AUSGEWÄHLTE AUFSÄTZE ZU H. P. LOVECRAFT: Struktur, Themen, Briefe

S.T. Joshi

S.T. Joshi ist wahrscheinlich der beste lebende Kenner H.P. Lovecrafts. Seine im Golkonda Verlag veröffentlichte zweibändige Biographie umfasst mehr als eintausendvierhundert Seiten. Seit vielen Jahren veröffentlicht der zweimal mit dem World Fantasy Award ausgezeichnete Autor Artikel, Essay nicht nur über Lovecraft, sondern auch Ramsey Campbell und andere Autoren phantastischer Literatur. Dazu kommen einige Genrestudien. Und S.T. Joshi ist indischer Herkunft. Es erscheint absurd, dass hier herauszustellen, aber  wer die beiden einleitenden Vorwörter von Franz Rottensteiner und S.T. Joshi liest, wird erkennen, wie wichtig diese Anmerkung ist. Joshi hat sich von den rassistischen Angriffen gegenüber Lovecraft distanziert und auch ein entsprechendes Essay veröffentlicht, das als Schlusswort dieser Sammlung beigefügt worden ist. Als Lovecrafts Büste als Auszeichnung mit dem World Fantasy Award ausgetauscht worden ist, hat er seine Preise aus Protest zurückgegeben und will auf jegliche Nominierung verzichten. S.T. Joshi wurde daraufhin als weißer alter Mann tituliert. Diese Aussage spricht Bände und unterstreicht, wie dumm und naiv momentan die Welle der moralischen Reformer argumentiert, die neben dem Austausch der Büste des World Fantasy Award auch den John W. Campbell oder James Tiptree jr. Award nach eigenem Gusto und mit der Zustimmung einer schweigenden Mehrheit umgestaltet haben.

Der größte Teil der Aufsätze stammen aus den neunziger Jahren. Sie sind für die gesammelte Veröffentlichung überarbeitet und ergänzt worden. Den Auftakt macht „Lovecraft außerirdische Zivilisationen- eine politische Interpretation“.  S.T. Joshi untersucht dabei Lovecrafts Werk aus der Sicht der Science Fiction, auch wenn der Amerikaner in erster Linie Weird Tales geschrieben hat. Aber die Hintergründe einer Handvoll verschiedener Rassen machen deutlich, dass verschiedene Genreelemente kombiniert worden sind. Zu Beginn argumentiert S.T. Joshi vor allem durch ein Feuerwerk von  Zitaten und Querverweisen. Wer sich nicht mit Lovecraft ein wenig auskennt, wird durch diese Flut förmlich weggeschwemmt. Wer aber einen oberflächlichen Einblick in Lovecrafts Werk hat, wird gut an die Hand genommen und quasi im Kino von Joshis Gedanken durch das Werk des Amerikaners aus einer gänzlich anderen Perspektive geführt. S.T. Joshi fügt die rudimentären Informationen aus den Geschichten zusammen. Er verdeutlicht die evolutionären Entwicklungen von Lovecrafts Schöpfungen  und kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen. Mit diesem Essay bereitet S.T. Joshi aber noch eine andere These vor, auf welche er in den nächsten Artikeln eingehen wird. Lovecraft ist kein reiner Pulpautor. Minutiös hat er seine Kurzgeschichten und vor allem Novellen geplant. Das macht „Die Struktur von Lovecrafts längeren Erzählungen“ deutlich. Vier Erzählmuster bilden das Korsett. Nur wenig wird dem Zufall überlassen. Die verschiedenen Mechanismen wie  eine gänzlich chronologische Struktur oder lange, den Plot begleitende Rückblicke sowie in seltenen Fällen zwei gleichberechtigte Parallelhandlungen erläutert S.T. Joshi wie die außerirdischen Rassen an einzelnen Lovecraft Geschichten. Lovecraft legt Wert darauf, dass die Erzählstruktur und der Inhalt zueinander passen. Es gibt in Lovecrafts Werk nur wenige Ausreißer, bei denen aber nicht gänzlich geklärt ist, ob der Amerikaner sie alleine verfasst oder den Kern von jemand anderem übernommen hat. Das ist auch von sekundärer Bedeutung.

Sowohl der Überblick über die außerirdischen Zivilisationen wie auch die Struktur der Geschichten machen deutlich, dass Lovecraft als Erzähler eine überlegene Position sucht. So beschreibt er die erste Schreckensebene sehr genau, aber wie Fritz Leiber in seiner mehrfach zitierten Kritik deutlich macht, zeigen irgendwann Lovecrafts Kreaturen, das es eine weitere Ebene gibt, auf welcher ein weiterer Schrecken lauert, der sogar den Großen Alten und anderen Völkern Angst macht. S.T. Joshi betrachtet die Struktur der Angst sehr genau und stellt zusammen mit Fritz Leiber fest, dass es meistens der zweite Schrecken ist, den H.P.  Lovecraft ambivalent beschreibt und bei dem der Amerikaner vieles der Phantasie seiner Leser überlässt. Der erste Schrecken ist in seiner Übernatürlichkeit noch irgendwie greifbar.

Es empfiehlt sich, die beiden längeren Essay über Lovecrafts außerirdische Zivilisationen und die  Struktur seiner Geschichte gleich zu Beginn zusammen zu lesen. Inhalt und Struktur bilden laut S.T. Joshi bei Lovecraft eine Einheit und genau wie seine Geschichten strukturell durchkomponiert erscheinen, hat sich Lovecraft bei den insgesamt sechs außerirdischen Zivilisationen sehr viel mehr Gedanken gemacht, als die erste Begegnung zwischen Protagonist/ Leser  und dem Fremden ausdrückt.

Zwischen diesen beiden längeren Arbeiten steht ein kurzer Artikel, in  dem Joshi auf „Autobiographisches bei Lovecraft“ eingeht. Auch hier macht der Inder deutlich, dass Lovecraft vor allem auf den Inhalt und weniger seine tragischen Figuren Wert legt. Nicht selten dienen seine Figuren eher als Mittel zum Zweck und führen eine eigenständige literarische Existenz. Dieser Einschränkung muss sich ein Leser bewusst sein, wenn er anschließend S.T. Joshis Argumentationskette zu folgen beginnt. Es finden sich in Lovecrafts Geschichten autobiographische Züge. Diese sind aber nicht um ihrer selbst willen integriert, sondern weil der Pragmatiker Lovecraft sich weniger Gedanken um  seine Figuren als um seine Plots gemacht hat. Neben einzelnen teilweise sehr oberflächlichen autobiographischen Zügen ist es interessanter in Lovecrafts Umfeld zu schauen. S.T. Joshi deutet auf eine Reihe von Mitmenschen hin, welche Lovecraft in seine Geschichten eingebaut  hat. Dabei steht weniger die Hommage als die Effektivität im Vordergrund seiner Vorgehensweise. Aber mit diesem kurzen Essay verbindet S.T. Joshi eine Reihe von persönlichen, im Hintergrund relevanten Informationen mit dem Gehalt von Lovecrafts zitierten Storys.

Lovecraft hat sich gerne nach außen als Mann des 18. Jahrhunderts gegeben. Seine Horrorgeschichten erinnern auch eher an viktorianische Gruselarbeiten, in welche allerdings ein moderner Schrecken hinter dem sichtbaren Entsetzen sich verbürgt. Aber generell wirkt der Amerikaner eher wie ein Mann, der aus seiner Zeit gefallen ist. In einem wirklich interessanten Essay macht S. T. Joshi deutlich, dass das nicht der Fall. Wie die autobiographischen Bezüge stehen aktuelle politische wie wirtschaftliche Ereignisse nicht im Mittelpunkt seiner Geschichten. Aber mit dem gleichen Vergnügen, mit dem der Amerikaner Menschen seiner Zeit als Vorbild in seinen Geschichten genommen hat, finden sich zahlreiche nicht einmal versteckte Hinweise auf die genaue Zeit, in welcher mindestens Teile der Geschichte spielen. S.T. Joshi greift wieder auf eine Flut von Zitaten zurück, mit deren Hilfe er die Lovecraft Geschichten aus heutiger Sicht historisch; während der Zeit ihrer Entstehung aber gegenwärtig einordnen kann. Diese politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder in erster auf Sekundärwerke beziehende literarische Anmerkungen oder Einschübe wirken vor allem im direkten Vergleich zu den historischen Beschreibungen in seinen Geschichten oberflächlich und rudimentär. Aber sie sind vorhanden und nehmen einen wichtigen Platz in seinem Gesamtwerk ein.

 Wahrscheinlich hat Lovecraft in seinem Leben zwischen 75.000 und 100.000 Briefe geschrieben. Nicht alle lang, aber einige Exemplare umfassten fast siebzig Seiten. Seine Briefe sind umfangreicher als sein literarisches Werk, aber beides sollte nicht voneinander getrennt werden. Weniger als ein bis zwei Prozent der Briefe sind erhalten, wobei zumindest in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts weiterer Schriftwerke auftauchte und den Blick auf Lovecraft teilweise aus seiner persönlichen Perspektive deutlich erweiterte. S.T. Joshi geht in seinem Essay nicht nur auf Auszüge der in fünf Sammelbänden veröffentlichten verschiedenen Korrespondenzen ein, sondern versucht über den Inhalt der Briefe Lovecraft als abgerundete, allerdings auch exzentrische wie einsame Persönlichkeit zu charakterisieren. Der Autor gibt zu, dass diese Vorgehensweise nur subjektiv, aber niemals objektiv sein kann und das Auszüge aus gekürzten Briefe keine Interpretationsbasis sind. Aber wie der vorangegangene Artikel, in dem Joshi Lovecraft den Vorurteilen mancher Kritiker hinsichtlich seiner Persönlichkeit und der Wahrnehmung seines Umfelds entrissen hat, geben die kurzen Einblicke – trotz umfangreicher Zitate – in seltenere Briefwechsel einen weiteren,  durchaus vielschichtigen Blick direkt unter die Oberfläche, aber vielleicht nicht unbedingt ins tiefste Innere des Menschen Lovecraft. 

Im letzten Artikel setzt sich S.T. Joshi als Inder mit den Vorwürfen gegen Lovecraft auseinander , dass seine Texte rassistisch sind. Dabei geht Joshi ganz geschickt vor. Der Vorwurf lässt sich weder bei einigen weniger bekannten Geschichten noch den veröffentlichten Briefen von der Hand weisen. Aber dem Autoren geht es um die Relation. Bekanntere Schriftsteller wie H.G. Wells oder Mark Twain mit – höflich gesprochen – politisch auch nicht immer korrekten Ansichten werden nicht so angegriffen wie Lovecraft, dessen Werk ja zu Lebzeiten in erster Linie in Pulp Magazinen erschienen ist.  Erst die Popularität in den letzten Jahren hat die Kritiker und Ankläger aufmerksam gemacht. Sie betrachten die Arbeiten auch nicht zum Zeitpunkt ihres jeweiligen Entstehens, sondern aus der Perspektive der Gegenwart, in welcher es manchen Menschen schon schwer fällt, die korrekte An- oder Aussprache zu wählen, um nicht irgendwelche Pseudo-Gefühle zu verletzen. Joshi bringt Lovecrafts Geschichten und Briefe zurück in den historischen Kontext ihrer Entstehung, aber auch das soziale Umfeld, das heute wie in den zwanziger Jahren von der Migrationsdebatte  und der Angst vor einem zu fremden Einfluss dominiert worden ist. Argumente, die nur bedingt von der Hand zu weisen sind, auch wenn in vielen Fällen die Politik die entsprechende Verantwortung tragen muss. Joshi argumentiert klug.  Lovecrafts Werk ist vielschichtig. Wer bei dem Amerikaner nach Spuren des Rassismus sucht, muss auch das Gegenteil akzeptieren. Texte, in denen der Autor mit Mitgliedern der eigenen Rasse nicht gerade nett  umgesprungen ist und sie zu degenerierten minderwertigen Kreaturen gemacht hat, weil es die Horror Handlung eben in diesem Augenblick so vorgesehen hat. Ist jemand auch ein Rassist, wenn er die eigene Rasse beleidigt? Hier schweigen die selbsternannten Kritiker. Ein wenig unglücklich ist, dass S.T. Joshi zu Beginn geschickt gegen die Rassismus Vorwürfe an argumentiert, um in der zweiten Hälfte seines Essays dann wieder vom Rassismus in Lovecrafts Werk zu sprechen. Vielleicht liegt es auch nur an der missverständlichen Übersetzung, aber als gebürtiger Inder fühlt sich S.T. Joshi nicht vom Werk des Amerikaners beleidigt.  Das ist vielleicht nicht aussagekräftig genug, aber ein Standpunkt, der schwer wegzudiskutieren ist. Zumindest von denen, die absichtlich nach der Nadel im das ganze Leben eines Menschen symbolisierenden Heuhaufen suchen und nicht das große Ganze sehen.  

“Ausgewählte Aufsätze zu H.P.  Lovecraft” ist eine sehr empfehlenswerte Sammlung von Essays. Wer bislang nicht mit Lovecraft in Kontakt getreten ist, sollte zuerst andere Texte neben den Geschichten lesen. Wer aber - auch oberflächlich - mit H.P. Lovecraft vertraut ist, findet in S.T. Joshis lesenswerten Artikeln den Beweis, dass selbst heute noch viel im Werk des Amerikaners (neu) zu entdecken ist und das vor allem angesichts der aufflammenden Debatte um den Inhalt einzelner Geschichten das letzte flammende Wort noch nicht geschrieben ist. Wer die Lektüre von Joshis Lovecraft Biographie scheut, kann in diesem kleinen Bändchen einige der wichtigen Themen Lovecrafts zumindest oberflächlich, geführt von einem echten Experten streifen. 

AUSGEWÄHLTE AUFSÄTZE ZU H. P. LOVECRAFT: Struktur, Themen, Briefe

  • Herausgeber ‏ : ‎ epubli; 1. Edition (6. Juni 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 204 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3756503852
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3756503858
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 18 Jahren
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