Der langjährige Herausgeber des Sherlock Holmes Magazins Jens Arne Klingsöhr hat vor einigen Jahren den Elms & Oaks Verlag gegründet, in welchem zuerst seine umfangreiche „Sherlock Holmes in der Literatur“ inklusive des Ergänzungsbandes in einer limitierten Auflage publiziert worden ist. In den Folgejahren erschienen drei Bände mit Kurzgeschichten und jetzt die Neuauflage einer inzwischen vergessenen Mark Twain Geschichte“ Sherlock Holmes- eine zweigleisige Detektivgeschichte“. Jens Arne Klingöhr geht ein wenig auf Mark Twains Abrechnung mit dem britischen Detektiv und die bisherige Publikationsgeschichte dieser kurzen Novelle ein. Dabei räumt der Herausgeber ein, dass es sich nicht um Mark Twains bestes Werk handelt, der Amerikaner zu dieser Zeit chronisch knapp bei Kasse gewesen und seine Anwaltstätigkeit noch nicht wieder aufgenommen hat.
Es ist aber nicht der erste Versuch, vom Sherlock Holmes Boom aus Großbritannien zu profitieren. Einige Jahre vorher verfasst Mark Twain mit „Tom Sawyer als Detektiv“ den ersten Kinderkrimi mit Tom Sawyer als Sherlock Holmes Imitation und dem Freigeist Huck in der Rolle Doktor Watson. Die amerikanische Presse ging mit Mark Twains Versuch, seinen beiden Protagonisten neue Mäntel überzustülpen, nicht sonderlich nett um. Es war auch nicht der letzte Versuch, andere erfolgreiche Autoren zu imitieren. „Tom Sawyer im Ausland“ ist eine leicht zu erkennende Kopie der Jules Verne Abenteuer, die ebenfalls nach und nach in den amerikanischen Literaturmarkt eindrangen.
Sechs Jahre nach dem missglückten ersten Detektivroman folgte Mark Twains Abrechnung mit Sherlock Holmes, dem er sogar den Tod auf dem Scheiterhaufen wünschte. Der ersten Publikation bei Harper & Brothers waren sieben Illustrationen von Lucius Hitchcock beigefügt. Alle Zeichnungen finden sich neben einem kurzen Lebenslauf im Anhang dieses liebevoll gestalteten Bändchens. 1903 folgte die erste deutsche Veröffentlichung der Geschichte als Band 28 der Reihe „Amerikanische Detectiv- Romane“ im Verlag Jacobsthal. Vier Jahre später wurde der Text als eine Art Doppelband mit einer anderen, Sherlock Holmes unabhängigen Geschichte bei Gustav Kühne nachgedruckt. Der deutsche Titel ließ den Hinweis auf Sherlock Holmes im Titel aus und präsentierte den Text als „Des Treulosen Ende – eine doppelläufige Detektivgeschichte“ mit Sherlock Holms als Helden, wie Herausgeber Jens Arne Klingsöhr in seinem ausführlichen Vorwort herausarbeitet. Mark Twain hat den Namen des britischen Detektivs richtig geschrieben, ihm aber einen Schnurrbart verliehen. Der Hinweis auf den Originaltitel „A Double Barrelled Detective Story“ zieht sich bis zur letzten Veröffentlichung als Privatdruck mit einer Auflage von 25 Stück im Jahre 2008 durch die deutsche Publikationsgeschichte.
Der Titel ist in mehrfacher Hinsicht richtig. Es gibt zwei unterschiedliche Detektive in dieser Story. Neben Sherlock Holmes ist es Archy Stillman. Es gibt auch zwei Rachegeschichten, die schließlich ein wenig konstruiert zusammenlaufen. Und als Erzähler greift Mark Twain nicht nur auf den Brief seiner Mutter schreibenden Archy Stillman zurück, der an keiner Stelle mit Sherlock Holmes generellen Gefährten Doktor Watson verwechselt werden darf, sondern auch auf Sam Clemens alias Mark Twain selbst, der die vierte Wand zum Leser durchbricht und während der ursprünglichen Veröffentlichung als Serial auf Leserbriefe einging und einige der eigenen vorher veröffentlichten Kurzgeschichten ironisch kommentierte.
Der erste „Rachepfad“ ist deutlich komplexer als das perfide Verbrechen in der Mitte des zweiten Teils. Eine junger Frau wird von ihrem Ehemann misshandelt, weil der Schwiegervater ihn nicht anerkennt. Diese seelische und körperliche Folter endet schließlich mit der spärlich bekleideten Frau, an einen Baum gefesselt und ausgepeitscht. Jacob Fuller flieht schließlich und lässt seine Frau schwanger zurück. Sie nennt ihren Sohn Archy Stillman, der über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügt. So kann er wie ein Bluthund riechen. Mit sechszehn Jahren erhält Archy Stillman den Auftrag, die Spur Jacob Fullers aufzunehmen und seine Mutter zu rächen. Er beginnt in Denver eine Propagandakampagne und treibt den dortigen Jacob Fuller einmal um die Welt vor sich her.
Mit dieser in den Briefen an die Mutter zusammengefassten Jagd um die Erde – ein Motiv, das Robert Kraft in vielen seiner Kolportageromane eher benutzt hat als Doyle in seinen Sherlock Holmes Geschichte – endet der erste Teil der Geschichte.
Im zweiten Teil führt Mark Twain mit Fetlock Hones, dem Neffen des berühmten Sherlock Holmes, einen neuen Charakter ein. Fetlock Jones wird von seinem Herrn und Meister Flint Buckner gequält. Er beschließt, Flint Buckner zu töten. An dem Tag, an dem er seinen Plan umsetzen möchte, trifft Sherlock Holmes überraschend in der kleinen Bergarbeitersiedlung ein. Fetlock Jones beschließt – wie in den Detektivgeschichten gelernt – die Tat trotzdem umzusetzen und den Detektiv möglichst nahe bei sich zu behalten. Nichts ist sicherer.
Zusätzlich verschafft sich Fetlock Jones ein doppeltes Alibi.
Der Leser ist im Gegensatz zu Sherlock Holmes oder Archy Stillman zumindest in Teile des Plans eingeweiht und kennt auch den Täter. Das unterscheidet diese Geschichte von den klassischen Sherlock Holmes Storys und ermöglicht es Mark Twain, mit Doyles bzw. Sherlock Holmes Vorgehensweise der Beobachtung und damit der Deduktion abzurechnen. In einer Szene persiflieren drei heimliche Beobachter gegenüber von Sherlock Holmes Hotelzimmer das affektierte Verhalten des britischen Detektivs, in dem sie sich gegenseitig sinnlose Fragen stellen und noch bizarrere Antworten geben. Genau diese Vorgehensweise wird während des vorläufigen Finals in der örtlichen Kneipe sinnbildlich für Sherlock Holmes falsche Schlüsse sein. Auch hier stellt der Detektiv sich selbst fragen, sammelt „Beweise“ und kommt zur Überzeugung, den Täter aus der Gruppe von Mienenarbeiter herausfinden zu können. Allerdings belastet er – wie der Leser weiß – den falschen Mann mit den falschen Vermutungen.
Archy Stillman greift ein und kontert Sherlock Holmes Thesen mit einer Mischung aus überlegenem Intellekt, Beweissicherung vor Ort und schließlich seinem überdurchschnittlichen Geruchssinn, da der Täter ja eine gewisse Zeit sich am Ort aufgehalten haben muss. Weiterhin stellt Mark Twain diesen Sherlock Holmes noch einmal bloß, indem er ihn zum Mittäter werden lässt. Damit könnten die Grenzen der Parodie bzw. Satire überschritten werden, aber diese literarische Vorgehensweise gehört zu Mark Twains bitterbösen Plan, Sherlock Holmes als Schreibtischermittler ohne Gespür für die Realität zu entlarven.
Vielleicht überspannt Mark Twain abschließend den Bogen, in dem er Sherlock Holmes noch einmal durch eine Gruppen von Banditen in Lebensgefahr bringt, der sich dieser Detektiv allerdings stoisch und in der Tradition Arthur Conan Doyles stellt. Das wirkt angesichts des Zusammenlaufens der beiden Rachegeschichten mit einem einzigen Mord überzogen. Hier hebt Mark Twain den finalen Vorhang wieder in Form eines Briefes an die Mutter. Der Gerechtigkeit ist in mehrfacher Hinsicht Genüge getan und wie bei Arthur Conan Doyle ist zumindest hinsichtlich des Mörders Mark Twain wichtiger, das der Schurke bestraft und der Täter nicht unbedingt verurteilt wird. Auch Sherlock Holmes hat manchen „Verbrecher“ angesichts der Hintergründe der jeweiligen Taten nicht Scottland Yard überstellt.
Im Gesamtkontext von Mark Twains Werk handelt es sich um eine interessante Variation einzelner Themen, die der Amerikaner schon in „A Connecticut Yankee in King Arthur´s Court“ angefangen hat. Ein durchschnittlicher Amerikaner – allerdings mit dem Wissen der Zukunft – demontiert britische Heldenideale. Auch Sherlock Holmes muss sich einem amerikanischen Jungen beugen, der allerdings ohne seinen Bluthund Geruchssinn nicht erfolgreich gewesen wäre. Mark Twain überspannt den Bogen, in dem er in dem kleinen Mienenarbeitercamp mit einer wirklich „goldenen“ Zukunft Charaktere mit Namen Ham Sandwich oder Wells Fargo platziert. Aber das ist eher eine Randnotiz. Generell geht es dem Amerikaner um eine nicht mal bitterböse, sondern ironisch überzeichnete Satire auf das kommerziell sehr erfolgreiche Genre der Detektivgeschichten, von den Sherlock Holmes ja der bekannteste Protagonist dieser Ära gewesen ist. Diese Abrechnung mit aus Mark Twains Sicht konstruierten Geschichten ist anfänglich erfolgreicher als hinsichtlich des übertrieben konstruierten Endes, liest sich aber mehr als einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung mit der entsprechenden Distanz immer noch kurzweilig. Nicht nur in dieser Hinsicht ist die liebevoll gestaltete, limitierte Ausgabe eine Anschaffung wert.
Hardcover
112 Seiten
Privatdruck
https://sherlockholmesmagazin.wordpress.com/elms-oaks/
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