Heimweh sucht Utopia

Michael Weisser

Michael Weissers „Heimweh sucht Utopia“ ist eine überwiegend vom Autoren/ Künstler selbst gestaltete Sammlung von Essays, in denen er auf ein erstaunlich breites Spektrum von Themen  eingeht, die weit über den Begriff von Heimweh oder dementsprechend Heimat hinausgeht.

Das Buch enthält nicht nur drei im Grunde Eckpfeiler in Form drei längerer Arbeiten aus aktuellem Anlass, sondern auch Reden, Interviews und schließlich einen Artikel von Rainer Beßling über die I: Codes Michael Weissers. Michael Haitel hat mit Michael Weisser schon mehrere Projekte neben der Neuauflage seiner drei Romane initiiert. Daher ist es folgerichtig, in einem sekundärliterarischen Band mit, aber auch über Michael Weisser auf die Entwicklung der QR- Hybridbücher einzugehen, deren Kinderschuhe in die Endphase der phantastischen Bibliothek des Suhrkampverlages fielen.

Udo Klotz rundet die Präsentation mit einem Block bestehend unter anderem aus interview und Gegeninterview, aus Vorwörtern und schließlich auch kürzeren Beiträgen ab. Helmut Hafner leidet das Buch mit einem euphorischen Vorwort ein.

Schon zu Zeiten der Phantastischen Bibliothek des Suhrkamp Verlags hat Michael Weisser an der nächsten Inkarnation des Buches gearbeitet. Des interaktiven literarischen Vergnügens. Auch bei „Heimweh sucht Utopia“ finden sich von Michael Weisser gestaltete QR- Codes, die ins Internet führen und quasi die nächste Ebene angesprochen. Sie führen zu Musik, zu Bildern und schließlich auch Poesie des Künstlers. Dabei ist Michael Weisser eben nicht nur auf der Suche nach der nächsten Ebene, sondern sie auch die ökologischen Gefahren in einer zu intensiven Internetnutzung. Er steht auch kritisch den E- Mobilen gegenüber, für deren Batterieherstellung vor allem in trockenen Gegenden des Planeten Unmengen von Wasser verbraucht werden. Alternativen zum Internet kann Michael Weisser nicht aufzeigen, aber wie bei allen auf begrenzten Rohstoffen basierenden „Spielzeugen“ oder lebensnotwendigen Arbeitswerkzeugen plädiert der Künstler für eine sinnvolle Nutzung. Das ist ein schmaler, für manche Menschen vielleicht sogar zu unkritischer Grat, auf dem sich der Bremer  bewegt.

Michael Weisser wird in den beiden wichtigen Essays „Heimweh sucht Utopia“ und „Die Zukunft der Heimatforschung in der digital vernetzten intermedialen Gesellschaft“ oft die Begriffe Heimweh und Heimat verwenden. Beides sind im Grunde eher Empfindungen und beschreiben emotionale Gefühlszustände, welche jeder Mensch für sich interpretieren kann und vor allem sollte.  Schon Heimat wird bei einer Befragung immer andere Antworten hervorbringen. Für manche Menschen ist es der Geburtstort; die Stadt oder Gegend, in welcher die restliche Familie lebt und zu der man zurückkehren will oder ein imaginärer oder realer Ort, an dem Mann/ Frau sich geborgen und damit heimisch fühlen.

In „Heimweh sucht Utopia“ stellt Michael Weisser eine Reihe von utopischen Romanen beginnend eben bei „Utopia“ und endend in der Gegenwart einigen historisch leider realen Exzessen, einen perfekten Staat auszubilden, gegenüber. Es sind alle objektive soziale Entwürfe, wobei es bei Stalinismus und Nationalsozialismus schwerfällt, von jeglicher Art Gesellschaftsentwurf zu sprechen, sondern sie als unmenschliche Diktaturen ansehen muss. Aber Orwell und Huxley haben auf dem Papier und im Kleinen mit diesen dystopischen Entwürfen gearbeitet. Michael Weisser distanziert sich klar und deutlich sowohl von Hitler wie auch Stalin, er sieht aber auch die Notwendigkeit, über diese Diktaturen in seiner Phalanx positiver wie negativer „Utopien“ zu schreiben. Aber gemeinsam haben alle literarischen wie auch leider realen Inkarnationen, das sie eine andere, vielleicht manchmal auch aus perfider Sicht perfekte Gesellschaft suchen, die Sehnsüchte oder Neurosen der Autoren / Menschen und schließlich auch Leser befriedigen sollen. Vielleicht sogar Wege oder viel öfter Irrwege zu einer auf jeden Fall anderen, nur selten besseren Gesellschaft aufzeigen.

Aber sie haben alle einen Punkt gemeinsam. Sie versuchen Objektivität zu implementieren wo Begriffe wie Heimweh/ Heimat für Subjektivität sprechen. Daher kann Michael Weisser in seinem Essay die Frage nicht beantworten, ob es in einer Utopie wirklich eine Art Heimat geben kann.

Positiv hervorzuheben ist, dass Michael Weisser nicht nur vor allem die literarischen Utopien auflistet, sondern sich mit ihnen auseinandersetzt und zwangsläufig seine Betrachtung an dem Punkt beendet, mit welchem er begonnen hat. Dem Werk, das den Namen „Utopia“ prägte.

Später wird er den Faden mit dem Referat „Heimat ist die Sehnsucht in mir!“ wieder aufnehmen und seinen persönlichen Standpunkt ausführlicher erläutern.

Sachlich gesehen wirkt „Die Zukunft der Science- Fiction in der digital vernetzten intermedialen Gesellschaft“ als direkte Fortsetzung des ersten Essays. Michael Weisser spannt hier einen erstaunlich weiten Bogen, in dem er nicht nur die Science Fiction per se in seinen ganzen Spielformen wie schließlich auch Filme oder Musik aus seiner persönlichen Sicht definiert, sondern die eigene Position im Genre sucht. Dabei geht er auf seine ersten literarischen Versuche ein, inspiriert von Herbert W. Franke und auch ein wenig von ihm unterstützt zu Beginn der achtziger Jahre Science Fiction Romane zu schreiben, sondern später auch mit der Literaturform als Künstler zu spielen begann. In den achtziger Jahren fühlte sich Michael Weisser noch mehr als Künstler denn als Genreautor.  Heute geht er in seinem Essay auch auf die Clubs, die Magazine und schließlich sogar die Fans ein, während er sich in den achtziger Jahren vielleicht auch unterstrichen durch die Veröffentlichung seiner ersten beiden Romane in der eher intellektuellen Suhrkamp phantastischen Bibliothek als neugieriger Betrachter von außen angesehen hat, der wortgewandt gerne mitsprach, aber sich irgendwie nicht zugehörig fühlte.

Dieses Essay richtet sich noch mehr an den Mainstream, denn viele der von Michael Weisser ebenfalls minutiös recherchiert und solide aufgereihten Punkte werden Genrefans mindestens genauso gut kennen.

Der Beitrag findet aber seine natürliche Fortsetzung in „Science Fiction als Kunstform? Erinnerungen, Verknüpfen und Visionen“. Zwischen den beiden Beiträgen gibt es kleinere Überschneidungen, aber es ist wahrscheinlich richtig, die beiden Essays nicht zu einem weitreichenderen Überblick quasi zu fusionieren, sondern sie einzeln nachzudrucken. Am Ende stellt sich Michael Weisser in beiden Beiträgen der Ausgangsfrage nach der Zukunft der Science Fiction in einer im Grunde schon futuristischen Gesellschaft nahe den Visionen der Cyberpunk Science Fiction der achtziger Jahre, die heute so unendlich fern, aber hinsichtlich des Internets oder der virtuellen Realitäten auch allgegenwärtig sind. 

Aber diese sich in erster Linie selbst gestellte Frage der Zukunft der Science Fiction in einer von ihr selbst vorgesagten futuristischen zukünftigen Gegenwart kann er nicht beantworten. Zu oft hat und positiv hinsichtlich ihrer warnenden Funktion hat sich das Genre selbst verändert, angepasst. Dabei ist nicht die Rede von der Massenliteratur, auch wenn Perry Rhodan vielleicht für einige Menschen auch eine Art Heimat „darstellt“, sondern von den umtriebigen kritischen Geistern, welche eine vernünftige Art der Energiehaushaltung vor allem in Hinblick auf die ökologischen Folgen auch im Fokus der stetig steigenden Erdbevölkerung extrapoliert haben und damit der nachhetzenden Politik einen anderen, vielleicht entscheidenden Schritt voraus sind.

Das dritte Essay kommt auf eine der Kernaussagen nicht nur in Dr. Helmut Hafners Vorwort zurück. Für seine „bremen:Ansichten“ ist Michael Weisser ausgezeichnet worden. Auf eine visuelle künstlerische und für viele Heimatforscher auch futuristische Art und Weise hat Michael Weisser seit vielen Jahren die Geschichte der Hansestadt mit einem innovativen Präsentationsstil verbunden. Ohne Vergangenheit und deren Kenntnisse gibt es natürlich weiterhin eine Zukunft. Zukunft ist schon der nächste Tag, aber wie im Leben fehlt es dann an Erfahrung. Diese lässt sich nur der Vergangenheits- und damit in diesem Fall speziell auch der Heimatforschung gewinnen. In diesem Essay kommt Michael Weisser der subjektiven Betrachtung von Heimat nicht nur aus der Sichtweise der Historiker, sondern des in diesem Fall auch aufklärenden Künstlers am Nächsten. Während sich der Autor in den beiden anderen längeren Arbeiten ja quasi an der Geschichte sowohl real wie auch in literarischen Utopien entlanghandelt oder verschiedene Sujet der SF streift, agiert er hier projektbezogen und stellt nicht nur für die Zuhörer bei der Preisverleihung, sondern einer breiten Öffentlichkeit seine künstlerische, auch auf andere Städte übertragbare Idee vor. Es mag auf den ersten Blick seltsam sein, dass ein digitaler noch vorne orientierter Künstler einen auf Historie basierenden Preis erhält, aber indirekt zeigt es auch auf, dass viele Menschen immer noch zu sehr mit Scheuklappen durch die Gegend laufen und eher Definitionen als Visionen huldigen. Anstatt das Ganze zu sehen und zu analysieren, verbleiben sie kleingeistig in ihren jeweiligen Ecken.

Zwei kurze Artikel zur „ars loci 2020“  und erweiternd auch zu ästhetischen Feldforschung „NinBurg!“ als intermediales Kunstprojekt runden die Sammlung ab. Sie ermöglichen einen Einblick quasi in die alltägliche „Arbeit“ des Künstler Michael Weissers.

Der Untertitel „Wenn Heimatforschung von Neugier erfüllt nach der Zukunft fragt“ ist ein provozierender Untertitel. Jegliche Art von Forschung wird von Neugierde angetrieben, dem Drang, sein Wissen zu erweitern. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Blick in die Vergangenheit,  Zukunft oder auch bei der Heimatforschung auch zur Seite gerichtet wird. Sowohl der Titel auch als der Untertitel machen die Leser neugierig. Die relevanten vom Autoren aufgeworfenen Fragen werden nicht abschließend beantwortet. Viel mehr nimmt er sie als Sprungbrett, um wie den gesellschaftlich Utopien oder nicht selten realen Dystopien idealisierte Zustände positiver und negativer Art gegenüberzustellen oder das Science Fiction Genre selbst inklusive des erweiterten Umfelds zu streifen.

Wer sich neben den drei allerdings schon über dreißig Jahre alten Romane mit dem Menschen Michael Weisser beschäftigen möchte, findet vor allem in den langen Essays eine gute Startbasis. Die Interaktion mit seiner Kunst, aber auch die Ergänzung durch Musik laden zum Verweilen mit dem Buch ein. Es lohnt sich, die einzelnen Essays nicht hintereinander zu lesen, sondern sich intensiver vor allem mit den Utopien zu beschäftigen und ggfs. auch einzelne Texte wieder- bzw. neu zu entdecken.  Selbst die vielen Fans bekannte Exkursion ins Fandom und die semiprofessionellen Publikationen offenbart eine Chancen der Wiederbegegnung oder Neuentdeckung.

Michael Weisser
HEIMWEH SUCHT UTOPIA
Wenn Heimatforschung von Neugier erfüllt nach der Zukunft fragt
AndroSF 128
p.machinery, Winnert, Juni 2020, 344 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 201 0 – EUR 17,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 888 3 – EUR 8,99 (DE)

Kategorie: