Der Graf von Monte Christo

Alexandre Dumas

Unzählige Mal verfilmt gehört Alexandre Dumas Abenteuer- wie Gesellschaftsreform zu den Standardwerken, die viele Menschen kennen und doch nicht kennen. Keine der Verfilmungen
kann dem mit fast eintausendfünfhundert Seiten überdurchschnittlich voluminösen Epos adäquat Rechnung tragen. Selbst die vierteilige Miniserie mit Gerard Depardie - „Ich bin der Graf von Monte Christo“ – riss viele der komplexen, aber auch glänzend strukturierten Zusammenhänge nur oberflächlich an. Der DTV Verlag hat den Roman ungekürzt, mit einem kurzweilig zu lesenden Nachwort Thomas Zirnbauers sowie einer Zeittafel neu aufgelegt.

Viele der überwiegend gekürzten Buchausgaben haben die Gefangenschaft des jungen naiven Edmond Dantes im Vergleich zur späteren Rache an seinen für die Inhaftierung verantwortlichen „Feinden“ überbetont. In der jetzt vorliegenden Gesamtausgabe entflieht Dantes nach den langen Jahren der Haft schon im ersten Viertel des Buches, um dann über Roman kommend seinen Racheplan minutiös und detailliert auszuarbeiten. Ihm geht es nicht bloß um Rache, im Grunde möchte er die Familien seiner Feinde auslöschen. Nicht umsonst teilt Thomas Zirnbauer den Racheaspekt in zwei aufeinanderfolgende Phasen ein: die umfangreiche Vorbereitung in Rom. Aus heutiger Sicht ist Monte Christo ein derartig bekannter Charakter, das der Leser sein Auftreten untrennbar mit dem Schicksal Edmond Dantes verbindet. Bei der in Kolportageform mit fast einhundertsechzig über zwei Jahre veröffentlichten Fortsetzungen geschriebenen Originalveröffentlichung wird Alexandre Dumas Lesepublikum aufgrund des handlungstechnischen wie zeitlichen Bruches eine längere Zeit zur Orientierung benötigt haben. Über kommend und die Generation der Söhne seiner Feinde kommend schleicht sich Dantes/ der Graf von Monte Christo ausgesprochen geschickt bei seinen nichts ahnenden Feinden ein.
Zwischen der Flucht und dem Beginn seiner Rache liegt aber eine Phase, die heute fast in Vergessenheit geraten ist. Der Graf von Monte Christo belohnt die wenigen Menschen, die ihm vor und in der Frühphase seines Gefängnisaufenthalts zur Seite gestanden haben. Er verhindert den Konkurs des Reeders Morrel, der ihn an Sohnes Statt aufgenommen hat. Morrel wollte den jungen Dantes nach der schicksalhaften Fahrt der „Pharaon“ mit ihrem kurzen Halt auf der Insel Elba – dem ersten Exil Napoleons – zum Kapitän machen. Der Graf von Monte Christo rettet den ehrbaren Morrel vor dem Konkurs, wie er in einer ironischen Spiegelung später seinen Feind – den ehemaligen Zahlmeister und jetzigen Bankier Danglar – mit der Forderung nach einem unbeschränkten Kredit für sich in den Ruin treiben wird. Der Graf von Monte Christo schenkt einem ehrbaren Schafhirten und Wirt einen fünfzigtausend France wertvollen Edelstein, um ihnen aus der Not zu helfen wie sie damals für den Freund Edmond Dantes sich verwandt haben. Auf der anderen Seite packt er seine beiden anderen Feinde Fernand – den Rivalen um die schöne Mercedes – und den ehrgeizigen Staatsanwalt Villefort an ihrem empfindlichsten Stellen: ihrem Ruf. Wobei die Wurzeln ihres Verfalls nicht ausschließlich im Verrat an Edmond Dantes keimten.
„Der Graf von Monte Christo“ ist aber nicht nur die Geschichte eines ausgeklügelten Rachefeldzugs, es ist vielmehr wie „Die drei Musketiere“ auch eine Geschichtsstunde, geboren in den brutalen Exzessen der französischen Revolution und aufgezogen in der Herrschaft Napoleons, dessen Schatten im Grunde das Schicksal Dantes beeinflusst. Immerhin transportiert der pflichtbewusste Edmond Dantes als letzten Wunsch seines sterbenden Kapitäns wirklich einen fatalen Brief von der Insel Elba aufs französische Festland. Empfänger ist der Kopf der Bonapartisten, welche die Rückkehr des Kaisers aktiv herbeisehnen. Das der politisch blinde Edmond Dantes nicht zumindest einen Verdacht gehabt hat, kann ihm selbst Alexandre Dumas nicht absprechen. Das der ehrgeizige und aufstrebende Staatsanwalt Villefort nach der Denunziation Dantes seinen Vater als eigentlicher Empfänger des Briefes zu schützen sucht, ist ebenfalls ein Aspekt der Geschichte, der zumindest kontrovers und nicht nur negativ diskutiert werden könnte. Wie hätte Edmond Dantes in dieser Situation hinsichtlich seines schwerkranken Vaters gehandelt?
Geschichtlich versucht Alexander Dumas den schmalen Grad zwischen der brüchigen französischen Monarchie unter einem weiteren König Ludwig als Antwort auf die französische Revolution und den kleinen Kaiser und der Angst des Adels vor einer Rückkehr Napoleons in Worte zu fassen. Die zweite einhundert Tage dauernde Herrschaft wird ebenso effektiv zusammengefasst wie der geschichtliche Hintergrund des Schatzes, der auf der Insel Monte Christo vergraben worden ist. Die Zeit während des Marsches nach Waterloo reicht nicht, um aus den Verrätern wie Edmond Dantes Helden zu machen. Stilistisch wie literarisch anspruchsvoll vergleicht der Autor Dantes Innenleben mit dem politischen Chaos Frankreichs.
Es ist nicht die einzige Doppelung des Romans. Wie Frankreich nach Napoleon ist auch das Glück des jungen Edmond Dantes mehr als flüchtig.

Nach der fast zuckersüßen Idylle mit einem die Karriereleiter hoch fallenden, aber in dieser ungekürzten Originalfassung auch ein wenig hochnäsig wirkenden Edmond Dantes, seinem schwerkranken Vater sowie der bildhübschen Mercedes sind es die Szenen im Gefängnis, die erstmalig unter die Haut gehen. Die Menschen unwürdigen Lebensumstände; die Verzweifelung; die Begegnung mit dem Abbe, der als verrückt gilt, weil er den Behörden Millionen für seine Freilassung angeboten hat; die tragisch rührende Kontaktaufnahme der beiden Einsamen, nachdem der Abbe einen Fluchttunnel falsch berechnet hat und schließlich das über Jahre gehende Vater- Sohn/ Lehrer- Schülerverhältnis, bei dem Dantes die Möglichkeit einer Flucht unter Zurücklassung seines Freundes ausschlägt. Obwohl die meisten Fakten aus den zahlreichen Verfilmungen bekannt sind, überraschen die klare Struktur, die Komprimierung des Textes und die atmosphärische Dichte.
Auf der anderen Seite geht unter, dass der Abbe über einen Zeitraum von wahrscheinlich impliziert zehn Jahren Edmond Dantes gesellschaftlich so herangezogen hat, dass er sich später als Graf von Monte Christo wie unter seinesgleichen bewegen kann.

Wie schon angesprochen ist der Racheaspekt das auch heute noch am ehesten faszinierende Element des Romans. Wie ein Puzzle und weniger wie ein Mosaik setzt Edmond Dantes aufgrund seines auf der Insel gefundenen märchenhaften Reichtums – nicht die einzige Verbeugung vor den Geschichten aus „1001“ Nacht, da der Graf von Monte Christo manchmal als „Sinbad, der Seefahrer“ zeichnet und seinen Schatz als märchenhaft charakterisiert– an den Schwachstellen seiner Feinde an, ohne das es der Leser bzw. die potentiellen Opfer erkennen können. Der Graf von Monte Christo kauft im Orient eine wunderschöne junge Sklavin und hält sie weniger wie eine Geliebte, was er später bedauert, denn eine Tochter. In Rom freundet sich der Graf von Monte Christo mit zwei jungen Männern an, von denen der eine – Andrea – ebenso wie die junge Sklavin das Instrument seiner Rache sein wird. Alexandre Dumas verzichtet darauf, die anscheinend minutiöse Recherche Edmond Dantes zu beschreiben, die notwendig geworden ist, um nicht nur die richtigen Menschen zu finden und ohne ihr Wissen zu instrumentalisieren, sondern zusätzlich Zeugen aufzutreiben, die der Beweisfindung dienen. Mit seinen drei Erzschurken rechnet Edmond Dante auf sehr unterschiedliche Art und Weise ab. Alle drei drängt er in die Ecke. Er nutzt entweder deren dunkle Vergangenheit aus oder spielt mit ihrem Ehrgeiz – Villefort – oder reizt ihre Schwäche Eitelkeit – Danglars. Das nur ein Mensch im Grafen von Monte Christo Edmond Dantes erkennt – natürlich Mercedes – ist eine weitere der kleinen Schwächen, die um die Glaubwürdigkeit der ganzen Geschichte zu erhalten akzeptiert werden muss.

Obwohl die eigentliche Rachegeschichte mit mehr als eintausend Seiten auf den ersten Blick zu umfangreich und von zu vielen direkt wie indirekt betroffenen Personen fast unübersichtlich wimmelnd erscheint, fügen sich mit ein wenig Geduld auf der Seite des Lesers die einzelnen Bestandteile ineinander. Bis auf wenige Augenblicke ist Edmond Dantes/ der Graf von Monte Christo kein emotionaler Mensch. Er hat im Gefängnis das Warten gelernt. Mit ausgesprochenen Charme und seinem legendären Reichtum im Rücken bewirtet er seine Feinde, hilft ihnen anfänglich sowohl bei familiären Problemen als vordergründig wirtschaftlich durch riskantere Geschäfte. Er testet sie aus. Als er hinter das Geheimnis der erfolgreichen Spekulationen Danglars Frau gekommen ist – niemals wurden 20.000 France besser angelegt – verwendet er diesen Hebel rücksichtslos gegen ihn. Villefort treibt er vor Gericht in die Enge, nachdem er zahlreiche Schicksalsschläge – einige Mitglieder seiner Familie wurden vergiftet - überstehend einen ganz besonderen Angeklagten verurteilen muss. Meisterhaft zieht Alexandre Dumas den Schleier des Vergessens von seinen Augen.

Dabei verbindet der Autor ausgesprochen geschickt die alte Zeit – bis zum zweiten Exil Napoleon – mit der neuen, vom „falschen“ Geld (Aktien, Spekulationen) regierten Welt. Dieser „Bruch“ zieht sich auch durch die Charakterisierung seiner Figuren, wobei insbesondere Mercedes und der alte Reeder Morell alleine für die alte untergegangene, aber wenig betrauerte Epoche stehen. Wie Thomas Zirnbauer in seinem Nachwort richtig herausarbeitet, erkennen nur Mercedes und der alte Morell in dem Grafen von Monte Christo Edmond Dantes.
Edmond Dantes muss sich des neuen Geldes bemächtigen, um seine Rache abzuschließen. Thomas Zirnbauer ist allerdings zu widersprechen, wenn er davon schreibt, dass Edmond Dantes nur dank des Schatzes des Abbes seine drei Feinde vernichten bzw. blamieren konnte. Vernichten hätte sie Edmond Dantes auch mit bloßer Gewalt können. Es wäre aber nicht so elegant und vor allem so perfide angelegt gewesen. Wahrscheinlich wäre aus „Der Graf von Monte Christo“ auch nicht ein derartig zeitloser Klassiker geworden, wenn Dantes zum Messer in einer dunklen Gasse gegriffen hätten.

Er will Spuren hinterlassen, in dem er den einen zum Selbstmord treibt; den Zweiten angesichts der zahlreichen Familientragödien wahnsinnig werden lässt und den Dritten nachdem er ihn körperlich gebrochen hat als frühzeitig gealterten Mann in eine unbestimmte „Freiheit“ entlässt. Er will ihre Familien ausrotten, auch wenn er dabei Unschuldige bis an den Rand des Selbstmordes treibt. An einer Stelle spricht Edmond Dantes davon, dass es ihm hinsichtlich seiner Rache leichter gefallen wäre, vorher sein Herz herauszureißen. Es ist bittere bis zynische Ironie, dass er ausgerechnet den Menschen von sich stößt und seine kranken Stolz nicht überwinden kann, der ihn trotz einer Ehe mit dem Feind immer noch liebt: Mercedes. Die letzte Begegnung spiegelt die zweischneidige Klinge der Rache meisterlich wieder. Ohne Ehemann mit einem Sohn, der sich freiwillig für die Armee gemeldet hat, wird Mercedes ins Kloster gehen. Anstatt ihr vielleicht ein oder zwei Jahrzehnte an der Seite des Mannes zu schenken, den sie ihr ganzes Leben geliebt hat. Über diesen Schatten kann Dantes nicht springen und wird dadurch des gleichen unmoralischen Verbrechens schuldig, das er zumindest einem der drei Feinde ebenso vorwirft. Für sich selbst dagegen erkennt später die Wonnen der Liebe, wenn sich sein bisheriges Ziehkind – die aus dem Orient mitgebrachte Sklavin – ihm gegenüber offenbart. Gemeinsam reisen sie auf einer seiner Yachten aus Europa ab.
Obwohl die Handlung dominierend bleibt Edmond Dantes als Graf von Monte Christo vor allem im ersten Abschnitt seines Rachefeldzuges im Hintergrund. Immer präsent und verblüffend schockierend eiskalt planend, die Ergebnisse seiner strategisch ausgebrochen guten Schachzüge abwartend. Am Ende konfrontiert er jedes seiner drei Opfer mit ihrer jeweiligen Vergangenheit, nachdem er sie am Zopf gepackt und angesichts ihrer Schwächen besiegt hat. Alexandre Dumas hat seinen Helden außergewöhnlich geschickt angelegt. Wie der vierte seiner Musketiere kommt er aus einfachen Verhältnissen und arbeitet sich in eine Welt hinein, die nicht seine eigene ist. Im Gegensatz allerdings zum Musketier muss dessen einfache, aber glückliche Welt durch Neid und Missgunst zerstört werden. Der Auftakt mit dem naiven, grundehrlichen Edmond Dantes ist von einem atemberaubenden Tempo gezeichnet. Als Mensch nähert sich der Leser Dantes zum ersten Mal während der Tage/Wochen/Monate und schließlich Jahre im Gefängnis. Während seines Rachefeldzugs agiert Dantes - wie unmittelbar nach seiner Flucht aus dem Gefängnis - mit einer Mischung aus Racheengel und Weihnachtsmann. Auch seine späteren Opfer „beschenkt“ er mit seiner Anwesenheit, seinem Reichtum. Er schleicht sich in ihr Vertrauen, um sie schließlich in erster Linie vernichten zu lassen. Dantes legt nicht selbst Hand an, sondern drängt seine Opfer in ausweglose Situationen, die sie sich selbst erschaffen haben. Dumas macht aus Dantes über lange Strecken des Plots einen klassischen Gutmenschen mit einem berechtigten Motiv, der auf einem sehr schmalen Grad zwischen Rachegelüsten und narzisstischer Egomanie wandelt. Das ihn die Zeit im Gefängnis stärker gezeichnet hat als er es vielleicht wahrhaben möchte, zeigt sich in kleinen Szenen. So isst der Graf von Monte Christo niemals in der Gegenwart seiner Gäste, was impliziert, dass Dantes das reichhaltige Essen nicht verträgt. Viele Sympathien verspielt Dumas Charakter, als er schließlich auch Mercedes nicht unbedingt perfekte, aber zumindest sichere Welt vernichtet und sogar willens ist, ihren Sohn zu töten. Anstatt Mercedes Sohn zu verschonen, will sich Edmond Dantes im Duell selbst opfern. Hier wird der rächende Graf zu einem dickköpfigen unwilligen Kind, das es nicht verkraftet, nicht immer Recht zu haben. Erst nach der Begegnung mit Mercedes wird Dantes wieder zu einer Art Gutmenschen, der zwar seine Rache beenden muss, aber gleichzeitig sich um den „Wiederaufbau“ der von ihm zerstörten Familien kümmert, in dem er der auf die Taten folgenden Generation eher hilft als sie weiter bekämpft. Am Ende des Buches schließt Dumas in einer der emotionalsten Szenen des Buches den Kreis: Dantes besucht noch einmal seine Zelle auf der Gefängnisinsel und versucht die Vergangenheit mit der Gegenwart in Hinblick auf seine leere Zukunft nach Abschluss der Rache zu verbinden. In einer Sequenz ist der Leser näher an dieser tragischen Figur dran, die trotz seines märchenhaften Reichtums emotional unterkühlt bis abgestorben ist. Als Dantes zum zweiten Mal seine Zelle - dieses Mal auf eigenen Füßen - verlässt, beginnt die Rückentwicklung zu dem Menschen, der sich einmal Edmond Dantes genannt hat.

Die Wandlung kommt auf den letzten vielleicht ein wenig überraschend, schließt den Roman hinsichtlich des Protagonisten aber auf eine befriedigenden Note ab, die Jules Verne in seiner Dumas- Hommage „Matthias Sandorf“ noch geschickter extrapolierter.
Die schwächste Handlungstragende Figur ist ohne Frage die schöne Mercedes, die anfänglich zu zuckersüß beschrieben worden ist und in der ersten direkten Konfrontation mit ihrem ehemaligen Verlobten über sich hinauswächst - eine der großen zeitlichen Szenen des Buches -, um schließlich ins Kloster abgeschoben zu werden. Devot ordnet sie ihr persönliches Schicksal Dantes Rache unter, was zu stark konstruiert erscheint.

Die drei wichtigsten Antagonisten - Danglar, Fernand und schließlich auch Villefort - erscheinen vor der Verhaftung Dantes plastischer, lebensechter als vierzehn Jahre später. Ein wichtiger Aspekt wird später vernachlässigt. Auch wenn alle Drei eine direkte Schuld an Dantes Schicksal tragen, hat zumindest Danglar - der einzige Mensch, den Dantes gebrochen letzt endlich vergibt - Gewissensbisse und den belastenden Brief zerknüllt sowie in die Ecke geschmissen. Während sich Fernand nur über seine Handlungen der Vergangenheit - der Verrat an Dantes und sein hinterhältiges Verhalten im Nahen Osten - definiert, erscheinen Danglar und Villefort dreidimensionaler. Das man dem neuen Geld
Nicht trauen kann, macht Dumas sehr schnell klar. Die Spekulationen des Bankiers sind nicht ehrlich, sie beruhen auf einem durch Bestechung erworbenen Wissensvorsprung. Dieses Insidertrading wirkt außerordentlich modern und bürgt den Hebel, um ihn zu vernichten. Villefort dagegen ist überdurchschnittlich ehrgeizig, hat einen unehelichen Sohn ausgerechnet mit Frau Danglar - eine der Passagen, die rückblickend inklusiv der dramatischen Gerichtsverhandlung zu stark konstruiert erscheint - und leidet unter der Dominanz seines schwer körperbehinderten Vaters, der sich nur mit den Augen verständigen kann. Die „Dialoge“ zwischen Villeforts Tochter, seinem Vater und dem überforderten Staatsanwalt sind voller Intensität und bleiben dem Leser lange im Gedächtnis. Im Gegensatz zu den gekürzten Fassungen erlaubt es dieser vollständige Text, sich den Antagonisten nicht nur zu nähern, sondern ihre Elfenbeinwelt kennen zu lernen, die schließlich durch die Aktionen des Grafen von Monte Christo zum Einsturz gebracht wird.
Thomas Zirnbauer schreibt in seinem Nachwort, dass der Graf von Monte Christo seine Feinde mit Geld schlägt, was nur teilweise richtig ist. In zwei Fällen sind es im Grunde der Rufmord und die ureigene innerhalb der Familie dominierende Gier, die schließlich Fernand und Villefort zu Fall bringen. Alleine Danglar stürzt über die dünne Fassade der eigenen Bank, wobei der Graf von Monte Christo hier nicht ganz fair und die eigenen Regeln verletzend handelt. Er hat sich einen unbegrenzten Kredit im Hause Danglar erschlichen und greift hinsichtlich der Ausnutzung der Linie nach fremden, bei Danglar verwahrten Geld. Er überfährt den Bänker. Die von Thomas Zirnbauer angesprochene Langsamkeit der Verwirklichung seiner Pläne im Vergleich zu der immer schnell voranschreitenden Entwicklung hat aber auch einen anderen Hintergrund: Im Gefängnis hat Dantes unfreiwillig Geduld zu haben gelernt. Er hat vierzehn Jahre auf der Gefängnisinsel verbracht. Also ist es logisch, das er sich beim Vollzug seiner Rache viel Zeit nimmt, um seine Opfer noch zu quälen. Eine Idee, die inzwischen fest verankert im Vigilantensubgenre ist.
Der interessanteste Aspekt des ganzen Buches - wie auch von Thomas Zirnbauer sehr gut herausgearbeitet - ist die Verstellung einer ganzen Bevölkerungsschicht. Ein ewiger Maskenball, der von der Wirklichkeit ablenken soll. Wenige Jahre später hat Hermann Melville dieses Phänomen in seinem letzten Buch auf das Treiben an Bord eines Mississippi Dampfers konzentriert, für Dantes ist - wenn nicht die Welt - so zumindest Paris die Börse eines perversen Spiels, in dem niemand so ist wie er scheint oder schlimmer erscheinen will.
Die vollständige sehr empfehlenswerte Ausgabe des „Grafen von Monte Christo“ macht nicht nur das eine Identität suchende Paris ausgesprochen lebendig, es ist ein Lehrstück perfider Planung und subtiler Rache. Obwohl der über zwei Jahre mit einhundertsechzig Fortsetzungen veröffentlichte Roman, den Dumas anscheinend zusammen mit einem nicht expliziert genannten Mitautoren geschrieben hat, nicht ganz geschlossen erscheint und mancher handlungstechnischer Abstecher ins plottechnische Nichts führt, unterstreicht die hier vorliegenden empfehlenswerte Ausgabe die zeitlose Qualität dieser Rachegeschichte, die den lebendigen Toten - wie sich der Graf von Monte Christo selbst bezeichnet - vorantreibt, bis er schließlich in den Armen seiner attraktiven „Sklavin“ das Glück finden kann.

Alexandre Dumas: "Der Graf von Monte Christo "
Roman, Softcover, 1504 Seiten
DTV 2011

ISBN 9-7834-2313-9558

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