Michael Haitels p. machinery übernimmt mit dem dritten Band der Serie um die Friesenhexe Kerrin, die Ende des 17. Jahrhunderts auf der Insel Föhrs als Tochter des örtlich angesehenen Kommandeurs Asmussen gelebt hat. Die ersten beiden Taschenbücher „Die Friesenhexe“ und „Die Friesenhexe und ihr Vermächtnis“ erschienen 2012 bzw. 2014 im Heyne Verlag, der sich entschlossen hat, keinen weiteren Band zu veröffentlichten. Daher übernimmt Michael Haitel nicht nur die Serie, er passt den dritten Roman dem Heyne- Taschenbuchformat an.
Es ist nicht notwendig, die ersten beiden Taschenbücher gelesen zu haben. Die Handlungsabschnitte sind klar voneinander abgegrenzt, auch wenn die charakterliche Entwicklung Kerrins mit wenigen Erfolgen, aber sehr vielen Rückschlägen sich durch alle drei Romane zieht. Im ersten Band etabliert Karla Weigand nicht nur den Hintergrund, sondern beschreibt, wie Kerrin ihre besondere Fähigkeit – sie kann durch Handauflegen heilen – erkennt und zu akzeptieren sucht. Mit ihrer allerdings sehr ambivalent eingesetzten seherischen Gabe rundet Karla Weigand der Charakter ab.
Zusammen mit ihrem Mann Jörg macht Karla Weigand seit vielen Jahren regelmäßig Urlaub auf Föhr. Die Nordseeinsel muss die Weigand verzaubert haben, was sich teilweise negativ in den ersten beiden Büchern zeigt. Während die zugrundeliegende Handlung inklusiv der Flucht an Bord eines Schiffes und die Übernahme der ungewöhnlichen Rolle der Schiffsärztin auf einem Walfangschiff sehr stringent angelegt worden ist, verzettelt sich die Autorin immer wieder hinsichtlich des geschichtlichen Hintergrunds.
Neben den ausführlichen Beschreibungen der Insel und ihrer Bewohner extrapoliert Karla Weigand eine Reihe von friesischen Geschichten, die dem Volksgut angerechnet werden können und versucht ihre fiktive Geschichte eng mit tatsächlichen Begebenheiten zu verbinden. Für einen historischen Roman grundsätzlich ein notwendiges Unterfangen, aber weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen oder die Autorin hätte die Hintergrundbeschreibungen auf mehrere, inzwischen ja teilweise geschriebene Bücher verteilen müssen. So wirkt vieles aufgedrängt und der insbesondere im mittleren Abschnitt eher phlegmatische Handlungsfluss trotz einiger einschneidender und mit minutiöser Genauigkeit beschriebener dunkler Ereignisse leidet unter diesen exzessiven Exkursionen in Land, Leute und Geschichte. Wollte Karl Weigand eine Chronik der Geschichte Föhrs schreiben, so hat sie das mit dem ersten Buch der Reihe erreicht.
Im zweiten Roman macht die Autorin diese Fehler nicht und konzentriert sich mehr auf die „Friesenhexe und ihr Vermächtnis. An Bord des Walfängers nicht nur der stetig wachsenden Bedrohung auf ihrer Heimatinsel entflohen, sucht sich nach den Spuren ihres während einer Schiffsreise verschollenen Vaters. Auf der einen Seite wird sie aufgrund ihrer überragenden wie übernatürlichen heilenden Fähigkeiten an Bord des Walfängers akzeptiert, auf der anderen Seite wird sie natürlich mit einer anderen Art von Aberglauben konfrontiert. Karla Weigand zieht zwar keine direkten Vergleiche zu den Inselbewohnern, aber teilweise kommt Kerrin buchstäblich vom Regen in die Traufe und muss erkennen, dass jedes Schiff auch eine intellektuelle Insel ist.
Der dritte Roman „Die friesenhexe in der neuen Welt“ beginnt wieder auf Föhr. Nach dem Tod der wohlmeinenden Herzogin Hedwig Sophie von Schleswig-Holstein Gottdorf und einer verstärkten Geburtenrate von missgebildeten Tieren auf der Insel droht weiteres Unheil. Zum Einen wütet der Große Nordische Krieg mit einem minderjährigen Jungen als König des schwedischen Großreichs, zum Anderen beginnt sich der Bischof Christian August mehr und mehr für Frauen zu interessieren, die angeblich über heilende Fähigkeiten verfügen, die aber leicht als Hexen diffamiert werden können. Eine Anklage wird vorbereitet.
Ihr Vater will sich erneut verheiraten, so dass Kerrin mit einigen ihrer Freunde – es sind zwei Ehepaare – die Chance nutzt, von Amsterdam aus an Bord der „Holy Spirit“ in Richtung Neue Welt aufzubrechen. Im Gegensatz zu vielen anderen Auswanderergeschichten, die im mittleren Westen landen, hat sich Karla Weigand das Baffin- Land als Ziel für ihre Protagonistin ausgesucht. Die Baffin- Insel ist die größte Insel des kanadisch- arktischen Archipels, ein herausfordernder Lebensraum voller Eiswüsten, Gletschern und tief eingeschnittenen Fjorden. Durch ihre Reise auf dem Walfänger am Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Buches hat Kerrin schon einige Erfahrungen mit der unwirtlichen nordischen Natur gemacht, aber Karla Weigand macht relativ schnell klar, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Leben auf einem Walfänger und der Ansiedlung in einer unwirtlichen Natur gibt.
Karla Weigand verfällt zu Beginn der Geschichte wieder in die alten Muster. Sie versucht - für einen Roman weniger wichtig - den politischen Hintergrund der Epoche zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit dem angesprochenen Großen Nordischen Krieg ausführlich zu beschreiben. Die Bewohner der Insel Föhr können sich vor den politischen Veränderungen nicht gänzlich verschließen, auch wenn vor allem die beginnenden Hexenverfolgungen mit dem kirchlichen Segen ein deutlich wichtigeres Thema sind. Die authentischen Beschreibungen und die angesprochenen politischen Extrapolationen lassen den Roman ein wenig schwerfällig beginnen. Nicht alles ist wirklich notwendig, da Karla Weigand die Probleme Kerrins auf Föhr schon in dem ersten Band der Serie gut dargestellt hat. Auch der Einfluss der wohlmeinenden Königin aus Schleswig ist nur bedingt hilfreich, da das Festland immer mindestens eine Schifffahrt entfernt ist und die intellektuelle Barriere in den Köpfen der Insulaner noch kräftiger ist.
Mit der Reise in die Neue Welt nimmt die Geschichte Fahrt auf. Durch den in Bezug auf den historischen Roman herausfordernden wie ungewöhnlichen Hintergrund wächst die Spannung. Karla Weigand verzichtet hier auf die typischen Sujets und versucht, die Unbilden dieser Gegend ausführlich und gut recherchiert, aber nicht mehr die Handlung derart erdrückend zu beschreiben. Dadurch wirken die Szenen natürlicher, dreidimensionaler und nicht immer wieder auf dem Kontext gerissen.
Alle Protagonisten stellen sich in der Neuen Welt anderen Herausforderungen. Wie eingangs erwähnt lohnt es sich, die drei Romane chronologisch zu lesen. Karla Weigand hat über die drei Geschichten inzwischen die richtige Balance zwischen historischer Glaubwürdigkeit, aber auch einer modernen Perspektive auf die in ihren historischen “Käfigen” agierenden Personen entwickelt. Die Welt dreht sich selbst auf Föhr weiter, aber nicht immer zu Gunsten der Figuren. Aus der jungen Kerrin ist inzwischen auch eine Mutter geworden. Die Suche nach ihrem Vater hat sie innerlich reifen lassen, wobei sie durch ihre Außenseiter Stellung schon intellektuell weiter gewesen ist als andere Kinder/ Jugendliche ihres Alters. Um Kerrin herum hat Karla Weigand mit den beiden Familien sehr interessante, vielschichtige, aber auch teilweise konträre und gegen die inneren Widerstände kämpfende Persönlichkeiten platziert. Bei den Antagonisten greift die Autorin aber weiterhin in die Klischeekiste und gibt sich nicht so viel Mühe, ihre dogmatischen Positionen herauszuarbeiten. Das Herz der Autorin schlägt für ihre Friesenhexe, aber in der fast einseitig schicksalsüberfrachteten Darstellung ihrer Persönlichkeit und der einzelnen Herausforderungen droht die Waage der Glaubwürdigkeit zu stark in Richtung emotionaler Manipulation des Lesers auszuschlagen. Es ist immer ein schmaler Grad, auf dem sich diese vor allem für ein weibliches Publikum geschriebenen historischen Romane mit fiktiven Frauenfiguren bewegen, aber Karla Weigand präsentiert immer wieder Phasen, in denen sie nicht zuletzt durch die dann ein wenig gestelzt wirkenden Dialoge den Bogen überspannt.
“Die Friesenhexe in der Neuen Welt” ist eine solide Fortsetzung der ersten beiden vor einigen Jahren veröffentlichten Romane. Wie der zweite Roman der Serie deutlich lesbarer als der mit zu vielen Informationen überfrachtete Auftaktband. Wer Föhr oder die Inselwelt der Nordsee kennt, wird durch den Lokalkolorit wahrscheinlich noch mehr in der Geschichte gefangen sein. Durch den neuen Hintergrund, weit ab von Föhr und doch durch die rauhe Natur nur einen Hauch entfernt, bieten sich neue Potentiale, welche die Autorin über diesen zufriedenstellend abgeschlossenen Roman hinaus in weiteren Fortsetzungen durchaus heben kann und sollte.
Karla Weigand
DIE FRIESENHEXE IN DER NEUEN WELT
Historischer Roman
Außer der Reihe 78
p.machinery, Winnert, März 2023, 578 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 321 5 – EUR 21,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 783 1 – EUR 6,99 (DE)