Mit „Im Königreich Nirgendwo“ fasst der Verleger Dieter von Reeken nicht nur die 33 Zukunftsnovellen bzw. romantischen Science Fiction Geschichten Carl Grunert in einer mit einem schönen Titelbild ausgestatteten gebundenen Gesamtausgabe zusammen, sondern fügt die bislang nicht erfassten bzw. in den original Sammlungen nicht enthaltenen Geschichten „Das weiße Rätsel“, „Der Ätherseelenmensch“ und „Das Phonogramm von Pompeji“ hinzu. Weiterhin werden in dem umfangreichen Band auch die Gedichtsammlung „Schlechte Gedichte“ (1887), „Was die Stunde sprach“ (1907), „Nachlese“ (1909), „Lieben und Leben“ (1910) sowie „Aus meiner Welt“ (1911) zusammen. Mit 679 Seiten Umfang und 71 Abbildungen.
Der 1865 geborene Carl Grunert hat sich zwar Zeit seines kurzen Lebens – er stark 1918 drogensüchtig – als Jules Verne Fan bezeichnet, aber einige seiner Kurzgeschichten, die in der 1908 veröffentlichten vierten und letzten Sammlung „Der Mars Spion“ publiziert worden sind, sind voller Anspielungen auf H.G. Wells, bzw. intellektuell verspielte Fortsetzungen der markantesten wissenschaftlichen Romanzen des Briten. Die ersten drei Geschichten dieser Sammlung – „Der Marsspion“, “Pierre Maurignacs Abenteuer“ und „Das Ei des Urvogels“ – sind literarische Umsetzungen und Interpretationen klassischer Werke H.G.Wells. So fabuliert „Der Marsspion“ im Grunde die Vorgeschichte zu
„Kampf der Welten.“ Neben der realen Sternwarte Flagstaff in Arizona treten zwei reale Wissenschaftler –Forscher und Assistent – auf. Wie Wells selbst deutet Grunert sein Wesen vom roten Planeten nur an. Interessant ist der wissenschaftlich-technische Kern der Geschichte, in welchem sich die beiden Forscher ob der Quantensprünge in der Fotographie und Teleskoptechnik gegenseitig loben, um dann die Kehrseite dieser Goldmünze zu erkennen. Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren seine Seite legt Grunert Wert, seine Geschichten auch durch Dialoge und nicht nur Beschreibungen fortzuentwickeln. Auch heute noch liest sich der Text als Mischung zwischen Gruselgeschichte und Urform der Invasionsgeschichten unterhaltsam kurzweilig und könnte eine interessante Abendlektüre zusammen mit H.G.Wells Roman in werktreuer Neuübersetzung oder im Original bilden. Stellte „Der Marsspion“ noch eine Vorgeschichte zum „Kampf der Welten“ dar, ist die humoristisch angehauchte und in einer Parodie auf das elisabethanische Englisch geschriebene Novelle „Pierre Maurignacs Abenteuer“ eine Fortsetzung der „Zeitmaschine“. H.G. Wells taucht zumindest telegraphisch in seiner Funktion als Autor des Romans „Die Zeitmaschine“ ebenfalls auf. Der junge Tüftler Pierre Maurignac erhält von seinem Schwager in spe eine Maschine geschickt, die dieser in der nähe eines Wracks auf dem Grund des Kanals gefunden hat. Mit viel Elan reinigt er diese seltsame Maschine, kann sich aber die Funktion nicht erklären. Von seiner Verlobten herausgefordert spielt er an den Hebeln herum und landet in der fernen Vergangenheit bei den Höhlenmenschen und wird von einem wilden riesigen Braunbären bedroht.
Konsequent setzt Grunert in dieser vergnüglichen, wenn auch hektischen Geschichte H.G. Wells Zukunftsvisionen Spiegel verkehrt um. Eines der bekanntesten Werke Kurd Laßwitzs ist „Homchen- das Märchen aus der Kreidezeit“ und vielleicht ist es deswegen so faszinierend, wie Grunert sein literarisches Vorbild – Kurd Lasswitz- mit seinem stetigen Quell literarischer Variationen –H.G.Wells- zu einer gekonnten Hommage verbindet. Die Zeitreise an sich ist von Grunert ebenso erhaben und fremdartig beschrieben worden wie in der Originalfassung, die Situationen ähneln sich fast. In beiden Fällen dient eine Höhle als Gefängnis – im Originalroman wird der unbekannte Reisende nach dem letzten Krieg eingeschlossen – und hier steht die Höhle für die unvergängliche Ewigkeit. Der Zeitreisende in der Originalfassung findet in ferner Zukunft eine neue Liebe, Grunerts Held wider Willen kehrt zu seiner Verlobten zurück. Beiden glaubt man ihre Reisen nur widerwillig und während H.G.Wells Charakter keinen Beweis vorlegen kann, zeugen eine Tätowierung – eine schwache literarische Erklärung- und Höhlenmalereien, die Ähnlichkeit mit dem Fremden haben, von der Wahrheit.
Auch die Idee, H.G. Wells als literarische Stimme in diese fiktive Geschichte einzubauen, muss zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf enorme Resonanz gestoßen sein. Nach einer Reihe ähnlicher Ideen und Filme wirkt dieser Einschub inzwischen abgenutzt, aber der Leser sollte sich gedanklich mit auf die Zeitreise begeben und sich vorstellen, wie diese Geschichte in der utopischen Literaturwüste des Jahres 1908 gewirkt hat.
Stilistisch lehnt sich Grunert hier deutlich an den epochalen, erhabenen Stil des Originalromans mit seiner unglaublich weitreichenden Dimension an. Auch die Idee, die Vergangenheit zu untersuchen und dabei auf primitive, hilfsbereite Vorfahren des Menschen in ihrem täglichen Überlebenskampf zu treffen, ist eine auch heute noch lesenswerte, wenn auch nicht mehr intellektuell fordernde Weiterentwicklung des ursprünglichen Konzeptes. Während „Der Marsspion“ eine stimmungsvolle Einführung in das ursprüngliche Werk Wells darstellt, wird diese kleine Geschichte durch andere Fortsetzungen der Zeitmaschine – siehe Stephen Baxters „Die Zeitschiffe“ – unverdient an den Rand gedrückt.
Die letzte offensichtliche Verbeugung vor H.G. Wells ist die Kurzgeschichte „Das Ei des Urvogels“ mit Bezügen zu der Kurzgeschichte „Das Kristall-Ei“. Ein weltfremder Professor erhält eine Felsplatte, in der sich das Ei eines Archäopteryx befindet. Mit Mühe entringt er dem Stein unversehrt das Ei und entschließt sich, es in den Brutofen zu stecken, um die urzeitliche Kreatur wieder zum Leben zu erwecken und das Tier aus zu brühten. Dabei versteift er sich in dieser Aufgabe und entfremdet sich mehr und mehr von seiner Umwelt. Die verzweifelte Haushälterin sucht einen befreundeten Arzt auf. Gemeinsam fällt ihnen durch einen Zufall die Lösung in den Schoß.
Die Geschichte lebt in erster Linie vom Protagonisten Professor Diluvius, einem typischen Vertreter der weißbärtigen Lehrerkaste, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben und nur noch in den theoretischen Welten ihrer Forschungen leben. Mit einem vergnügten Augenzwinkern karikiert er diese absonderliche Gattung Mensch in dieser leichten Geschichte.
Wie die beiden folgenden Geschichten gehört diese Erzählung in den Bereich der „Scienes Romances“, deren wissenschaftlicher Inhalt oft nur Katalysator oder Endpunkt für zwischenmenschliche romantische Beziehungen ist. „Das Ei des Urvogels“ sind die dann die kennzeichnenden Dreierbeziehungen noch platonisch und mit guter Absicht, einen Menschen von seinem scheinbaren Irrglauben zu befreien. In den beiden nächsten Geschichten beschreibt Carl Grunert die Schwierigkeit von Frauen und Männern, den „richtigen“ Partner zu finden, zu halten oder davon zu überzeugen, sich zu seinen/ihren Gefühlen zu bekennen.
In Bezug auf Jules Verne hat Carl Grunert in „Ballon und Eiland“ –eine direkte Würdigung verfasst. Die beiden Inspirationen – „Die geheimnisvolle Insel“ und „Die Abenteuer des Kapitän Harretas“ – werden von einem der weiblichen Gestrandeten erwähnt. Vorher beschreibt Grunert das Schicksal von insgesamt neun Menschen, die auf einer Weltausstellung abends in einen der Heißluftballone steigen und von einem aufkommenden Hurrikan auf das Meer abgetrieben werden. Auf einem abgeschiedenen Eiland landen sie Not und müssen fortan ihr Wissen und ihr natürliches Gespür vereinen, um zu überleben.
Besonders die erste Hälfte der Geschichte besticht durch eine Reihe von interessanten Ideen. Während in Jules Verne Vorlage die Flüchtlinge aus einem Gefängnis fliehen, besteigen hier die zukünftigen Nachfolger Robinsons in einer Weinlaune trotz des aufkommenden Unwetters den Ballon. Die Weltausstellung – Synonym für den Pioniergeist des Menschen und seine Erfindungsgabe – muss sich den Naturgewalten beugen.
Als sie schon mehrere Tage über das Meer getrieben worden sind und die opulenten Vorräte zu Ende gehen, möchten sie zwei Menschen opfern, den Ballon verlassen und an Stricken verbunden unter dem Gefährt dahin schwimmen, um dessen Ballast zu vermindern. Die erste Freiwillige ist eine Frau! Kurz bevor ihre Kräfte endgültig schwinden, entdeckt die Gruppe Land und kann auf der Insel notlanden. Hier schaffen sie es aufgrund Ihrer Fähigkeiten und der routinierten Anleitung der Frauen lange Zeit zumindest ein Auskommen zu haben. Erst gegen Ende der Geschichte entreißt ihnen eine Springflut ihr Hab und Gut.
Wie bei einigen anderen Texten dieser Sammlung hat der Leser den Eindruck, dass Grunert mit mehr Geduld und der Ambition, einen Roman zu schreiben, aus den Ideen viel mehr herausgearbeitet hätte. Kaum ist die Gruppe in lebensbedrohlichen Schwierigkeiten, rettet sie ein deutsches Forschungsschiff. Wahrscheinlich weniger eine Anspielung auf den vorherrschenden Patriotismus – dann hätte eine der Frauen nicht „home, sweet, home“ gesungen, sondern ein deutsches Volkslied – als Ausdruck des Stolzes auf die Errungenschaften der deutschen kleinen Flotte, die mutig in ferne Regionen vordringt. Im Gegensatz zu dem utopisch gefärbten Jules Verne Roman wirft Carl Grunert in dieser abenteuerlichen, aber nicht phantastischen Geschichte mit Erklärungen um sich. Jules Verne hatte die fast einmalige Fähigkeit, sein Wissen unterhaltsam unter seinen Lesern zu verbreiten, Carl Grunert schweift zu sehr ab und belehrt sein Publikum. Auch wirken die einzelnen Figuren pomadig und eingebildet, es kommt selten das Gefühl einer echten Bedrohung auf. Trotzdem übernehmen in erster Linie die Frauen das Kommando und ordnen die Situation, während die in der Minderzahl vorhandenen Männer sich um Zigaretten und schließlich die letzte Flasche Wein kümmern. Das steht in krassen Gegensatz zu Jules Vernes Werken, dessen Schwächen es gewesen ist, wirklich überzeugende weibliche Charaktere zu erschaffen.
Die zum Teil weitschweifigen Erklärungen ermüden in einer rudimentär vorhandenen Handlung und der Autor reiht nur eine Szene an die Andere. Viele dieser Episoden sind unterhaltsam, aber im Vergleich zum ursprünglichen Roman von Dafoe wirken sie statisch.
Ein boshafter Leser wartet auf den übermächtigen Regisseur, der die ganze Inselexpedition zur Unterhaltung der Gruppe inszeniert und alle Schritte überwacht hat.
Es gibt aber auch sehr viele Bezüge zu Kurd Laßwitzs Arbeiten, die Dieter von Reeken in den letzten Jahren in mühevoller wie minutiöser Detailarbeit in einer zwanzigbändigen Kollektion neu veröffentlicht hat.
So findet sich die lyrische Würdigung des labilen Grunerts an Kurd Lasswitz. Darin beschreibt er, wie „Auf zwei Planeten“ ihn förmlich aus der Depression seiner Krankheit motivierte, eigene Geschichten zu schreiben. In Kurzform beschäftigt er sich mit Lasswitz vielschichtigen und später esoterischen Werk. Die Wirkung, die Lasswitz mit seinem Bahnbrechenden Werk auf eine Reihe von deutschen Phantasten gehabt hat, lässt sich in der näheren Vergangenheit nur mit George Lucas „Krieg der Sterne“ vergleichen. In „Scarlatina“ („Fiebertraum“) erkrankt eine Familie an einem schweren Fieber und der Vater erträumt sich in den eigenen Körper, um die Infektionskeime zu bekämpfen. Der Text wirkt aus heutiger Sicht unruhig. Carl Grunert bemüht sich, außerhalb des klassischen Rahmens den Kampf im Körper wissenschaftlich korrekt, schriftstellerisch effektiv und kompakt zu beschreiben. Das er den verschiedenen Blut- und Antikörper Dialoge schenkt, wirkt aus heutiger Sicht zweifelhaft und stilistisch unbeholfen. Das Ende der Story signalisiert er schon in seinem Aufbau und ihm gelingt es nicht, an die esoterisch philosophischen Gedankenmodelle Lasswitz heranzureichen. Schon in seiner Widmung zählt er die unterschiedlichen Strömungen in Lasswitz Romanen auf und versucht dessen thematische Reichhaltigkeit in einer Reihe von Geschichten zu erreichen. „Scarlatina“ stellt allerdings einen interessanten Gegensatz zu den bislang eher technologisch orientierten und romantischen Geschichten dar. Wenn Grunert den Text mit einem auf die schnelle Genesung der Kinder beendet, spricht auch ein bisschen Neid aus seinem geschwächten Körper.
Aber auch als eigenständiger Autor in einer für die damalige eher technologisch orientierte deutschsprachige utopische Literatur ungewöhnlichen Nische als Romantiker etablierte sich Carl Grunert.
Obwohl „Mysis“ in seiner Konzeption – der Protagonist begegnet nachts einem leuchtenden Irrlicht – zunächst an Kurd Lasswitz erinnert, etabliert sich Grunert hier als eigenständiger Autor, der die Idee der Invasion aus dem All – anders als in „Der Marsspion“ mit ihrer Hommage an H.G. Wells - in einem sehr fließenden Stil mehr angedeutet als realisiert erzählt. Die Irrlichter stellen sich als Außerirdische heraus, die mit Hilfe einer chemischen Formel in ihrer Verkleidung sich der jeweiligen Umgebung anpassen können. In dieser Konzeption mit der Verschmelzung von Traum und Realität wirkt die Geschichte über weite Strecken wie ein modernes Märchen, bevor Carl Grunert in einem klassischen Showdown die Fremden zwar entlarvt und tötet, sich aus die Situation für die Erde allerdings mehr Fragen als Antworten ergeben. Am Ende verbindet er das Phänomen des Unsichtbarseins dann mit der seltenen Tarnfähigkeit einer Krebsart, stört eher als das es dem Leser hilft. Diese Verbindung kommt zu spät und wirkt wieder seltsam belehrend. Es wäre besser gewesen, die wissenschaftliche Anmerkung in Form einer indirekten Note – Artikel oder Schulbuch – an anderer Stelle zu bringen.
„Das Ende der Erde?“ ist klassischer Stoff, auch wenn der Leser zu erst an eine Fortsetzung von „Mysis“ mit dem unsichtbaren Himmelskörper denkt. Diese Geschichte hätte eine Fortsetzung verdient. Nachdem die Nachrichten durchgesickert sind, beschreibt Grunert in kompakten Bildern die weltweite Panik, die Hilflosigkeit der Politiker und Wissenschaftler und das Zusammenbrechen aller etablierten Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme. Ein Wissenschaftler findet in dieser hektischen Situation Zeit, sich um seine Frau zu kümmern und allen zu zeigen, dass man selbst in dieser Situation Mensch bleiben muss. Das obligatorische Ende wird von der Mutter Erde abgewandet. Diese hier in Form eines Artikels präsentierte Erklärung wirkt konstruiert und zeigt, dass Grunert manchmal jegliche Wissenschaft zugunsten eines interessanten Plots über Bord werfen konnte. Die Bezüge zu Darwin und das die Mutter Erde sich selbst und damit den Menschen retten kann, unterstreichen das damalige Weltbild vom Mensch als Krone der Schöpfung. Wahrscheinlich wäre es für Grunert unbegreiflich, dass die Erde sich auch vom Menschen säubern kann und die darwin´sche Lehre weiter bestehen würde. Die Geschichte wird durch die Kombination verschiedener Erzählebenen – Dialoge, indirekte Erzählung und schließlich Artikel, Telegramme und Überschriften – aus technischer, schriftstellerischer Sicht sehr interessant gestaltet und überzeugt trotz der Komplexität seines Handlungsrahmens bis auf das unbefriedigende Ende. Das „Unterseetelephon-Amt“ ist eine von insgesamt drei längeren Geschichten und könnte zumindest in ihrer Konzeption Hans Dominik, aber auch Curd Siodmak beeinflusst haben. Letztere lieferte knappe drei Jahre später die Idee einer Flugplattform mitten im Atlantik – „F.P.1 antwortet nicht“ - , auf der Hans Albers landen konnte. Hier handelt es sich um eine Unterwasserschaltstation, die die Neue Welt mit Europa verbindet. Kupferkabel sind auf dem Grund des Meeres verlegt worden, um zumindest in den vorgegebenen Regionen Telefonieren zu können. Die technische Entwicklung kam von den Amerikanern und Deutschen, dank der hervorragenden Unterseeboote der Franzosen – der deutliche Hinweis auf Jules Verne – ließ sich dieses Vorhaben realisieren. Nur die Engländer – der Erzfeind des Kaiserreiches – verfolgte egoistisch weiter seine ältere Technik. Sechs Beamte dienen in Schichten auf dem Grund des Meeres und werden regelmäßig von einem Frachtschiff namens „Telephon“ aus Bremen versorgt. Der letzte Neuankömmling ist der junge Emdner, der diese Aufgabe nicht nur als Karriereschritt, sondern vor allem als ersten Schritt im Rahmen der Liebe ansieht. Seine Angebetete ist die Tochter des Direktors. Als durch eine Verkettung unglücklicher Umstände das Versorgungsschiff ausbleibt und man feststellt, dass die Reservekanister an Bord leer sind, ist es Emdner, der schließlich die Situation rettet.
Dagegen ist „Gefangener Sonnenschein“ eine dieser romantischen Erzählungen, deren phantastischer Gehalt ausschließlich dazu dient, die beiden sich liebenden Menschen trotz aller Unbill zu vereinen. Der junge Student Heinz liebt Elisabeth, die Tochter eines angesehenen Professors. Da Heinz diesem aber bei einer These widerspricht, unterbindet er die Verbindung zu seiner Tochter. Diese willensstarke Frau unterbricht zwar den Verkehr mit dem verzweifelten Mann, liebt ihn aber weiterhin. Auf einer Forschungsreise nach Norwegen begegnen sich die beiden wieder. Dazu gesellt sich ein aufdringlicher Kaufmann aus Hamburg, der offen um Elisabeth zu werben beginnt. Heinz sieht seine einzige Chance, entweder den Widerspruch zu den Forschungen von Elisabeths Vater zu begründen oder auf eigenem Wege zum gleichen Ergebnis zu kommen. Die Romanze ist aus heutiger Sicht steif, wenn es Grunert aber auch gelingt, die wahren und schmerzhaften Gefühle Heinz gegenüber Elisabeth, die er liebt und die ihn aus niederen Gründen abweist, in eloquente Worte zu fassen. Mit sanftem Lächeln verfolgt der Leser die kaiserliche Etikette und mancher Leser beiderlei Geschlechts wird froh sein, nicht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts geboren zu sein.
Die wissenschaftlichen Elemente – man sucht eine Quelle künstlicher Energieerzeugung, die der Kraft der Sonne entspricht, beschränken sich auf einige Fachsimpelei zu Anfang und im Mittelteil der Geschichte und dann auf die Förderung/ Forschung in einem abgeschiedenen Bergwerk in Norwegen. Dabei kommt keine Spannung auf, die Theorie überdeckt jegliche Aktion. Selbst die obligatorische Katastrophe auf Ende der Geschichte wird nur indirekt wiedergegeben. Im Gegensatz zu vielen anderen utopischen Autoren seiner Zeit kommt Grunert zur Erkenntnis, dass wahre Liebe wichtiger als Ehre ist. Interessant ist auch, dass sich die ungestüme Jugend vor der Erfahrung des Alters verbeugt und deren Errungenschaften ehrt. Sie dienen als Grundlage für den zukünftigen technologischen Fortschritt, den allerdings die jungen Wilden schultern müssen. Wie stark Grunert von drahtloser Telegraphie und der zeitlosen Übertragung von Nachrichten über weite Strecken fasziniert gewesen ist, unterstreicht die dritte Novelle der Sammlung Auf den Schwingen des Weltäthers“. Auf dem Prinzip des jungen Italieners Marconi basierend hat ein junger deutscher Wissenschaftler eine Nutzung des Äthers als Grundlage zur gerichteten Nachrichtenübertragung entwickelt. Seine neuste Station liegt auf Rügen, wo ihn ein Studienfreund mit dessen bezaubernder Schwester besucht. Die beiden verlieben sich ineinander. Dabei erfährt der Bruder, dass seine Schwester sich schon mit einem jungen Beamten verlobt hat. Dieser aufstrebende junge Mann ist ausgerechnet der Untergebene des Wissenschaftlers. Parallel bricht der Kontakt zur Station in den Kolonien Deutsch-Ostafrikas ab. Anscheinend stören englisch-amerikanische Gesellschaften – siehe hier den Kontrast zur ersten Geschichten der Sammlung – bewusst oder unbewusst die Übertragung. Nachdem eine neue Methode zur Datenübertragung zumindest vorläufig funktioniert, soll der junge Beamte zum Kilimandscharo für drei Jahre versetzt werden, um dort eine neue Technologie einzubauen. Zum Entsetzen seiner Verlobten.
Wieder verbindet Grunert eine klassische und klischeehafte Liebesgeschichte mit dem technologischen Fortschritt. In der ersten Hälfte der Geschichte erläutert der junge Wissenschaftler auf mehreren Seiten seine Erfindung und spricht über die junge Frau und dessen Mutter die Laien unter seinen Lesern direkt an. Die beiden Frauen dienen als Resonanzkörper. Wie in „Gefangener Sonnenschein“ wirkt die Liebesgeschichte unbeholfen, doch der Leser muss sich vorstellen, dass Grunert den Mut hat, seinem sehr intelligenten, aber in Liebesdingen unerfahrenen jungen Wissenschaftler eine weiche, romantische Seite zu schenken. Dieser Kontrast zu seinen Forschungen rundet die Persönlichkeit ab. An zwei Stellen finden sich wieder Gedichte, einmal exemplarisch für die Ewigkeit aufgezeichnet, ein weiteres Mal als Ausdruck der starken Gefühle des Mannes gegenüber seiner Angebeteten. Was heute eher kitschig wirkt, entsprach der damaligen Zeit. Die grundlegende Akzeptanz der damaligen Konventionen ist zum Verständnis der Geschichten eine Notwendigkeit. Auf der anderen Seite erhält der Interessierte einen kleinen Einblick in eine gänzlich andere gesellschaftliche Ordnung. Grunerts Geschichten zeichnen sich nicht durch politische Großwetterlagen aus. Nur selten, wie in diesem vorliegenden Text, integriert er die Realität der deutschen Kolonien und die Hilflosigkeit des Deutschen Reiches, gegen die übermächtige britische Flotte wirklich anzugehen und die Versorgung der überseeischen Teile des Reiches sicherzustellen. In seine Betrachtungen schleicht sich fast ein fatalistischer Ton. Großmannssucht und nationale Töne findet der Leser dagegen vergeben. Der Wissenschaftler in ihm sucht die Lage mit friedlichen Mitteln zu verändern und zu verbessern. Dabei kommt es ihm auch auf die zwischenmenschlichen Komponenten an.
Die drei bislang nicht gesammelten Geschichten, von denen „Der Ätherseelenmensch“ als Beilage bei Gerd Michael Rose veröffentlicht worden ist, gehören auch zu den Texten, in denen sich Carl Grunert wieder mehr mit dem Menschen in einer sich wandelnden Zeit auseinandergesetzt hat. Die potentielle Traumsequenz mit dem melancholisch düsteren Ende könnte eine Anlehnung an Kurd Laßwitzs Roman wie „Sternentau“ oder „Aspira“ sein. Die Veränderung des Menschen – in diesem Fall musste einem Piloten nach einem Unfall ein Teil der Schädeldecke durch Weichgummi und Metall ersetzt werden – engt erstaunlicherweise en Protagonisten eher ein. Durch einen Unfall von der künstlichen Schädeldecke befreit kann seine Seele durch den Äther schweben und neue Welten entdecken, die der Menschheit aufgrund ihrer beschränkten geistigen Haltung vorenthalten sind. Sprachlich ausgesprochen dicht in einem stark visuellen Stil erzählt berührt insbesondere das schon angesprochene düstere Ende, in dem sich der Autor von seinen Lesern zumindest als Erzähler utopischer Texte zu verabschieden sucht. Grunerts schwächliche Konstitution und sein Rückgriff auf starke beruhigende Medikamente, sowie später Drogen könnte vergleichbare Wahnvorstellungen in ihm ausgelöst haben. Auf jeden Fall hat er sie in dieser insbesondere für sein eher romantisch wissenschaftliches Werk ungewöhnliche Geschichte für den unvoreingenommenen Leser ausgesprochen gut umgesetzt. Es ist die nachhaltigste der drei bislang unveröffentlichten Texte, wobei „Das Phonogram von Pompeji“ wieder eine seiner markanten wissenschaftlichen Geschichten ist, in denen er von einem proklamatischen Titel ausgehend eine interessante, aus heutiger Sicht allerdings auch antiquierte Idee ausgesprochen kompakt, aber mit zu einfallslosen Charakteren besetzt umsetzt.
„Das weiße Rätsel“ (1909, ARENA) ist dagegen ebenfalls eine sehr stimmungsvolle Abenteuergeschichte mit utopischen Anklängen. Eine Expedition im Himalaja möchte das Geheimnis von drei Punkten im ewigen Schnee lüften. In der ersten Hälfte der Story diskutieren die unterschiedlichen Experten die verschiedenen Theorien – Außerirdische, Zufall oder religiöse Deutungen- und gegen Ende des sehr interessant aufgebauten Handlungsbogens führt Grunert seine Leser geschickt in eine bestimmte Richtung. Viele Ideen werden sich Jahre später in hunderten von UFO Geschichten wieder finden. Auch in anderen Storys dieser Sammlung – siehe „Feinde im Weltall?“ ist er schon auf die mögliche Entführung von Menschen durch Außerirdische aus niederen Motiven eingegangen. Grunert überzeugt hier zum ersten Mal auch als klassischer Erzähler. Vergleichbar seinen Vorbildern Verne und Sir Henry Rider Haggard gelingt es ihm, die fremdartige Bergwelt sehr genau und atmosphärisch dicht zu beschreiben. Außerdem wirken seine Dialoge sehr natürlich und weniger steif, die sich anschließenden unheimlichen Begegnungen runden eine sehr gelungene und keinesfalls fast einhundert Jahre alte Kurzgeschichte ab.
Die Geschichten – dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die „scientific romances“ oder die Anspielungen auf verschiedene Klassiker der utopischen Weltliteratur handelt - sind mit Abstrichen immer noch unterhaltsam und reizvoll zu lesen, an mancher Stelle wird man eher kopfschütteln lächeln als Mitleid empfinden. Seine Protagonisten stammen alle aus gutem Hause und sind oft Intellektuelle oder Industrielle. Die jungen aufstrebenden Männer dienen dem Staat als treue pflicht- und karriere- bewusste Beamte. Dabei zeigt Grunert auf, dass über die neuen Technologien erstens schneller Karriere zu machen ist und zweitens die Jugend notwendigerweise nach vorne streben sollte.
Der zweite umfangreich schmalere Abschnitt des Buches besteht aus Grunerts Lyrik.
Grunert begann seine Schriftstellerlaufbahn als Verfasser von schlichten, emotionalen Gedichten, bevor er mit zwei veröffentlichten Dramen sich den Unmut seiner provinziellen Mitbürger zu zog. Grunert zog nach Berlin und machte zumindest was die Veröffentlichungen angeht eine Pause von vierzehn Jahren, bevor er zu erst mit utopischen Texten sich wieder Selbstvertrauen erschrieb. Aufgrund der thematischen Vielfalt der Gedichte sowie der unterschiedlichen Stillarten lässt sich vermuten, dass Grunert in den vierzehn Jahren sich als Schubladenautor versucht hat, bevor er im Gefolge der „Erfolge“ seiner Storysammlungen sich wieder gänzlich der Lyrik zuwandte und bis auf ganz wenige Geschichten keine Science Fiction mehr schrieb.
Schon in einer Sammlung utopischer Geschichten hat er sich reimend und seine Kurzgeschichten inhaltlich sehr pointiert zusammenfassend von seinen Lesern verabschiedet. Wie sein Vorbild Kurd Lasswitz, der mit Gedichten und Humoresken seine Schriftstellerlaufbahn begonnen hat, greift Carl Grunert eine Reihe von Themen auf und schämt sich nicht seiner romantischen Gefühle. Während sich Kurd Lasswitz Werk parallel mit seiner Gymnasialkarriere und vor allem seinen verschiedenen romantischen Beziehungen entwickelt hat, schmachtet Carl Grunert eher einsam in seiner Schriftstellerecke. Aus heutiger Sicht wirken viele der Texte antiquiert und vielleicht ein wenig zu romantisch übertrieben bieder, aber viele Ideen/ Ideale seiner romantisch utopischen Geschichten finden sich in diesen kurzen, aber lesenswerten Gedichten wieder.
Den Abschluss der Sammlung bilden fünf Briefe Carl Grunerts an Kurd Lasswitz. Da über den Autoren selbst und sein Leben eher rudimentäre Daten vorliegen, geben diese fünf bewunderten, sich unnötig klein machenden Briefe vielleicht einen ehrlichen Einblick ins Grunerts Persönlichkeit. Das er sich neben H.G. Wells und Jules Verne in erster Linie sowohl was sein Prosa- als auch sein Lyrikwerk angeht, von Kurd Lasswitz inspiriert und animiert gefühlt hat, steht außer Frage. Darüber hinaus hat sich Grunert aber auch selbst als interessanter Ideenschriftsteller etabliert, der mit seinen technischen Ideen in Richtung Fernkommunikation Autoren wie Hans Dominik und vielleicht auch Curd Siodmak beeinflusst hat. Es ist schade, dass Kurd Laßwitzs Antworten anscheinend nicht mehr vorhanden sind, so wirken die hier zusammengefassten Briefe ein wenig einseitig. In sehr blumiger, aus heutiger Sicht sicherlich übertriebener Sprache heraus versucht Grunert seine Bewunderung in Worte zu fassen. Die Heldenverehrung geht vielleicht ein wenig weit, rundet aber diesen empfehlenswerten Band gut ab.
Stellten schon die schon vor einigen Jahren im Verlag Dieter von Reeken veröffentlichten einzelnen Carl Grundert Bände den ersten Schritt zur Wiederentdeckung und vor allem Einordnung dieses aufgrund seines im Vergleich zu Lasswitz, Dominik oder später Paul Alfred Müller schmalen Werkes dar, so ergänzt „Im Königreich Nirgendwo“ – wie bei Kurd Lasswitz – die bisher gehobenen utopischen Texte und gibt einen weitergehenden Einblick in dessen Wesen. Wie bei allen Ausgaben des Kleinverlages sind die insgesamt einundsiebzig Abbildungen von sehr guter Qualität. Das auffällige Titelbild mit dem inzwischen markanten blauen Rahmen - bislang trugen die Grunert Bände ein strahlendes weiß – sowie die ausführlichen einführenden Worte des Herausgebers sowie ein Geleitwort von Karlheinz Knast zu „Der Marsspion“, das sehr viele Informationen enthält, runden diese nach heutigen Stand umfassende Sammlung sehr gut ab.