Aus heutiger Sicht werden nicht nur Karl May und Robert Kraft als Musterbeispiele der deutschsprachigen Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts genannt, sondern vor allem auch Friedrich Gerstäcker. Karl May hat ihn namentlich in seinen frühen Romanen zitiert. Dabei hatte Gerstäcker – heutzutage genauso in Vergessenheit geraten wie Robert Kraft – May immer eine Nase voraus. Er hat die Länder, in denen seine abenteuerlichen Geschichten spielen bereist und ist nicht auf die Reisebeschreibungen anderer Autoren angewiesen gewesen. Der Weltenbummler Friedrich Gerstäcker wurde am 10. Mai1816 in Hamburg als Sohn eines Bühnentenors und einer Schauspielerin geboren. Nach dem Tod des Vaters 1825 wird der Junge von Verwandten in Braunschweig, Kassel und Leipzig erzogen. Ursprünglich zum Kaufmannslehrling ausgebildet, absolvierte er später auf dem Rittergut Doeben bei Grimma eine Ausbildung in Landwirtschaft. Im Jahr 1837 wanderte er nach Amerika aus, wo er ein abwechslungsreiches und abenteuerliches Leben als Matrose, Heizer, Jäger, Farmer, Koch, Silberschmied, Holzfäller, Fabrikant und Hotelier führte. Sechs Jahre später, 1843, kehrte Gerstäcker nach Deutschland zurück und heiratete 1845 die Dresdnerin Anna Aurora Sauer. Von 1849 bis 1852 bereist Gerstäcker Südamerika, Kalifornien, Tahiti und Australien. Nach der Rückkehr von seiner zweiten Südamerikareise 1861 stirbt Gerstäckers Frau. Nach in der Trauerzeit bricht er nach Ägypten auf. 1863 heiratet er die 19jährige Holländerin Marie Luise Fischer van Gaasbeck. Ab 1868, von seiner letzten Reise nach Nordamerika, den Westindischen Inseln und Venezuela zurückgekehrt, lebt Gerstäcker in Dresden und Braunschweig, nimmt am deutsch-französischen Krieg als Kriegsberichterstatter teil und stirbt am 31. Mai 1872 in Braunschweig im Alter von nur 56 Jahren.
Der Karl May Verlag legt drei seiner in Amerika spielenden Novellen in der Sammlung „Der Flatbootmann“ wieder auf. Friedrich Gerstäcker ging es in seinen Beschreibungen fremder Kulturen – wobei er stets Wert darauf gelegt hat, insbesondere die Ureinwohner möglichst authentisch zu charakterisieren und sie nicht für die eigenen sozialen Vorstellungen zu missbrauchen – nicht ausschließlich darum, diese als Hintergrund seiner oft moralischen Geschichten in Szene zu setzen, sondern sie als integralen Bestandteil in seinen ausführlichen Landschaftsbeschreibungen mit spannender Handlung zu integrieren.
Alle drei Geschichten spielen in den amerikanischen Südstaaten vor dem Bürgerkrieg. Dabei konzentriert sich Friedrich Gerstäcker auf das Leben der einfachen Menschen, die zum Teil jeden Tag noch um das Überleben in der Auseinandersetzung mit den Unbillen der Natur kämpfen müssen. Seinen Geschichten fehlt die aufgesetzte, falsche Romantik eines „Vom Winde verweht“. Die längste Geschichte der Sammlung „Der Flatbootmann“ spielt auf dem Mississippi selbst. Flatboote sind die Vorläufer der riesigen Schaufelraddampfer. Sie sind ebenso eckig und aus Holz gebaut worden, mit extrem niedrigem Tiefgang, um den unruhigen Strom beschiffen zu können. Sie haben im Grunde einen großen Teil der Südstaaten erst bewohnbar gemacht, da sie die vielen verstreuten Siedlungen entlang des Stroms mit Lebensmitteln, Werkzeug und schließlich aus Sklaven versorgt haben. Im Gegenzug haben sie Rohstoffe wie Holz zu den immer stärker expandieren Städten im Flussdelta gebracht. Es ist die Geschichte eines Landes, dessen Struktur sich durch einen kurzzeitigen Goldrausch im Delta komplett verändert. In der zweiten Geschichte „schwarz und weiß“ beschreibt Gerstäcker das Schicksal eines jungen Farbigen, der seinem sadistischen Herren entflieht, bei einer weißen Familie verletzt Unterschlupf erhält und diese ebenfalls in Lebensgefahr bringt. Die dritte Geschichte „Die Wolfsglocke“ ist vielleicht Jack London mystisch rauen Texten am nächsten. Wölfe machen den Menschen in den Bergen das Leben zur Höhle. Ein reicher Farmer setzt eine ungewöhnliche hohe Belohnung aus für den ersten gefangenen Wolf. Ein junger Mann will sich das Geld verdienen, um die Tochter des Farmers zu gewinnen und ihre gemeinsame Existenz in den Startzeiten zu sichern. Sein Widersacher ist ein arroganter, reicher Angeber.
Insbesondere die ersten beiden Sklavengeschichten zeigen Friedrich Gerstäckers auch heute noch lesenswerte Fähigkeit, zu erst das Land sehr genau zu beschreiben und die Eigenheiten der Südstaaten in sehr einfache, aber einprägsame Worte zu fassen. Für ihn hat der Mensch nur eine Überlebenschance in Einklang mit der Natur, welche wohlwollend die Bewohner seiner Weiten für eine gewisse Zeit akzeptiert, dann aber auch mit überraschender Brutalität zurückschlägt und sich ihr Eigentum wiederholt. Die ersten Seiten des „Flatbootmann“ sind reine Schifferromantik. „Schwarz und weiß“ beginnt mit einer einfachen, aber im Verlaufe der Geschichte überraschend effektiven Passage. Dem Besucher wird der Weg zum Haus einer Familie durch gefällte Bäume versperrt. Wie in einem Labyrinth muss er sich immer näher an das Haus herankämpfen. Dabei hat der Farmer nur noch nicht die Zeit gehabt, diese Bäume wegzuräumen. Dieses Hindernis wird später einem Menschen das Leben retten. Dabei wirken diese Plots nicht konstruiert, sondern eher fügen sich die einzelnen Teile wie durch einen Zufall zu einer sehr intensiven Geschichte in diesem Fall mit einem ironischen Happy- End zusammen. Friedrich Gerstäcker lehnt die Sklaverei in seinen Geschichten nicht vordergründig ab, sondern zeigt das unmenschliche Leben der Entrechteten an Hand von krassen Beispielen. Diese berichtet er dem Leser nicht als übergeordneter Erzähler, sondern lässt Menschen seiner Zeit – da die Geschichten zu der Zeit spielen, in denen er die Staaten bereist hat, gibt es wohl kaum ein authentischeres Bild der Menschen in den Südstaaten vor dem großen Krieg – sich gegenseitig berichten. Damit wirken diese Passagen ungewöhnlich eindringlich. Die Spannung bezieht insbesondere die zweite Geschichte aus der Tatsache, dass die Hilfe für einen Sklaven ebenfalls schwer bestraft wird. Sehr intensiv beschreibt der Autor die Emotionen der weißen Familie, die zwischen christlicher Pflichterfüllung und Angst vor der Entdeckung steht. In „Der Flatbootmann“ beschreibt ein inzwischen alter Mann den kleinen Goldrausch genauso nüchtern mit einer gehörigen Portion von Unverständnis wie das alltägliche Anlanden der Waren. Stilistisch macht Gerstäcker hier keine Unterschiede. Insbesondere seine Dialoge wirken aus heutiger Sicht ein wenig zu gestelzt, überbrücken aber nach einer entsprechenden Eingewöhnungszeit die Distanz von mehr als einhundertfünfzig Jahren. Seine weiteren Erklärungen bezüglich der Lebensweise der Menschen werden eher unauffällig, aber sehr pointiert in die laufende Handlung integriert. Wen scheinbar in „Die Wolfsglocke“ übernatürliche Elemente eine Rolle spielen – das Wolf scheint mit seinen Jägern zu spielen und sich aus einer Falle befreien zu können -, dann werden diese gegen Ende des Textes bodenständig, aber sehr pointiert negiert. Friedrich Gerstäcker ist im Gegensatz zu dem übertreibenden Karl May und dem phantastischen Robert Kraft ein sehr genauer Beobachter, dem es in seinen kurzweilig zu lesenden Texten darum geht, den Menschen in der deutschen Heimat ein objektives Bild der Welt zu geben. Dabei wehrt er sich in auch in den Texten selbst, eine Position per se gegen die Sklaverei einzugehen, viel mehr schildert er die sadistischen Auswüchse einzelner, kranker Männer, die ihren Frust an den schwarzen Leibeigenen auslassen und für diese Pflichtverletzungen im Verlaufe der Geschichten auch bestraft werden. Andere Menschen werden dank der Geschehnisse auf das Unrecht aufmerksam gemacht, müssen aber ihre Einstellung aus freiem, eigenem Willen ändern. Friedrich Gerstäckers Geschichten spielen im einfachen, bürgerlichen Volk und der Bevölkerung auf dem Land, es gibt keine Übermenschen, welche den christlichen Glauben vor sich hertragen. Es sind Menschen, die Strapazen auf sich genommen haben, um ein neues Leben zu beginnen und den Zwängen ihrer bisherigen Existenz zu entfliehen suchen. Friedrich Gerstäcker zeigt ihre kleinen täglichen Siege, aber auch die schmerzhaften Niederlagen in einem damals noch faszinierend wilden und freien Land. Mit der kleinen Sammlung inklusiv eines prägnanten, kurz zu lesenden Nachworts aus der Feder Thomas Ostwalds erhält der Neugierige einen ersten Einblick in das umfangreiche Werk dieses Weltreisenden. Seine Erlebnisberichte sind ursprünglich in umfangreichen Büchern erschienen, diese Novellen und Kurzgeschichten sind Teile seiner nach den bereisten Gegenden aufgeteilten Berichte. „Der Floatbootmann“ ist wie von Friedrich Gerstäckers Texten behutsam modernisiert worden, aber im Gegensatz zu vielen gekürzten und verstümmelten Texten erscheinen sie hier so weit wie möglich am Original orientiert. Wer sich für die Abenteuerliteratur im Allgemeinen interessiert sollte dieses Bindeglied zwischen Cooper und May kennenlernen.
Friedrich Gerstäcker: "Der Flatbootmann"
Anthologie, Hardcover, 280 Seiten
Karl May Verlag 2005
ISBN 3-7802-1075-4