Das Geheimnis der Mumie

August Niemann
August Niemanns 1885 veröffentlichter Roman „Das Geheimnis der Mumie“ ist nicht die erste Geschichte, die sich mit den in den ägyptischen Gräbern aufgefundenen Gebeinen beschäftigt. Interessanterweise hat Niemann allerdings die unvollständige Rahmenhandlung vor die Veröffentlichung der bislang frühsten Mumiengeschichte  - Jane C. Loudons „  The Mummy! A Tale of the Twenty-Second Century“ aus dem Jahr 1827 – gesetzt. Die Soldaten Napoleons finden auf ihrem Feldzug die unversehrte Mumie des Ägypters Amasis. Da der Roman in der Zeit Amasis beginnt, wird die Entdeckung seiner Lebensgeschichte erst ans Ende dieses stringenten Abenteuerromans platziert, so dass der Leser im Grunde Amasis abwechselungsreicher Leben chronologisch verfolgen kann. Der Bogenschlag zu den Archäologen, die Napoleons Truppen nach Ägypten folgten ist im Grunde überflüssig. 
 
Mit Amasis verfügt der Roman über einen charismatischen Charakter. Als Waise in der Priesterschule abgegeben durchläuft er die strenge Ausbildung. Im Gegensatz zu den geistigen Lehren, die er dort erhält, strebt er nach weltlichem Ruhm. Als der Pharao nach einem siegreichen Feldzug, der das Leben seines ältesten Sohnes kostete, nach Theben zurückkehrt, erkennt er unter den Schaulustigen Amasis. Dieser ähnelt seinem gefallenen Sohn so sehr, dass er den Jungen kennenlernen möchte. Seine griechische Leibgarde befreit den Jungen unter Gewalt aus einem von den Priestern gewähltem Versteck. August Niemann geht in dieser Hinsicht seine Geschichte vielleicht ein wenig theatralisch an, wenn er den Tabubruch mehrfach zu einem einschneidenden und im Grund das Ende der Herrschaft dieses Pharaos einleitenden Ereignis macht.  
Ein wenig unglaubwürdig und angesichts Amasis nicht unwichtiger Herkunft erscheint, dass der Knabe die meisten Elitekrieger in allen Disziplinen – Wagenrennen, Schwertkampf, Bogenschießen und Ringen – nicht nur besiegt, sondern im Grunde auch demütigt. Höhepunkt ist zur Überraschung der Leser ein Robin Hood Bogenschuss, mit dem Amasis auf ausdrückliche Erlaubnis seines Herrn den im Auge der Zielscheibe steckenden Pfeil spaltet. Natürlich weckt Amasis mit seiner Demonstration nicht nur den Neid der besiegten Soldaten, sondern vor allem den Zorn Nechos, des letzten Pharaonensohns. August Niemanns Intention ist klar und deutlich dieser überzogen geschriebenen Szene abzulesen. Er will den Neid Nechos auf den in dieser Hinsicht zu naiven Amasis lenken. Der Leser muss akzeptieren, dass unerkannt und von den Priestern nicht expliziert gefördert ein Naturtalent in seiner Stadt gelebt hat, der anscheinend still und heimlich ausgebildet worden ist. Der Verlauf des bisherigen Romans wird nicht nur auf den Kopf gestellt, der erste Auftritt Amasis negiert. Natürlich sieht der Pharao in dem jungen Mann, den er kaum kennt und dessen Herkunft niemand bezeugen kann, einen potentiellen Nachfolger. Natürlich durchschreitet Amasis mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit die Ränge der ägyptischen Armee, die sich hinsichtlich ihrer Elitetruppen aus zwangsrekrutierten Helenen zusammensetzt. Der Pharao merkt nicht, wie die Widerstände innerhalb des Reiches auch unter schweigender Zustimmung der Priester stärker werden, während seine Expansionspolitik an die natürlichen Grenzen stösst und im eigenen Reich ein Bürgerkrieg droht. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung wird Amasis mit einem Teil der griechischen Söldner von einem fremden, offensichtlich aus Indien stammenden Sultan festgenommen. Das Duell der beiden Schiffe ist von August Niemann mit einem bewundernswerten Auge für die kleinen Details beschrieben worden. Hier legt der Autor sehr viel Wert auf einen historisch akkuraten Hintergrund und zeigt nachdrücklich die hochseetechnische Überlegenheit der indischen Kriegsschiffe gegenüber den ägyptischen in erster Linie fürs Mittelmeer konzipierten Einheiten auf. Mit Amasis Gefangenschaft wird der bislang bodenständig historische Roman ein wenig phantastischer. 
 
Die Geschichte lebt von den überzeugend gezeichneten Figuren. Amasis als Sohn des Hophra erlebt in der ersten Hälfte des Romans eine wie schon angesprochen übertrieben erscheinende Bilderbuchkarriere, die ihm anfänglich als Wagenlenkers des Pharaos, später als beliebtem Feldherrn Ruhm, Ehre und interessanterweise auch die Achtung des Volkes einbringt. Erst spät erfahren er und damit die Leser seine eigentliche Bestimmung. Anscheinend haben die Priester schon länger an der Ablösung des gegenwärtigen Pharaos mit seiner selbstherrlichen wie expansiven Politik gearbeitet und versuchen mit Amasis als Sohn des früh gefallenen Volkshelden Hophra einen neuen Pharao zu etablieren, der die Stärken des bisherigen Herrschers – Charisma und Mut – auf sich vereint, aber nicht mehr über dessen Schwächen verfügt. Irgendwann wird Amasis vor die Entscheidung gestellt, gegen den bisherigen Herrscher zu agieren oder den Tod – dabei bleibt offen, ob es sich um Mord; Tod in der Schlacht oder Selbstmord handelt – zu wählen. Dieser Gewissenskonflikt muss ein wenig zu stark konstruiert in die finale Schlacht integriert werden. Als Figur erscheint Amasis zu übertrieben vielseitig und zu gut. Seine Treue gegenüber dem Pharao wirkt schon fast naiv, seine Ablehnung der Priester per se unabhängig von seiner später enthüllten Herkunft zu statisch und seine körperliche wie geistige Überlegenheit ist zu nachhaltig, um gänzlich überzeugen zu können. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als habe der Autor den Superpharaonen gesucht, den er dem ägyptischen Volk konsequenterweise in letzter Sekunde vorenthalten hat. 
Auch die Gegenpositionen sind teilweise zu wenig nachhaltig entwickelt worden. Sein Rivale um den zukünftigen Thron Necho agiert zwar an den wichtigen Stellen angesichts Amasis Überlegenheit konsequent und folgerichtig, der Leser hat aber das Gefühl, als wirke dieser vorgeschobene Bruderkonflikt zu wenig in sich selbst entwickelt. Hinzu kommt, dass August Niemann hinsichtlich der politischen Entwicklungen in Ägypten ausgesprochen ambivalent agiert und den Pharaonen seiner eigenen Herrschaft widersprechend ambivalent behandelt und einsetzt. Zumindest verzichtet der Autor nach einem anfänglichen Rückgriff in die Klischeekiste mit dem brutalen, rücksichtslosen und hinterhältigen Stiefbruder, der feige ausschließlich auf Rache sinnt, auf derartige Exzesse und stellt die wenigen Stärken und vielen Schwächen dem wie schon angemerkt zu übertrieben positiv gezeichneten Amasis gegenüber. Um die Troika zweier Herrschergenerationen platziert August Niemann allerdings eine Reihe von interessanten Nebenfiguren. Dabei reicht das Spektrum von den vielleicht zu engstirnig gezeichneten Priestern und ihren oberflächlich beschriebenen Plänen über andere Mittelmeerkulturen bis zu den griechischen Söldnern, die in Ägypten niemals richtig anerkannt Heimweh haben und auf dem eigenen Boden an Altersschwäche denn auf dem Schlachtfeld sterben möchten. 
Handlungstechnisch packt Niemann ein ganzes, wenn auch kurzes Leben in den ausgesprochen kompakt, stellenweise fast zu komprimiert geschriebenen Roman. Die wenigen ruhigen Szenen verbinden die zahlreichen Schlachten, in denen Niemann nicht zu letzt sein militärisches Wissen ausgesprochen detailliert anbringt. Der Leser kann den taktischen Beschreibungen sehr gut folgen, wobei die Opferbereitschaft der Soldaten deutlich zu kurz kommt und Niemann sich zu sehr auf die Brillanz wie Arroganz der Anführer konzentriert. Neben den verschiedenen „abwechselungsreichen“ Schlachtbeschreibungen, die vom Autor sehr sachlich bis distanziert wie in einem Sachbuch beschrieben werden, erweckt Niemann das alte Ägypten zum Leben. Vielleicht sind seine Beschreibungen zu euphorisch und der Pracht dieser Pharaonenära von der Spitze der weltlichen wie religiösen Hierarchie zu einseitig, aber das Portrait Ägypten inklusiv mancher Exzesse – die Sklavenverbrennung als „Beigabe“ für einen toten Herrscher – ist lebendig und selbst heute über einhundertdreißig Jahre nach der Entstehung des Romans lesenswert. 
Wie schon angesprochen handelt es sich bei „Das Geheimnis der Mumie“ – da es kein Geheimnis im Roman gibt und mit dem Fund des einbalsamierten Körpers auch dessen Lebensgeschichte gefunden wird, ist der deutsche schon von August Niemann falsch gewählt worden – um einen geradlinigen, vielleicht ein wenig zu steif und distanziert geschriebenen historischen Roman, der im Vergleich zu Karl Mays Orientromanen deutlich authentischer, aber erzähltechnisch auch gemächlicher verfasst worden ist. Dem Werk fehlt die Exzentrik der utopischen Stoffe Niemanns, aber die sorgfältig gezeichneten Figuren und die Pracht Thebens gleichen diese Schwächen wieder aus. Die politischen Intrigen sind interessant gestrickt, auch wenn der Plan der Priester zu ambitioniert und zu weitreichend erscheint.     
 

August Niemann, "August Niemann"
erschienen im Weltbild Verlag, 330 Seiten, Softcover
Erscheinungsjahr: 1994

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