„Ganymed“ soll sich laut Herausgeber Thomas le Blanc mit Kunst in verschiedenen Formen auseinandersetzen. Nur die abschließende Story von Burgdorf und Hohlbein setzte Kunst mit Literatur gleich, alle anderen Texten konzentrieren sich auf klassische Themen, die nicht selten in einem ausgesprochen dunklen Gewand präsentiert werden.
Reinmar Cunis eröffnet „Ganymed“ mit „Schrei Freiheit Schrei“. Es ist eine dunkle, zynische Geschichte eines zu Tod Verurteilten, der quasi den Leser direkt anspricht. Die Kirche ist die dominante Kraft in anscheinend einem engen Verbund zum Staat, der alles Freiheitliche unterdrückt. Der Erzähler hat seinem Jugendfreund und Künstler bei einer Statue geholfen, was entsprechende Verfolgung nach sich gezogen hat. Auch wenn der Plot sehr kompakt erzählt worden ist, kritisiert der Autor offen die dogmatische die eigenen Wurzeln ignorierende Einstellung bestimmter Organisationen.
Bernd Kreimeiers „Es führt kein Weg zurück“ beginnt viel versprechend. Auf einer abgeschiedenen Welt wird der verlassene Stützpunkt einer außerirdische Rasse gefunden. Eine telepathisch begabte junge Frau mit einem fotographischen Gedächtnis soll bei der Auswertung des Computers helfen. Allerdings sind ihre Fähigkeiten mehr Fluch als Segen. Der Auftakt ist sehr stimmungsvoll und spannend, die Protagonisten sind überzeugend, aber auch pragmatisch gezeichnet worden. Auch das Ende wirkt effektiv, aber der Schluss beinhaltet wie der Titel auch eine belehrende Note.
Musik spielt bei einigen Storys eine wichtige Rolle. Robert Steffens „Der intergalaktische Kulturaustausch“ mit dem Missverständnissen hinsichtlich des Verständnisses für Musik durch Außerirdische birgt keine wirklich nachhaltig überraschende Pointe. Auch Stephen de La Mottes „Die Stummen“ erinnert mehr an eine Kriegsversion von Simon & Garfunkels Hit „Sound of Silence“ als eine eigenständige Story.
Jörg von Liebenfels „Der Anti- Orpheus- Effekt“ besteht aus einem ausführlich gestalteten Hintergrund voller bizarrer Ideen, die zusammengefasst einen perfiden Sinn ergeben. Vögel als Wertanlage, ein entsprechender Handlung mit Zertifikaten, dazu eine Dystopie mit einer Ordnungspolizei, die alles Wissen der Vergangenheit einschließt. Der Autor gibt sich sehr viel Mühe, mehr und mehr rote Fäden in die Geschichte einzuflechten. Dazu kommen die exzentrischen, überdrehten Charaktere einer Welt am Rande des Chaos. Das Crescendo als Finale; der Aufstand des freiheitsliebenden Musikers ist in dieser Hinsicht ein passendes Ende einer Story, die herausfordernd und unterhaltend zu gleich ist.
„Musik für Schmetterlinge“ von Iny Klocke fängt wie eine typische Space Opera an. Ein abgebrannter Sternenvagabund auf einem abgelegenen Planeten mit im Grunde den falschen Waren, um Geld zu verdienen. Daraus entwickelt sich mit der Suche nach einem seltenen Stoff; einem sonderbaren Instrument und schließlich der Verpuppung der Ureinwohner eine kurzweilig zu lesende Geschichte, geprägt von den realistischen Charakteren und einer Abfolge von Pleiten, Pech und Panen. Vielleicht wirkt das Ende ein wenig zu stark konstruiert und metaphorisch, aber viele andere Abläufe werden von interessanten Kleinigkeiten bestimmt, so dass der ganze Text das Thema „Kunst“ auf der einen Seite gut präsentiert, aber vor allem auf der Unterhaltungsebene die Lesezeit verfliegen lässt.
Rainer Erlers „Die Liebenden von Manhattan“ ist eine interessante Geschichte. Zwei junge farbige Tänzer wachen eines Tages in Manhattan auf und sind alleine. Die Menschen sind verschwunden. Sie versuchen die regulären Abläufe ihres bisherigen Lebens einzuhalten, aber im Grunde macht es keinen Sinn, jeden Tag zum Training zu gehen, wenn es keinen Wettkampf gibt. Das Ende ist eher pragmatisch. Aber Rainer Erler erschafft mit wenigen Zügen lebendige, dreidimensionale Figuren, die unter den rassistischen Vorurteilen leiden. Er versucht auf eine Extrapolation der großen Katastrophe, sondern beschränkt sich positiv auf die vielen Kleinigkeiten.
Wo Realität aufhört und möglicherweise Kunst anfängt ist ein roter Faden, der sich durch die Sammlung zieht. Harald Braems „Der Riss in der Wirklichkeit“ kann auf den wenigen zur Verfügung stehenden Seiten diese Frage nicht gänzlich beantworten. Zwei exzentrische Künstler werden je nach Interpretation „bedroht“ oder „befreit“. Oder Heidelore Kluges „Wiedersehen mit Elena“, die ohne phantastische Elemente auskommt. Die Idee, das ein Autor seinen Schöpfungen begegnet und die auf seine fiktiven Schicksalsverläufe reagieren, ist nicht unbedingt neu. Auch Ilona Boddens „Eine sehr alte Geschichte“ berichtet von den Anfängen der Höhlenmalerei, also im Grunde der ersten Kunst. Aber viele Entwicklungen innerhalb ihrer sehr kompakten Geschichte verlaufen zu schnell, im Grunde auch zu simpel, als das der ganze Text überzeugen kann.
Zwei ungewöhnliche Texte beschließen die „Ganymed“ Anthologie. Martin Rossmanns „Formblatt 230.882” trägt in seinem Kern keine überraschende oder ungewöhnliche Idee in sich. Ein Außerirdischer soll die Menschen beobachten und sie für die galaktische Gemeinschaft einschätzen. Es beginnt mit einem Form, das vor allem Beamte erfreuen wird. Anschließend folgt ein ausführlicher Bericht. Der Fremde besucht ein Theater und eine Rockveranstaltung. Martin Rossmanns Beschreibungen sind pointiert, zumal sich die Aufführung von „Nathan, der Weise“ auch noch als sehr experimentell erweist. Anschließend besucht er noch eine Parteiveranstaltung, bevor er seinen Besuch auf der Erde mit einem Science Fiction Con abschließt. Hier hätte der Autor vielleicht noch ein wenig mehr Feuer entfachen können. Einige der Anspielungen kommen zu kurz und wirklich zu wenig pointiert. Das Fazit des Besuchers ist allerdings schon früh erkennbar. Aber trotzdem unterhalten die Besuch ausgesprochen gut und verfügen über einige interessante aus heutiger Sicht so herrlich antiquierte Seitenhiebe auf die achtziger Jahre.
Karl- Ulrich Burgdorf und Wolfgang Hohlbein beenden „Ganymed“ mit „Im Goldmann- Echtbuchladen“. Der Titel ist absichtlich so gewählt, kann sich aber jedem anderen Verlag anpassen. In einer fernen Zukunft gibt es keine echten Bücher mehr. Auch die anscheinend in dem Laden verkauften Raritäten könnten Nachdrucke mit einer besonderen papierähnlichen Zusammensetzung der Seiten sein. Der Verkäufer versucht verzweifelt einen Kunden vom Kauf des Buches mit Namen „Ganymed“ – der Kreis schließt sich – zu überzeugen. Experimentell ist teilweise die Seitengestaltung, um der Erfindung der Autoren einen doppelten expressiven Ausdruck zu verleihen. Allerdings ist die Exposition ein wenig zu lang geraten, während das Ende zu hektisch erscheint. Es ist aber ein humorvoller Schlusspunkt einer durchaus ambitionierten, aber bei einigen Texten wegen fehlender origineller Ideen auch durchschnittlich zu nennenden Anthologie.
Die Vergabe von Themen lässt die Anthologiereihe deutlich homogener erscheinen. Das Spektrum ist wie eingangs erwähnt sehr breit mit einem Schwerpunk bei der Musik. Viele der Geschichten werden von überzeugenden Graphiken Norbert Löscher begleitet. Thomas le Blanc gibt am Ende noch einige Hinweis auf den Namensgeber dieses Bandes. Während „Eros“ einige der Autoren zu sehr eingrenzte, wirkt rückblickend „Formalhaut“ bislang als Höhepunkt dieser Reihe. Insbesondere die längeren Texte ragen aber auch in „Ganymed“ aus der Masse heraus, während die sehr kurzen fast als Miniaturen zu bezeichnenden Arbeiten zu vorhersehbar sind.
- Broschiert: 216 Seiten
- Verlag: Goldmann Wilhelm Gmbh (1983)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3442234409
- ISBN-13: 978-3442234400