Kleiner Drache

Norbert Stöbe

Mit „Kleiner Drache“ erscheint der siebente Romane Norbert Stöbes dieses Mal im Verlag p. machinery. Michael Haitel hatte schon vor einiger Zeit eine Sammlung von Kurzgeschichten des Übersetzers und Autoren publiziert. Während die ersten beiden nach einer langen Zeit veröffentlichten Bücher Norbert Stöbe „Morgenröte“ und „Kolonie“ klassischen Outgoing Science Fiction Themen in den Mittelpunkt stellten, konzentriert sich der Autor bei „Kleiner Drache“ auf die sozialkritischen Themen, die auch seine besten, aber stilistisch auch herausfordernden Veröffentlichungen „New York ist himmlisch“ und „Der Weg nach unten“ auszeichneten.

Vor allem mit „Der Weg nach unten“ hat „kleiner Drache“ etwas gemeinsam. Fasst man Dritten gegenüber die grundlegenden Handlungsbögen zusammen, so wirken sie „einfach“ gestrickt. Eine Gruppe von zusammengewürfelten Menschen versuchen aus einem heruntergekommenen Hochhaus zu fliehen. In „Kleiner Drache“ wird eine arrogante Filialleiterin auf eine geschickte Art ins Abseits gestellt und der verschachtelte Plot erzählt, wie sie ihre Gegner sucht, um schließlich Revanche zu nehmen. In beiden Büchern sind aber die Zwischentöne wichtig.

Xialog ist eine junge Frau, die ein Unternehmen in leitender Funktion vertritt, in dem es neben verschiedenen technischen Utensilien auch Androiden gibt. Diese lassen sich von Menschen nicht unterscheiden. Das neuste Modell ist eine Art Domina, die aber auch devot sein kann. Xialog ist nicht unbedingt von der erotischen Nutzung vor allem durch aus ihrer Sicht abstoßende Männer begeistert, aber sie bringen das meiste Geld ein. Ihre Mutter leidet den Konzern. Auch wenn sie sich nicht als Protege sieht, hofft sie irgendwann, ihre Nachfolge antreten zu können.

Innerhalb weniger Stunden gerät ihre bisher geordnete, aber vor allem auch reiche Welt aus den Fugen. Ein wichtiges Meeting ist aus ihrem Terminkalender gestrichen, ihre Gesprächspartner reagieren nicht mehr auf ihre Anrufe, sie flieht zu ihrem Onkel, der in einfachen Verhältnissen lebt und klagt ihm sein Leid. Bei ihrer Rückkehr sieht sie vor der Firmenzentrale eine Frau, die ihr aufs Haar gleicht. Anscheinend ein Klon. Die Polizei will sie nach einem Anschlag auf die Firmenzentrale festnehmen. Sie muss fliehen. In ihrer Begleitung befindet ein Sexbot der modernsten Generation namens Litse, den sie zu einem autark operierenden Menschen umprogrammieren lässt. Zusammen mit dem Hackerfreund von Onkel Wu will sie das Land verlassen. Dazu muss sie aber mittels Schleppern die große Mauer, eine Art Todesstreifen überqueren.

Im ersten Drittel des Buches stellt Norbert Stöbe die sozialen Kontraste gegenüber. Am einfachsten lässt sich die Schizophrenie des modernen Chinas an Onkel Wu darstellen. Ein einfacher hart arbeitender Mensch in einer Sozialwohnung, der den Tee nach den alten Traditionen einstellt. Auf seiner Fernsehwand laufen die Propagandakanäle, aber auch ein verbotener Sender. Er hilft Xialong eher mit Ratschlägen und einem Kontakt. Nicht weil er gegen das System ist, sondern weil er dem verzweifelten Mädchen helfen will. Der neidische wie faule Hausmeister verrät ihn an die Polizei, die mittels einer Art Psychohaube wichtige Informationen förmlich aus seinem Gehirn „saugt“.

Xialong ist wie ihre Mutter Mitglied der kapitalistischen Oberschicht. Sie lebt in überdurchschnittlichen Verhältnissen, ist intelligent und ein wenig arrogant von sich selbst eingenommen. Sie ist aber keine Tyrannin und hat auch Respekt vor ihren Angestellten. Sie ist nicht gebunden, aber sexuell positiv gesprochen aktiv. Sie scheut sich auch nicht, kurzzeitige Beziehungen zur eigenen Befriedigung aufrechtzuerhalten. Sie ist eine interessante Mischung aus verschiedenen chinesischen Generationen mit dem Respekt vor dem Alter – Onkel Wu – und mit einigen Einschränkungen der lange Zeit im Hintergrund schwebenden Übermutter und dem modernen China, das erfolgreichen Frauen auch eigene Persönlichkeiten zugesteht.

Ihre Welt bricht innerhalb von wenigen Stunden zusammen. Aber an dieser sozialen Abschiebung wächst Xialong auch. Zusammen mit dem Sexbot, der mehr eine Freundin/ Vertraute darstellt als ein Spielzeug für andere Männer oder sich selbst durchlebt sie einige traumatische Szenen nicht nur auf der Flucht bis an die Grenze der großen Mauer, sondern auch in ihren Verhandlungen mit den Schleppern und später auf der anderen Seite Chinas, wo sie sich in Bangladesch aus einem Flüchtlingslager wieder hocharbeitet, teilweise auch hochschläft.

Wie „Lady Vengeance“ ist Xialong eine intelligente, attraktive, entschlossene und vor allem auch leidensfähige Frau, deren Ziel klar definiert ist. Dabei geht sie, wenn es notwendig ist, auch über Leichen., Aber Norbert Stöbe wäre kein inzwischen so positiv gesprochen routinierter Autor, wenn er Xialong am Ende der Geschichte nicht nur einen Pyrrhussieg zugesteht. Sie hat Erfolg und setzt sich mit einem komplexen, wahrscheinlich nur für sie verständlichen, allerdings auch auf einigen Zufälligkeiten basierenden Plan durch und kann einen Teil ihrer „Rache“ verwirklichen. Aber Ende muss sie allerdings erkennen, dass sie hinsichtlich der „Hintermänner“ mit leeren Händen dasteht. Hier hat die Zeit gesiegt.

Die Ausgangsprämisse ist faszinierend wie paranoid zugleich. Sie entspricht vielleicht dem klassischen klischeehaften Typus der oligarchischen bis diktatorischen Führung, in welcher sich der Primus gegen alle Eventualitäten absichern möchte, ohne an die Folgen zu denken. Das muss auch Xialong erkennen, auch wenn sie das Potential hat, es anders, vielleicht auch besser zu machen. Xialong ist mit einem großen Abstand Norbert Stöbes dreidimensionalster undvor allem auch trotz einiger Ecken sowie Kanten auch zugänglichster Charakter in seinem bisherigen Romanwerk.

Um Xialong hat Norbert Stöbe eine Reihe von interessanten Pro- und teilweise auch Antagonisten platziert. Litse als Sexbot mit einer sich kontinuierlich entwickelnden Persönlichkeit ist eben nicht der Android, der Xialong immer retten muss. Nicht selten läuft sie den nur Xialong in ihrer Tiefe bekannten Plänen buchstäblich hinterher und versucht mitzuhalten. Das gipfelt in einigen berührenden, aber auch einigen unfreiwillig lustigen Szenen wie dem Dialog um Brechstange und Handtuchhalter. Ihr Leibwächter und Liebhaber Raptor – auf seinem Rücken sind Schuppen – kommt zu kurz. Anfänglich ein ausbaufähiger Charakter, den Xialong nutzt und auch wie viele andere Menschen ausnutzt, verschwindet er schließlich in der Handlung und wird durch den stellvertretenden Polizeichef in Peking ersetzt, mit dem Xialong absichtlich eine sexuelle Beziehung beginnt, um im Zentrum der Macht nach ihrer Rückkehr präsent und doch unsichtbar zu sein.

Die Entwicklung Xialongs läßt sich vor allem in den Beziehungen zu ihrer Umwelt definieren. Anfänglich reich und arrogant und distanziert, dann hilfsbedürftig, aber auch auf sich alleine gestellt und am Ende einsam.

Norbert Stöbe extrapoliert die aus dem Cyberpunk und damit Japan bekannten technischen Ideen mit virtuelle Welten; Körperkult und schließlich auch immer menschenähnlicher werdende Androiden mit einer kulturell teilweise primitiven, aber nicht einzuschätzenden Gesellschaft – sie die demonstrierenden Mönche, die mit ihrer Hinrichtung rechnen – sowie dem Kontrast zwischen arm und reich. Xialong betont mehrmals, dass die große Mauer für die Menschen mit Geld zwar mit Einschränkungen durchlässig ist, aber für das billigste Kapital (arme Menschen ) nicht nur zu einem fast unüberwindbaren Hindernis wird, sondern auch zu einer Einbahnstraße, wenn sie erkennen, dass sie vom Regen in die Traufe gekommen sind und der Sklaverei in Bangladesch nicht entkommen können.

Norbert Stöbe hat den Hintergrund seiner Geschichte gut entwickelt. Er verzichtet auf den fast exzentrisch zu nennenden Stil, mit dem er in seinen früheren Büchern wie „New York ist himmlisch“ oder „Der Weg nach unten“ auch einfache Situationen plakativ herauszustellen suchte und sich damit auch von den Lesern erzähltechnisch immer mehr entfernte. In „Kleiner Drache“ vermischen sich Geschichte und Atmosphäre. Das Tempo des Buches ist auch , teilweise zwischen den Kapiteln ein wenig zu rasant. Norbert Stöbes Actionszenen entwickeln sich fast aus dem Nichts, sind nicht exzessiv, sondern für den Handlungsverlauf notwendig.    Der Autor malt ein Bild von China, das die Öffentlichkeit nicht gerne sieht, aber nicht nur im Reich der Mitte, sondern einer Reihe von Staaten Gang und Gäbe ist. Indien oder selbst Russland weißt diese sozialen Kontraste auf. Der Autor bietet keine Lösungen an, das ist auch nicht der Sinn des Buches, sondern zeichnet ein vor allem in technischer Hinsicht gut extrapoliertes Bild dieser Nationen eher in einer näheren als einer ferneren Zukunft.

Neben den guten Charakteren macht das vor allem den Reiz dieser Rachegeschichte aus. Auch wenn Norbert Stöbe für „New ist himmlisch“ mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet worden ist, ist „Kleiner Drache“ sein in mehrfacher Hinsicht am meisten zufriedenstellender Roman.  

 

 

 

AndroSF 121
p.machinery, Winnert, November 2020, 376 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 220 1 – EUR 16,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 876 0 – EUR 8,49 5,49 (DE)