„Ein Gebet für die Achtsam Schreitenden“ ist der Abschluss der Duologie um den Teemönch Dex und ihren Roboterfreund Helming aus der Feder der Amerikanerin Becky Chambers. Der erste und für die Lektüre notwendige Teil ist gleichzeitig ebenfalls als handliches Hardcover unter dem Titel „Ein Psalm für die Wild Schleifenden“ im Carcosa Verlag erschienen. In den USA lag zwischen der Veröffentlichung der beiden Teile im Auftrag von Tor auf deren Internetseite ein Jahr.
In ihrem Nachwort spricht sie kurz von der Entstehung der Geschichte in der Corona Pandemie. Zu Beginn ihrer Arbeit am ersten Teil waren die ersten Einschränkungen spürbar und nachdem sie den zweiten Abschnitt fertiggestellt hatte, musste sie noch wenige Wochen auf ihre erste Impfung warten. Vielleicht schwingt deswegen in jeder Zeile dieser optimistischen Geschichte auch ein gewisser Freiheitsdrang - nicht nur zurück in die Natur - mit.
“Ein Gebet für die Achtsam Schreitenden” besteht aus einer Vielzahl eindrucksvoller, aber isoliert betrachtet erstaunlich stiller, in sich gekehrter Szenen.
So wird Dex vom Drucker – er besitzt einen 3 D Drucker, deswegen die Berufsbezeichnung – Leroy nach ihrem Verhältnis zu Helming gefragt. Dex antwortet sehr treffend: „Hattest Du schon mal Besuch von einem Freund, der woanders lebt? An einem weit entfernten Ort, wo alles ganz anders läuft? Einen Freund, den Du herumführen musst, dem Du erklären musst, was auf den Tisch kommt, wie die Technik bei Dir funktioniert, was alles gutes Benehmen ist?“
…
„Helming ist mein Freund und ich führe ihn herum. Draußen in der Wildnis war es umgekehrt. Die Siedlungsgebiete der Menschen sind meine Domäne, für alles andere ist Helming zuständig. Es ist schlicht und einfach ein Tauschgeschäft.“ (Dex & Helming Band2, Seite 92, Übersetzung von Karin Will)
Die erste Reise, beschrieben im ersten Buch, führte Dex in die Wildnis und wie angesprochen, übernahm Helming einen wichtigen Teil der Kontrolle. Geduldig stellte er sich ihren Fragen, beschützte sie auf unwegsamen Wegen und erklärte ihr eine Reihe von Zusammenhängen der Natur. Aber Helmings Wissen ist beschränkt gewesen. Dex oben zitierten Aussagen treffen nicht hundertprozentig zu. In Wirklichkeit ist das Tauschgeschäft viel größer, denn aus dem naiven und weltfremden Teemönch und dem kindlich neugierigen Roboter wird eine Gemeinschaft, die sich mehr und mehr außerhalb der von Dex definierten Territorien ergänzt. Vor allem kann Helming auch erst in den Menschen Städten mit der vom Roboter Rat definierten Mission beginnen.
Zu Beginn des zweiten Buches führt der gemeinsame Weg nicht nur in die Dorfgemeinschaften, die beiden Reisenden sind populär wie Schauspieler oder Politiker. So wird Helming im ersten Dorf mit einem riesigen Plakat begrüßt. Es ist der erste Roboter, den die Menschen seit einer von Becky Chambers nicht definierten Zeit zu Gesicht bekommen. Schon im ersten Buch hatte Becky Chambers es nicht so wie Entfernungsangaben. Der Leser weiß, dass die Geschichte auf dem vor einer unbestimmten Zeit besiedelten Mond Panga spielt und die Roboter sich zurückgezogen haben. Ein Teil der Technik ist auf ein primitives Niveau zurückgefallen, allerdings gibt es neben den angesprochenen 3 D Druckern mit ökologischen Materialien auch Taschencomputer, auf denen sich nicht nur Bücher speichern und lesen lassen, sondern welche die Kieselkonten führen, auf deren der wirtschaftliche Austausch zwischen den einzelnen Bewohnern der Dörfer, aber auch zwischen verschiedenen Gemeinden basiert. Es muss zumindest irgendwo auf dem Planeten noch eine höher stehende Technik vorhanden sein. Gereist wird mit einem von einem Fahrrad angetriebenen Wohnwagen. Daneben gibt es Fuhrwerke, aber keine Verbrennermotoren mehr. Daher sind die meisten Gemeinden autark, auch wenn sich Geschichten sehr viel schneller herumsprechen als es die räumlichen Entfernungen möglich machen. Dank der Taschencomputer sind auch das Verschicken von E- Mails und das Hinterlassen von Sprachnachrichten an Stellen möglich, an denen es noch Knotenpunkte gibt. Dex und Helming haben sich im ersten Buch vor allem abseits der bekannten Verkehrswege aufgehalten, so dass diese Art der Kommunikation nicht funktionierte.
Becky Chambers benutzt das Verhältnis zwischen Dex und Helming in diesem zweiten Teil der Geschichte, um den Hintergrund ihrer Welt besser und dreidimensionaler herauszuarbeiten. Helming ist das angesprochene, fast autistische Kind, das in einzelnen Bereichen über sehr viel Wissen verfügt, aber im zwischenmenschlichen Bereich unfähig erscheint, auch nur alltägliche Entscheidungen zu treffen. Wenn Helming aber eine relevante Entscheidung getroffen hat, erscheint seine Vorgehensweise nuanciert. Bei einer Reparatur findet er eine ungewöhnliche Lösung.
An der Seite von Dex lernt Helming nicht nur Popularität kennen, sondern erhält seinen ersten Besitz. Eine Karte; ein Zettel mit den von ihm verdienten Kieselsteinen, einen Taschencomputer und schließlich auch eine Tasche. Fast am Rande des Kitsches angesichts der kindlichen Naivität eines Roboters beschreibt Becky Chambers diese kleinen „Siege“ mittels pointierter, teilweise doppeldeutiger Dialoge. So lernt Helming auf doppelte Art und Weise Sex kennen, was Dex teilweise wie in einer Slapstickkomödie auch peinlich ist.
Von Beginn an hat Becky Chambers auf zwei Pferde gesetzt. In ihrer positiven Utopie standen sich zwei sehr unterschiedliche, aber harmoniebedürftige und mit ihren jeweiligen Zwängen positiv neugierige Protagonisten gegenüber. Wie schon bei der Besprechung des ersten Teils genannt, ist die Reise nach kurzer Zeit wichtiger als das jeweilige Ziel. Helming kann von Dex mehr lernen als wenn er irgendwo irgendwelchen Menschen aus Roboter-Sicht elementare, aus menschlicher Perspektive allerdings belanglose Fragen stellt. Dex möchte ein Teemönch sein. Ein reisender Psychologe, der bei einer verkauften Tasse Tee den Menschen zuhört und ihnen Hilfe anbietet. Dabei verfügt sie über anfänglich über keine Lebenserfahrung und lernt vieles an der Seite des kindlich naiven, ihr aber hinsichtlich der Maschinenintelligenz auch mit wenigen Einschränkungen grenzenlos überlegenen Helming. Sie lernt im Grunde wie Helming, als vollwertiger Mensch zu leben und entsprechend mit ihrer Umwelt zu interagieren.
Das zweite Pferde ist der Mond und damit der Hintergrund der Geschichte. Wie bei der stetig wachsenden Freundschaft zwischen Dex und Helming konzentriert sich Betty Chambers auf einzelne Höhepunkte entlang der Reise. Dabei reicht das Spektrum von seltenen, nicht ungefährlichen Tieren über die Flora/ Fauna bis zu inzwischen zu Ruinen zerfallenen industriellen Hinterlassenschaften, meistens abseits der Wege im tiefsten Dschungel. Die Dörfer sind ambivalent beschrieben worden. Dex und Helming sind immer für Abwechslung, ein abendliches Fest in diesem herausfordernden und kargen Leben gut. Da fährt eine ältere Dame mit dem begeisterten Helming in einem Motorboot Slalom über den See und präsentiert dem begeisterten Leser Helming echte Bücher. Inhalt: Pornographie. Mittels des 3D Druckers kann alles nachgebaut werden, die eingesetzten Rohmaterialien sind fast ausschließlich pflanzlicher Natur. Auf der anderen Seite gibt es - ohne hintergründige Erklärungen - keine motorisierten Fahrzeuge oder Flugzeuge mehr. Die Roboter erschaffen ihre nächste Generation aus Teilen der “verstorbenen “ Roboter, wobei angesichts der Nutzung von Solarkraft sich hier die Frage stellt, wann der Verstand bzw. im übertragenen Sinne die Seele einer Maschine ins Maschine Nirvana überwechselt. Auch diese Frage wird nicht beantwortet.
„Was brauchst Du und wie kann ich Dir behilflich sein?“ ist die erste Frage, im Grunde sind es die ersten Worte, welche Helming an Dex richtet, nachdem der Roboter aus dem Nichts bzw. aus dem Wald auf den verblüfften Teemönch zugetreten ist.
Dex kann die Frage nicht beantworten. Weder zu diesem Zeitpunkt noch am Ende der Reise. Nicht, weil sie sich keine Gedanken macht, sondern weil die Antwort auf die eine Art und Weise simpel ist – sie braucht Geborgenheit – und gleichzeitig derart komplex.
Es sind diese kleinen Momente, welche die Duologie positiv nachdenklich stimmend erscheinen lassen. Vielleicht lässt sich Becky Chambers kritisieren, weil sie gegen Ende der Geschichte zu viele Ideen zu wenig entwickelt.
So landen Dex und Helming an der Küste. Dort wird jegliche Technik abgelehnt. Dex lagert außerhalb des Dorfes. Der einzige Mann, der sie aufsucht, ist ein Pragmatiker, der Dex und Helming mit zum Fischen nimmt. Keine Konfrontation, keinen Konflikt. Diese Szene gipfelt in einem berührenden Moment, der zum Innehalten aufruft. Es ist eine der schönsten Szenen, die in den letzten Jahren innerhalb der Science Fiction niedergeschrieben worden ist.
Als Dex zusammen mit Helming ihre Familie aufsucht, eilt ihr die Popularität voraus. Dex ahnt, dass sie nicht mehr in der gleichen Form wie früher nach Hause kommen kann. Ihr Vater hinterfragt ihre ursprüngliche Mission und trifft dabei auf einen wunden Punkt. Sie hat schon lange keine Teezeremonien mehr abgehalten, weil sich deren Sinn ihr nicht mehr erschließt. In der Theorie ein grundlegender Glaubenskonflikt, da Dex zu Beginn ihrer Reise wild entschlossen war, ihr bisheriges Leben zu verändern. Aber auch dieser Moment ist verpufft.
Auch die Reise in die Stadt – hier leben wohl die meisten Menschen auf Panga mit dem höchsten zivilisatorischen Niveau – wäre ein wichtiger Meilenstein gewesen. Aber Dex scheut diesen finalen Schritt. Ihre Beweggründe kann der Leser nachvollziehen. Aber diese fehlenden Konflikte – sie müssen ja nicht kriegerischer Natur sein – lassen sich die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft vielleicht zu zuckersüß erscheinen.
Am Ende präsentiert Becky Chambers ein klassisches Bild aus unzähligen, in erster Linie amerikanischen Roadmovies. Dex und Helming haben nicht einen ganzen Kontinent überquert. Ihnen werden noch schwere Entscheidungen bevorstehen, aber sie haben einen wahren Schatz gefunden: einen Moment kindlicher Glückseligkeit an einem wunderschönen Ort, alleine mit der Natur, wenn nicht ihrem persönlichen Universum.
- Herausgeber : Memoranda; 1. Edition (15. Januar 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 182 Seiten
- ISBN-10 : 3910914128
- ISBN-13 : 978-3910914124
- Originaltitel : A Prayer for the Crown-Shy