Sherlock Holmes 47- Entfernte Verwandte

Jürgen Geyer

Jürgen Geyer debütierte mit seinem Roman „Entfernte Verwandte“ in der Sherlock Holmes Reihe des Blitz Verlages.  Das Mitglied der Deutschen Sherlock Holmes Gesellschaft lebt nach dem Motto „Einmal Naumer, immer Naumer“ die Liebe zu seiner Heimat aus.  Am 25.08. 1954 wurde Jürgen  Geyer in Nauheim geboren, er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Der Klappentext des Blitz Verlages ist nicht ganz richtig. Zwar wird ein harmloser Patientenbesuch bei einem langjährigen vermögenden Freund zu einem neuen Kriminalfall für Doktor Watson, aber Sherlock Holmes hat nur wenige Tage vorher schon in einer ganzen Reihe von ähnlich gelagerten Fällen auf Bitten von Scotland Yard die Ermittlungen übernommen. Doktor Watsons Freund reiht sich nur in eine Reihe von älteren, hilflosen und kranken Patienten ein, die spurlos verschwunden sind. Anscheinend hatten diese Menschen meistens in den Krankenhäusern, in denen sie zwischenzeitlich eingeliefert worden sind, Kontakt mit einem netten Anwalt, der ihnen die Hilfe seiner Organisation angeboten hat.

Das Angebot ist verführerisch. Die Organisation sucht nach Verwandten, den im Titel angesprochenen nicht selten „entfernten Verwandten“ und bittet sie, mit den Klienten in Kontakt zu treten, vielleicht auch deren Pflege zu übernehmen und die Haushälter zu unterstützen. Sollte die Organisation erfolgreich sein, wird das potentielle Erbe der Klienten auf die Verwandten übertragen. Der Organisation bleibt nur eine kleine Vergütung, vielleicht auch eine Spende. Sollten keine lebenden entfernten Verwandten gefunden werden, dann fällt das Vermögen nach dem Tod der Klienten komplett an die Organisation.

Allerdings verschwinden die Klienten spurlos. Auch Doktor Watsons Freund gehört zu den Opfern. Es finden sich Spuren von Entführungen. Diese Entführungen reichen allerdings nicht. Immer wenn die Organisation beim Auffinden von entfernten Verwandten – im Fall von Doktor Watsons Freund gibt es sogar Namen und vor allem auch einen entsprechenden Aufenthaltsort – erfolgreich gewesen ist, verschwinden diese Menschen auch spurlos von der Bildfläche. Auch hier zeigen sich Spuren von gewaltsamen Entführungen.

Der Kopf dieser Organisation hat anscheinend Verbindungen zu den Chefärzten wie auch zu den Verbrechern auf den Straßen, die als Handlanger dienen. Sherlock Holmes und Doktor Watsons Bewegungen werden beobachtet. Als dann eine Oberschwester brutal auf dem Krankenhausgelände mit einem Skalpell ermordet wird, sehen sich die Verbrecher im Vorteil. Diese Tat ist aber der Wendepunkt bei Sherlock Holmes Ermittlungen.

Im Vergleich zu den nicht selten aus kürzeren Texten bestehenden anderen Büchern der Reihe mit neuen Fällen Sherlock Holmes präsentiert Jürgen Geyer einen umfangreichen Fall, der trotz dieser Tatsache nichts an Tempo vermissen lässt. Innerhalb weniger Seiten und chronologisch weniger Tage wird die Ausgangsprämisse ermittelt. Verschwundene, wahrscheinlich entführte alte Menschen und ihre Verwandten. Ein geheimnisvoller, charmanter Anwalt und nur wenige Spuren.

Sherlock Holmes und Doktor Watson müssen zweispurig arbeiten. So will Sherlock Holmes, dass sich einer seiner vielen heimlichen Unterstützer aus den Elendsvierteln Londons in die Organisation einschleust, um deren nächsten Schritte zu erfahren. Nach außen müssen Holmes und Watson herausfinden, wer dem Anwalt die entsprechenden Patienteninformationen gibt und ob diese Person alleine handelt. Dabei muss Doktor Watson ausgerechnet im eigenen Berufsstand ermitteln: den Oberärzten in den Krankenhäusern.    

Jürgen Geyer hat einen komplexen, interessanten Sherlock Holmes Roman geschrieben, der auf alle Mechanismen des Kanons zurückgreift. Dunkle Gassen oder Hinterhöfe der Pubs, in denen Sherlock Holmes alternierend in Verkleidung die Handlanger ausspioniert oder in die Falle lockt. Reisen in die Umgebung, in alte Landhäuser, die vor Jahren umfunktioniert worden sind, aber die Atmosphäre von Spukhäusern mit dunklen Kellern ausstrahlen. Zumindest in einzelnen Teilbereichen. Einen Mycroft Holmes, der weniger als Vertreter der britischen Regierung, sondern als Bruder und Helfer bei allen amtlichen Entscheidungen mitwirkt, sich aber nicht dominierend einbringt. Es geht ja nicht um die Sicherheit des britischen Empires, sondern einen perfiden Betrugsplan mit mörderischen Auswirkungen.

Im mittleren Abschnitt gelingt Jürgen Geyer ein interessanter Schlagabtausch zwischen Sherlock Holmes und dem Kopf der Bande. Noch für die Leser namenlos, aber der Kreis der potentiellen Verdächtigen ist klein und Jürgen Geyer folgt der Tradition des britischen Krimis, den Täter immer im hellen Licht der bisher aufgetretenen Charaktere zu suchen. Erst Edgard Wallace wird mit dieser „Tradition“ brechen und die Schurken erst im letzten Moment auftreten lassen. Nicht immer, aber immer wieder.

Sherlock Holmes und Doktor Watson erhalten während der Planung einer gefährlichen Aktion mit Mrs. Hudson als Köder eine schriftliche Warnung, sich nicht einzumischen. Adressiert an die Baker Street , allerdings ohne „b“. Die Gegner ahnen also mehr als das sie wissen. Holmes Plan ist gefährlich und wenn seine Gegner ihre bisherigen Handlungsmuster nicht geändert hätten, wäre es der letzte Fall, an dem Mrs. Hudson begeistert zu Gunsten der Gerechtigkeit mitgewirkt hätte. Es ist wahrscheinlich die größte Schwäche des ganzen Buches, denn Jürgen Geyer kann den Kanon nicht wirklich verlassen. Mrs. Hudson darf nicht sterben, sie wird auf Holmes Altersitz in Sussex noch gebraucht. Effektiver wäre es gewesen, eine Freundin von Mrs. Hudson in Gefahr zu bringen,. Die Täter haben mehrmals gezeigt, dass sie keine Rücksicht nehmen und Menschen, die ihren Plänen im Weg stehen, auch töten. Als Warnung. Für Sherlock Holmes ist es aber der finale Hinweis hinsichtlich des Täters.

Auf einer gänzlich dunklen Note will Jürgen Geyer seinen Roman allerdings nicht enden lassen, wie der lange „Abspann“ zeigt.

Unabhängig von dem nur pragmatischen Spannungselement der sich in Gefahr begebenden Mrs. Hudson folgt Jürgen Geyer positiv den etablierten Rahmenbedingungen. Im Gegensatz zu den vielen kürzeren Texten anderer Ausgaben dieser seit einigen Jahren im Blitz Verlag erscheinenden Reihe mit neuen Fällen Sherlock Holmes hat Jürgen Geyer ausreichend Platz, um die Geschichte zu entwickeln. Nicht jede Ermittlung führt gleich einen Schritt weiter. Dazwischen gibt es immer wieder Rückschritte, wobei eine Reihe von wichtigen Hinweisen Sherlock Holmes durch einen angeheuerten Vertrauten überbracht werden. Diesem fließen die Informationen vielleicht einen Tick zu leicht zu.

Sherlock Holmes muss den unterschiedlichen Spuren schließlich zum Ausgangspunkt folgen. Einige Hinweise wie den zehn Prozent Verrat und die entsprechende Bestrafung durch den narzisstischen Bandenanführer ermittelt er selbst. An anderen Stellen agiert er eher intuitiv und fügt die ihm von Mycroft Holmes überbrachten Informationen effektiv zusammen. Trotz des Umfangs weist die Geschichte nach der Etablierung der Ausgangslage ein relativ hohes Tempo auf. Das Holmes sich hinsichtlich des Köders möglicherweise auf ein ganzes Jahr des Wartens vorbereitet, scheint eher eine literarische Ablenkung zu sein. Zu schnell und zu stringent entwickeln sich die Ereignisse.

Am Ende laufen alle Spuren auf dem Lande zusammen. Jürgen Geyer entwickelt noch einmal einen spannungstechnischen Hintergrund, welcher den schon angesprochenen Mechanismen des Genres/ des Kanons geschuldet sich nicht voll entfalten kann. Die Rettung erfolgt natürlich in letzter Sekunde und ermöglicht Sherlock Holmes, die verbliebenen Bandenmitglieder mit ihren Verbrechen zu konfrontieren. Erstaunlicherweise spiegelt sich das nur bedingt im Epilog wider, wo die Verhältnismäßigkeit bei einigen Urteilen hinterfragt werden muss. Aber durch die Zusammenfassung und Ausführung der einzelnen Verbrechen, die Sherlock Holmes während seiner Ermittlungen Doktor Watson stellvertretend für den Leser offenlegt, schließt sich das Bild zufriedenstellend und vor allem überzeugend ab. Im Vergleich zu einer Reihe anderer Autoren dieser Buchreihe ist Jürgen Geyer nicht auf Zufälligkeiten angewiesen und jede Aktion Sherlock Holmes – egal ob verkleidet oder direkt agierend – forciert eine mehr und mehr überstürzt wirkende Reaktion seiner Gegner, so dass der Leser den Ermittlungen immer auf Augenhöhe folgen kann. Das ist eine der Stärken der hier vorliegenden Geschichte.

Als Mitglied der Sherlock Holmes Gesellschaft und damit auch ausgesprochener Fan des Kanons, zollt Jürgen Geyer den Helden entsprechend Respekt, ohne wirklich zu erstarren. Sein Doktor Watson ist ein wichtiger Helfer, aber kein plumper Stichwortgeber. Er ist persönlich durch den Tod eines alten Freundes betroffen. Sherlock Holmes ist eloquent, dynamisch und engagiert, aber wirkt weniger arrogant und selbstverliebt als in einigen anderen neueren Kanon Geschichten. Wie schon mehrfach erwähnt, ist sein Handeln von der Fähigkeit der Beobachtung und damit der Deduktion bestimmt und nicht dem bei einigen Autoren gerne genommenen Zufall bestimmt. Das gibt der Geschichte unabhängig von dem wirklich perfiden und in der Theorie perfekten Plan der Verbrecher auch eine wohlige Tiefe, um dem Geschehen zu folgen.

„Entfernte Verwandte“ – der Titel ist fast zynisch gewählt – ist eine überdurchschnittliche Sherlock Holmes Geschichte, geschrieben mit einem profunden Hintergrundwissen des Autoren, dem schon angesprochenen gut durchdachten Plan und einer überzeugenden Balance aus Hintergrund sowie Ermittlungsarbeit. Da fallen die wenigen angesprochenen Schwächen nicht so sehr ins Gewicht.       

Taschenbuch, 256 Seiten

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