geschehen zu verarbeiten und gleichzeitig hoffen sie, einige Tage länger überleben zu können. Die Autorin konzentriert sich zwar auf die gut beschriebenen Protagonisten und gibt die Hintergrundinformationen eher spärlich frei, aber der Text wirkt auch ein wenig distanziert geschrieben und der emotionale Funke will nicht beim Leser überspringen. In dieser Hinsicht überzeugen Sascha Dinses „Risse“ vielleicht auch durch die implizierte, niemals ausführlich beschriebene und trotzdem allgegenwärtige Gefahr mehr.
„Arturs Erwachen“ von Leia Reiff ist eine dieser formal gut geschriebenen Geschichten, deren Grundprämisse dem Leser leider in unzähligen Variationen bekannt ist. Was anfänglich wie eine Art Überlebenskampf am Ende des dreißigjährigen Krieg wirkt, verliert sich abschließend in einer eher bemüht konstruierten Idee. Es ist schade, dass vor allem angehende Autoren und Autorinnen nicht den Mut haben, andere Wege zu gehen und selbst alte bekannte Ideen neu zu gestalten.
Auch Michael J. Awes „Der Komplex“ verliert sich nach einem starken Auftakt mit einer menschenfeindlichen Umgebung, einer minutiös geordneten und das Individuum erdrückenden Politik und Arbeitswelt sowie der Überbevölkerung durch das unerklärliche Auftauchen eines Mädchens am Straßenrand in einer Art Mahnung, die leider nicht aufrüttelt noch wirklich überrascht. Auch hier wäre aus der Idee sehr viel mehr zu machen.
Gabriele Behrends „Partition“ ist aus dem Bereich der Science Fiction dieser Anthologie einer der wenigen Texte, der wirklich positiv wie nachhaltig herausragt. Exotisch und faszinierend wie eine Art Fiebertraum beschreibt sie wirklich eine fremde Lebensform, wobei die Autorin wert darauf legt, im Zug dieser im Grunde handlungslosen, aber stimmungsvollen Geschichte den schmalen Grat zwischen Vertrautheit für den Leser und wirklich Fremdartigkeit bis zur Entfremdung nicht in die falsche Richtung zu überschreiten.
Viele andere Texte wirken eher bieder. Norbert Filks „Abschied von Brontannasde“ oder „Im Neonlicht des neuen Tages“ von Nele Sickel gehören leider dazu. Beide Geschichten sind stilistisch gut geschrieben, beinhalten aber wirklich kaum eine originelle Idee. Bei Norbert Filk findet sein Außerirdische auf einer Kolonie suchender Protagonist schließlich unbewusst das Zielobjekt seiner Mission, um es gleich wieder zu verlieren. Bei Nele Sickel zeigt sich, dass Frauen doch cleverer im Rausch der Gefühle sind als Männer. Aber bei beiden Storys will der Funke nicht wirklich übersprungen, zu vertraut bis mechanisch sind die Handlungsführung und zu schwach die entweder bei Norbert Filks halboffene Pointe oder bei Nele Sickel der konsequente Abschluss.
Andreas Funk macht in „Salvation 3“ aus einer leider nicht unbekannten Prämisse durch seinen mutigeren Erzählidee und die originelle Aufteilung der einzelnen Abschnitte mehr als man erwarten durfte. Die Zeichnung der Protagonisten wirkt ein wenig zu schematisch und eine entsprechende Stimmung kommt auch nicht auf, aber die fragmentarische Informationsüberlieferung an den Leser sowie der Hauch eines Zweifels verstärkt den Spannungsbogen als das er in leider zu vielen anderen Geschichten dieser Anthologie geschwächt wird.
Halbphantastische Geschichten nehmen einen breiten Raum in dieser Anthologie ein. Uwe Durst „Dämmerung“ ist eine Miniatur, die eine Gefahrensituation außerhalb des Hauses beschreibt, dessen Auswirkungen der Leser eher erahnen als erkennen kann. Zu kurz um Hintergrundinformationen zu liefern konzentriert sich der Autor auf eine nihilistische Atmosphäre. Simon Viktors „Elias“ erscheint als klassische Geistergeschichte, deren phantastische Ideen sich auch in der Phantasie des Protagonisten abspielen können. Auch wenn der Plot wie bei einigen anderen Texten dieser Anthologie nicht nur einen klaren, sondern eher vorhersehbaren Verlauf hat überzeugt sie durch den angenehmen Schreibstil und die interessante Zeichnung Elias.
Tino Falkes „Hutmachers Laterne“ ist auch eine der eher gruseligen Geschichten, in denen sich der Leser wohl fühlt, weil ihm einzelne Element vertraut sind. Darunter leidet die eher ruhige Entwicklung des Plots. Das Ende ist subtil und entgegen manch anderer Arbeit in sich abgeschlossen, auch wenn dem Leser die Möglichkeit gegeben wird, das Geschehen auch in den in diesem Fall angenehmeren Bereich der Wahnvorstellung zu verschieben.
Manfred Lafrentzs „Wolf in der Steppe“ wirkt dagegen eher wie ein Fiebertraum. Eine attraktive Nachbarin verdreht dem Protagonisten nicht nur mit ihren Partys und später auch allgemeinen sexuellen Gefälligkeiten den Kopf. Der Protagonist wird in eine bedrohliche Welt hineingezogen, wobei der Leser auch hier nicht weiß, ob die lauernden Eidechsen seiner kranken Phantasie entsprungen sind oder eine Welt hinter der Eigenen bilden. Die Grundidee ist gut und vor allem auch minutiös entwickelt, wobei das Ende nicht sonderlich überrascht.
In den Bereich einer kafkaschen Groteske gehört „Janovice“ von Marco Denevi. Nach vielen Jahren im großen Archiv arbeitend wird ein Mann in seinen Ruhestand entlassen. Er kann nichts mit seiner Zeit anfangen und beginnt die Kollegen und das Archiv heimzusuchen. Pointiert und gleichzeitig originell nachdenklich stimmend entwickelt der Autor einen zeitlosen Plot, der den Leser gleichzeitig zum Schmunzeln wie auch zum Nachdenken bringt.
Die Miniaturen überzeugen weniger. Ferrnando Sorrentinos „Die Cubelli- Lagune“ wirkt eher wie ein surrealistischer Reisebericht als eine abgeschlossene Geschichte.
Hans Jürgen Kuglers "Freier Fall" gehört ebenfalls in die Kategorie bekannter Sujets. Ein Astronaut an Bord eines Raumschiffs, eine aussichtslose Situation basierend auf einer im Grunde unwahrscheinlichen Ausgangslage und die einzige konsequente Lösung. Der Text ist zu kurz, um den einzigen Protagonisten kennenzulernen. Auf der positiven Seite verzichtet der Autor auf entsprechenden Kitsch oder Pathos. Es ist nur schade, dass sich die Geschichte in eine ganze Reihe von bekannte Ausgangsbasen nutzende Storys derartig geballt in dieser Anthologie einreiht.
Auch Matthias Webers "Zeitspringer" setzt sich aus den verschiedenen in erster Linie cineastischen Motiven zusammen. Zeitreisen sind verboten. Zeitreisende, welche das Verbot ignorieren, werden von speziellen Truppen eingesammelt und in die Gegenwart geschickt. Drakonische Strafen drohen. Die Zeitsoldaten haben alle Rechte und nur wenige Pflichten. Auf einer dieser Mission in das 26. Jahrhundert trifft einer der beiden Zeitsoldaten auf seine verflossene Liebe. Er muss sich zwischen seiner Pflicht und ihr quasi entscheiden. Matthias Weber rührt eine Reihe weiterer Ideen wie Menschenfressende "Zombies" in die Handlung, um Spannung zu erzeugen. Allerdings verläuft der Plot derartig mechanisch und leider auch bis zum offenen, aber nachvollziehbaren Ende vorhersehbar, dass keine echte Dramatik aufkommt.
“Die Katze“ von Kurt Münzer ist einer von zwei Nachdrucken dieser Sammlung. Die Geschichte erschien ursprünglich 1929, bevor die Machtergreifung seiner schriftstellerischen Karriere ein Ende setzte. Ein Mann verliert seine Lebensgefährtin durch eine Erkrankung in den idyllischen Bergen und gewinnt eine Katze. Der Plot ist leider durchschaubar und das Ende zwar konsequent, aber leider auch nicht überraschend.
Der zweite Nachdruck stammt aus der Feder Rainer Erlers. In "Die Auserwählten" wird die Fortpflanzung der Menschheit nicht dem Zufall überlassen. Es geht weniger um Emotionen wie Liebe oder länger dauernde Partnerschaften, sondern alleine um die gezielte Planung der besten zeugungsfähigen Männer und der fruchtbarsten Frauen, die unter der Überwachung der gesichtslosen Computer oder Menschen in riesigen Hallen quasi auf Kommando Sex haben müssen. Rainer Erler entwickelt sein Szenario mit sehr vielen, vor allem Männern auch ein wenig unangenehmen Details, bevor er aus dem Nichts heraus eine Variante einbaut. Um den Plot griffiger zu machen und die Fortpflanzungsmechanik zu demonstrieren, muss Rainer Erler seine Protagonisten zu Chiffren machen, sie anonymisieren. Damit die Pointe funktioniert, muss der Autor sie aus diesem Zustand wieder erwecken und vermenschlichen. Auf der emotionalen Ebene hat Rainer Erler mehr Schwächen als Stärken, so dass die Geschichte als Ganzes eher wie ein Konzept als ein fertiger Text erscheint.
Angesichts der vielen leider enttäuschenden Science Fiction Geschichten dieser Anthologie handelt es sich aber trotzdem um einen der wenigen Höhepunkt dieser Ausgabe.
"Gegen Unendlich 15" leidet qualitativ ein wenig unter dem verstärkten Umfang. Stilistisch sind alle Texte mindestens lesenswert. Die Autoren legen sehr viel Wert auf Atmosphäre, teilweise auch auf die Entwicklung exotischer Hintergründe und interessanter Figuren. Alleine es fehlen zu vielen Texte originelle Ideen, so dass die Reihe weiterhin vor allem auch als Plattform zum Kennenlernen neuer unbekannter Stimmen empfohlen werden kann, den Herausgebern aber ans Herz gelegt werden muss, das nicht die Quantität, aber die inhaltliche Originalität bei der Auswahl der Geschichten wieder in den Vordergrund gestellt werden muss.
Phantastische Geschichten
AndroSF 109
p.machinery, Winnert, August 2019, 220 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 172 3
E-Book: ISBN 978 3 7485 9422 2 –