Ian R. MacLeod unter anderem auch mit dem Arthur C. Clarke ausgezeichnetes Buch ist unabhängig von den stilistischen Fähigkeiten und den gut gezeichneten, menschlichen und doch so distanzierten Charakteren ein schwieriger Stoff, der dem Briten seine besten Fähigkeiten raubt. In vielen seiner Novellen oder Romane hat er mit winzigen Ideen Aspekten die vertraute Gegenwart des Lesers verändert und in diese Szenarien spannende, ergreifende und vor allem konsequente Stoffe platziert. „Song of Time“ ist im Grunde eine Science Fiction Geschichte, in welcher der Autor bekannte Aspekte – Terror, religiöser Fanatismus und schließlich politische Verblendung – extrapoliert und aus der Ich- Perspektive der Erzählerin Roushana Maitland erzählt. Es ist ein Roman, der in die Zukunft gerichtet und aus der Vergangenheitsebene erzählt wird. Hier liegen ohne Frage die Stärken und die Schwächen das Buches.
Eines Tages findet die inzwischen in Ehren alt gewordene Musikerin Roushana Maitland einen nackten Mann am Strand. Ihr gelingt es, ihn zu retten und in ihr Anwesen Morryn direkt an der Küste Cornwalls zu bringen. Dort beginnt sie ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die gleichzeitig mit einigen wichtigen politischen Ereignissen verknüpft ist. Wie Ian R. MacLeod sein Buch quasi gegen den Strom erzählt, ist es wichtig, mit dem schwächsten Aspekt des Romans anzufangen. Gegen Ende gibt die Protagonisten zu, gelogen zu haben. Wer jetzt glaubt, die ganze Geschichte wäre eine Fiktion, irrt natürlich. In ihrer Lebensgeschichte gibt es einen, für den Leser überdeutlich und leider klischeehaft zu erkennenden Punkt, an dem sie ihrem gefundenen Adam die Ereignisse nicht authentisch und ehrlich erzählt hat. Zynisch gesprochen ist es die einzige Situation, in der sie aktiv eingegriffen und ohne zu viel zu verraten Hand angelegt hat. Dieser Moment soll emotional den Leser ansprechen, aufrütteln, aus dem Geschehen in die Gegenwart begleiten, aber aufgrund des Klischees, der Variation bekannter Schemen und schließlich der fehlenden Bezüge zu den anderen Protagonisten – bis auf Adam lernt der Leser sie ausschließlich ohne Frage ambitioniert aus der subjektiven Perspektive Roushana Maitlands kennen – verpufft die Intention des Autoren und zeigt, dass das Korsett des Buches buchstäblich auf dem Sand gebaut worden ist, dem auch Adam zu entstammen scheint.
Die stärksten Passagen des Romans spielen in einer Art Semivergangenheit. Roushana Maitland wächst in einem begüterten Hause in Birmingham auf. Ihr brillanter und talentierter Bruder, in den sie mehr als heimlich auch verliebt ist, stirbt früh an einer unheilbaren Krankheit, die anscheinend von Terroristen als Biovirus ausgesät worden ist. Maitland kämpft sich in die elitäre und wie die Bohemme lebende Elite in Paris als talentierte, aber nicht immer inspirierte Violinisten hinauf. Ian MacLeod zeigt dieses futuristische Paris als eine klassische, warmherzige und damit auch überzeugende Extrapolation des Paris der zwanziger Jahre, das Woody Allen auch in einem seiner letzten Filme so überzeugend mit Leben füllen konnte. Es sind diese Passagen, welche den Leser unabhängig vom zu ernsten Erzählton, der ständig eine zu unkritische, zu wenig das eigene Leben relativierende Distanz zwischen dem Leser, Adam und schließlich auch der Erzählerin aufbaut, die unabhängig von der schwerfälligen Konzeption des Romans unterhalten. Danach driftet die Handlung zu zwei verschiedenen, auf den ersten Blick konträren, aber interessanten Spannungsbögen unabhängig von den unnötigen Unterbrechungen innerhalb der Gegenwart ab. Sie lernt nicht nur einen exzentrischen Komponisten – die einzige Anspielung, dass das 21. Jahrhundert auch eigenständige Musik hervorbringen kann – kennen, heiratet aber einen wie sich später herausstellt aggressiven Dirigenten. Es ist interessant, dass MacLeod diesen Widerspruch zu wenig herausarbeitet, denn Maitland und ihr Mann werden reich, ohne etwas Eigenständiges produziert zu haben. Lässt man diese teilweise langatmigen und atmosphärisch eher zu sehr an der Vergangenheit klebenden Passagen weg, ist es Maitlands Mutter, welche die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nach dem frühen Tod ihres Mannes und Roushanas Vater zieht es sie nach Indien, wo sie mitten in einer von insgesamt zwei atomaren Auseinandersetzungen im Plot geblendet wird. Trotzdem will sie ihr Leben in Indien nicht aufgeben. MacLeod gelingt es, bei Roushanas Besuchen auf dem Kontinent wirklich eine aus der Ereignissen des Gegenwart realistisch extrapolierte Atmosphäre wirtschaftlichen und sozialen Elends, politischen Missverständnissen und schließlich auch familiärem Zusammenhaltsgefühl zu erzeugen. Auch wenn diese Abschnitte des Buches teilweise zu kompakt, zu konstruiert erscheinen, strahlen sie das Leben aus, das die künstlerisch dekadente Gemeinde in Paris an keiner Stelle auch nur erahnen lässt.
Zu den weiteren Schwächen gehört ohne Frage Ian MacLeods unentschlossener Tanz um die Musik. In „Wake up and Dream” – seine Hollywood Geschichte – griff der Autor auf die cineastischen Vorbilder zurück und verwandelte sie zur Verblüffung des Lesers mit sichtlichem Vergnügen in etwas Neues, etwas Originelles und damit auch etwas, das den als klassische Hardboiled Geschichte angelegten Plot auch weiter ziehen konnte. Dieser Fokus auf Inhalt und Gestaltung lässt sich leider in „Song of Time“ nicht erkennen. Natürlich ist es schwieriger, ein Buch über Musik und die Emotionen zu schreiben, die sie in künstlichen Charakteren erwecken soll. Das Ganze muss dann auch noch auf den Leser übertragen werden, der mit MacLeods Welt erst einmal zurecht kommen muss. Bei einer stärkeren Strukturierung hätte das in „Song of Time“ funktioniert. Hier bleiben zu viele Andeutungen zurück. Der Leser soll sich vergeblich selbst ein Bild vom Einfluss der für ihn unbekannten, neu komponierten Musik im Vergleich zu den klassischen Stoffen machen, die Roushana lieber spielt. Diese Ambivalenz ist nicht nur hintergrundtechnisch eine der Schwächen des Buches. Mit dem religiösen Propheten und seiner doppeldeutigen Moral – Opium für die Massen – führt MacLeod unnötig aus Spannungsgründen eine weitere Figur ein. Die Wichtigkeit ihres als Dirigenten berühmten, Reden haltenden Mannes wird in diesen Abschnitten überschätzt und die Begegnung mit dem Propheten ist einer der Knackpunkte, von dem sich „Song of Time“ nicht mehr erholen kann. MacLeod erzählt die Geschichte, dieses eine Leben schon aus der Distanz. Da ist es unnötig, diese Distanz mit persönlichen Begegnungen zu durchbrechen, zumal der Mann ja von den Behörden inoffiziell gedeckt, offiziell auch gesucht wird. Da dieser Handlungsbogen sich schließlich opportun zu schnell in Luft auflöst, bleibt ein Gefühl der Leere zurück, das einige der darum herum platzierten, sehr effektiven Passagen förmlich negiert und die phlegmatisch, auf viele autobiographische Fehler mit zu langen unwichtigen Erzählpassagen sich entwickelnde Handlung zum Stillstand bringt.
MacLeod ist ein brillanter Stilist, der immer wieder mittels visueller, effektiver Bilder seine Intention dem Leser unauffällig, niemals belehrend und vor allem ausgesprochen effektiv präsentiert hat. Diese Stärken fehlen teilweise im vorliegenden Roman. Auch wenn es der Autor nicht gerne hört, es bleibt das Gefühl zurück, absichtlich miteinander verbundene Kurzgeschichten zu lesen, die allein stehend teilweise interessant, verstörend, faszinierend, aber vor allem fremdartig vertraut sind. Immer wieder greift der Autor auf Allegorien, Vergleiche und subtile Querverweise hin. Er fordert das Wissen seiner Leser teilweise bis zur Grenze des Erträglichen und Zumutbaren heraus. Aber diese erzähltechnische Überlegenheit – Arroganz wäre ein zu starkes Wort – wird durch einige schreckliche, inhaltlich Leere oder noch schlimmer ins Nichts führende Beschreibungen unterminiert, an deren Ende eher verwirrend als Zustimmung herrscht. Mit diesen technischen Tricks versucht MacLeod die Lücken in seinem Buch unnötig zu füllen und weist statt auf seine dreidimensionalen, aber teilweise zu mechanischen Figuren zu sehr auf sich selbst als cleverer Erzähler hin. Das war sicherlich nicht die Absicht eines derartig routinierten Autoren, aber die Konsequenz wäre es gewesen, den ganzen Roman noch einmal gründlich zu überarbeiten und die mechanischen Schwächen gänzlich zu Gunsten einer anderen Rahmenstruktur zu überarbeiten. Vor allem kommt keine Chemie zwischen dem ambivalenten, seine Herkunft am Ende erkennenden Adam und der älteren, resoluten Dame auf. Es fehlt die platonische Liebesbeziehung, die Roushana als Ersatz für ihren zu früh verstorbenen Bruder ihr Leben lang gesucht hat. Das Ende ist nicht unbedingt offen, aber wenn die Erzählerin akzeptiert, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod, dem langsamen Sterben haben muss, dann öffnet der Autor dem Leser die Augen förmlich mit der Brechstange und vergisst, das hier ein langes, ohne Frage interessantes, niemals perfektes Leben ausgebreitet liegt, dessen „Potential“ trotz oder vielleicht sogar wegen des zu futuristischen Hintergrundes – man kann sich den Roman eher als viktorianisches Drama vor einem Steampunk Hintergrund wie in seinen beiden „Äther“ Büchern vorstellen – sowie der erzähltechnisch frustrierenden Ambivalenz des Erzählers nicht wirklich funktioniert. Auch wenn „Song of Time“ mit einigen Preisen ausgezeichnet worden ist, gehört es zu den schwächsten Romanen Ian MacLeods und weist überdeutlich darauf hin, welche Geschichten in seinem kleinen, aber feinen Werk noch zu entdecken sind.
- Taschenbuch, 310 Seiten
- Verlag: PS Publishing (1. Oktober 2013)
- Sprache: Englisch
- ISBN-10: 1848636695
- ISBN-13: 978-1848636699