Nach seinen ersten beiden prämierten Romanen "Zeitmaschine Karls des Großen" und "Kaisertag" sowie dem Alternativweltabenteuer „Im Jahre Ragnarök“ oder dem für zwei Kurzgeschichten dieser Sammlung wichtigen „Die letzte Fahrt des Leviathan“ präsentiert Oliver Henkel mit "Wechselwelten" nicht eine typische Kurzgeschichtensammlung, sondern vereint Ideen und mögliche Schnittpunkte der Geschichte. Aus vielen der folgenden Ideen könnten noch Romane entstehen, einige andere Ansatzpunkte schildern die Abweichung und verlaufen dann wie historisch häufig belegt ohne Veränderungen im Sande. Das Grundprinzip der Kurzgeschichte Anfang, Mittelteil und - offenes - Ende überlässt der Autor anderen. Ihm geht es hier um das Erzählen von reiz- und phantasievollen Kombinationen geschichtlich wichtiger Ereignisse. Damit lädt er seine Betrachter ein, durch den Spiegel in das Wunderland des "Was wäre wenn ?" zu schauen.
Im romanhaften Fragment "Ein neunter Oktober" beschreibt Oliver Henkel aus der Sicht eines Soldaten einen anderen, einen blutigen Verlauf dieser Nacht in Leipzig. Dabei erinnert diese düstere Geschichte unwillkürlich an einen für die Öffentlichkeit verborgenen Tag auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking, als die chinesische Demokratiebewegung niedergewalzt worden ist. Es ist erschreckend, dass jetzt die westliche Welt diesem neuen wirtschaftlichen“ Heilsbringer „hinterher läuft und dabei die jüngste Vergangenheit vergießt. Der Autor schildert das Chaos aus der Sicht der einfachen Soldaten, die Mielkes Befehl unter der Bedrohung ihres eigenen Lebens umsetzen müssen. Immer rasanter werden die Ereignisse dieser Nacht geschildert, bevor die Handlung ohne eigentlichen Höhepunkt aber mit einem düsteren Ende beendet wird.
"Der Adler ist gelandet" beschreibt die Begegnung Christopher Columbus vor der Planung seiner Amerikaexpedition mit einem Lübecker Kaufmann. Die Ziele und Ambitionen sind die gleichen, die Auswirkungen im Adelsbereich amüsant. Dabei stellt Henkel Columbus Charakter als Forscher für die eigene Tasche deutlich heraus, während die auch nicht zimperlichen Hanseaten zumindest die weit reichenden Handelsperspektiven im Auge haben.
Wie in der ersten Kurzgeschichte öffnet "Der Adler ist gelandet" ein kurzen Moment den Blick in eine fremdartige vertraute Alternativwelt, über die der Leser mehr erfahren möchte. Leider fehlen die hintergründigen Informationen, so dass es eher wie der Entwurf einer Novelle erscheint. Es ist zu wünschen, dass Oliver Henkel diese Prämissen noch irgendwann zu umfassenden Geschichten ausbaut.
"... und dass er die Menschen erlöse" ist eine interessante und vielleicht ketzerische Wendepunktgeschichte: Nach dem Verrat an Jesus erkennt Judas seine Schandtat und findet einen Weg, seinen Herrn zu erretten. Das steht im Widerspruch zu dessen Mission. Oliver Henkel greift hier episodenhaft in einen kritischen aber immer wieder gerne genommenen Punkt der Geschichte - siehe "I.N.R.I. oder die Reise mit der Zeitmaschine" von Moorcock bis "Das Jesus Video" von Andreas Eschbach - und fabriziert einen mögliche Alternativweltsituation, ohne die verändernden Folgen in seinem Text aufzugreifen. Die konzentrierte Episode liest sich flüssig, ihr fehlt aber eine weitergehende Handlungsebene und so wirkt die Geschichte unvollendet. Das Jesus sich bewusst für die Menschheit geopfert hat, stellt hier den überraschenden Teil der Story dar.
Eine kurze Bemerkung von Joseph Goebbels über Disneys Schneewittchen greift der Autor in "Kalifornia Dreaming" auf und entwickelt einen fiktiven, aber möglichen Brief von Goebbels an Walt Disney, in dem sich ersterer für die freundliche Aufnahme in den Staaten bedankt. Dieses Mal ist das Element des Briefes eindeutig zu wenig und so reizvoll die Spekulation eines Walt Disney Themenparks in einem großdeutschen Reich zu sein scheint, kann sie nur Ausgangsbasis für eine tiefer gehende Geschichte sein. Hier bleibt das Gefühl der Leere zurück.
Je länger Henkels Geschichten werden, desto sicherer fühlt er sich: Schon der Titel von "Mr.Lincoln fährt nach Friedrichsburg" ist eine liebevolle Anspielung auf einen alten amerikanischen Film. Der Autor schildert Mr. Lincoln in seiner vorpräsidialen Rolle als Anwalt, der einen Schwarzen im preußischen South Carolina verteidigen soll. Eine stringente Handlung mit dramatischer Auflösung, vertrauten handelnden Charakteren in einer ungewöhnlichen Umgebung zeichnen diese Novellette aus. Geschickt spielt der Autoren mit den Erwartungen seiner Leser und dank einer atmosphärisch überzeugenden Einleitung wird der Leser gleich zu Beginn in das Gerichtsdrama gezogen. Das die Lösung pointiert und provokativ angelegt ist, schließt den Kreis. Diese interessante Geschichte ist einer der Höhepunkte der Sammlung.
Aus der Anthologie „Visionen- die Legende von Eden“ ist „Hitler auf Wahlkampf in Amerika“ übernommen worden. Die Story zeichnet wieder ein perfekt recherchierter Hintergrund aus. Wie in seinen beiden Parallelweltromanen und der Handvoll von Kurzgeschichten geht es Oliver Henkel in erster Linie auf eine möglichst realistische Fortführung einer potentiellen Abzweigzeitlinie. Die deutsche Oase in den Vereinigten Staaten belebt er so urdeutsch, dass der Leser den Schweinebraten und das Bier förmlich riechen kann. Handlungstechnisch funktioniert der Text in Folge seiner Kürze nicht gänzlich. Die Idee der falschen Übersetzung ist nicht neu und zu früh zeichnet sich diese Plotauflösung im Ansatz an. Auch nimmt sich Oliver Henkel zu wenig Zeit, um seine Protagonisten zu charakterisieren. Dies ist allerdings für den Handlungsstrang unbedingt notwendig. Aufgrund der wenigen emotionalen Begebenheiten wirkt die Motivation der Figuren bemüht, nicht unbedingt überzeugend. Es ist auf jeden Fall sinnvoller, die grundlegende Idee in einem späteren Text noch einmal aufzunehmen und eine abgerundete Novelle daraus zu schaffen. Im Zusammenhang mit „Mr. Lincoln fährt nach Friedrichsburg“ und vor allem seinem neusten, ebenfalls in diesem Paralleluniversum spielenden Roman „Die letzte Fahrt des Leviathans“ ein weiteres Puzzlestück in seiner fortlaufenden Serie eines „deutschen“ amerikanischen Bundesstaats.
"Die Unsterblichkeit des Harold Strait" ist die einzige Zeitreisegeschichte dieser Sammlung. Der wissenschaftliche Fortschritt ermöglicht es ausgesuchten Freiwilligen, im Schlaf in den wachen Geist eines unfreiwilligen Versuchsobjekts in der Vergangenheit aufzusuchen und den Geist zu verdrängen. Aus Eifersucht versucht einer dieser wissenschaftlichen Studenten - nämlich Harold Strait- in der Geschichte sein persönliches Zeichen zu setzen- und das natürlich mit ungeahnten Folgen. Im Gegensatz zu den anderen oft sehr ernst geschriebenen Geschichten amüsiert sich der Autor geistreich mit vielen Seitenhieben auf die Wissenschaft über die menschlichen Fehlleitungen, wenn die Hormone das Gehirn ausschalten. Das offene, konsequente und zynische Ende passt zu dem unsympathischen Charakter, der hier die Handlung trägt. Zum Teil erreicht die Handlung Slapstick Züge.
Der letzte Titel ist so lang wie die Story: „Aus den Symposien des Nikandros von Athen: Dialog XIV. auch bekannt als Zweites Gastmahl des Sophronios". Die beiden Philosophen spinnen die Geschichte Alexander des Großen durch, seine Niederlage gegen Rom und schließlich sein Tod auf dem Schlachtfeld Dabei sind beide der Ansicht, dass die große Niederlage im Feldzug gegen Rom erst seinen Ruhm begründet hat und ein früher Tod im Bett in Babylon sein junges Reich zu Staub zerblassen und sein Anglitz aus den Geschichtsbüchern getilgt hätte. Das retardierende Element ist die zweite Erzählebene. Der Autor betrachtet hier seine Geschichte durch zwei räumlich und zeitlich von den Ereignissen getrennte Erzähler. Diese Distanz lässt Henkel mehr Stoff in einen kurzen Text packen, diese Distanz nimmt aber auch der dramatischen Situation einiges an Spielraum. Man kann sich diesen Bericht auch sehr gut als Roman vorstellen, in dem der Autor die verschiedenen historischen Ereignisse nach Alexanders fiktiver Genesung ablaufen lässt und eine neue europäische Epoche einzuläuten versucht.
Wie in den anderen kurzen Erzählungen fühlt man sich gut unterhalten, doch nicht satt.
Die längeren beiden Geschichten der Sammlung, die immerhin mehr als die Hälfte des Umfangs einnehmen, überzeugen vollständig, die kürzeren Texte wirken- wie von Oliver Henkel auch angekündigt - wie die Rohfassungen zu längeren Romanen, die in dieser oder der anderen Welt irgendwann geschrieben werden. Der grundsätzlich sachliche und detaillierte Schreibstil, sein Gespür und Auge für die Krümmungen der Geschichte und die daraus folgenden Konsequenzen unterhalten auf hohem Niveau auch den Geschichtsmuffel. Die Neuauflage im Atlantis- Verlag ist mit einem schönen Titelbild von Timo Kümmel ausgestattet. Das sorgfältige Lektorat und die Ergänzung um eine, in Henkels Gesamtwerk wichtige Kurzgeschichte macht die Neuauflage auch für Besitzer der als „Book on Demand“ publizierten Erstauflage zu einem empfehlenswerten Kauf.
Titelbild: Timo Kümmel
A5 Paperback, ca. 166 Seiten, ISBN 978-3-86402-106-0
Atlantis Verlag