Im vierten Band der „Earl Dumarest“ Reihe begegnet der Weltraumtramp zum zweiten Mal eine jungen wie hübschen Frau mit übernatürlichen Fähigkeiten. In „Die Telepathin“ würde ihm zum Rücktransport auf ihre Welt ein Mündel anvertraut, das die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen könnte. Im vorliegenden Roman stößt er auf Kalin, die er vor den im Blutrausch befindlichen Einwohnern des Planeten Logis rettet. Die Idee eines kontinuierlich wiederkehrenden Blutrausches dürfte aus „Star Trek“ übernommen worden sein. Leider nutzt E.C. Tubb Logis und dessen einzigartige Bevölkerung nur als Sprungbrett eines vielschichtigen Romans, in dem Tubb die im Grunde den Plot tötende Gabe seiner Protagonistin hinter zwei parallel laufenden Handlungsbögen verschleiert, deren Geheimnisse im tragischen Schlusskapitel zurecht gerückt werden. Im Verlaufe des Romans vertraut der Autor ohne Frage einigen bekannten Handlungselementen. Sowohl die Gabe der Hexerei in Funktion eines beschränkten Blicks in die Zukunft als auch die Telepathie eignen sich gut dafür, beim Glücksspiel die Wahrscheinlichkeiten in die gewünschte Richtung zu korrigieren und ausreichend Geld für Hochflüge zwischen den Planeten zu gewinnen. In beiden Arbeiten warnt die junge Frau Earl Dumarest vor bevorstehenden Gefahren, wobei Tubb eine zu starke Typisierung seines Plots meidet, in dem er Earl Dumarest nur Opfer von ihm nicht zu vertretender Umstände werden lässt. In vielen Dumarest Romanen verliebt sich der Weltraumtramp in seine Reiseabschnittsbegleiterin, wobei junge Mädchen mit übernatürlichen Fähigkeiten fast schon väterliche Instinkte in ihm wecken, während die anderen Frauen entschlossen mit beiden Beinen auf den jeweiligen Planetenböden stehen und ihm auf Augenhöhe begegnen können. Es ist kein Zufall, dass die Liebesgeschichten in „Die Telepathin“ wie „Kalin- die Hexe“ tragisch enden und unerfüllt bleiben. Tubb gelingt es aber, diese traurig melancholische Stimmung in so weit zu steigern, in dem er offenbart, das Kalins Identität auf einer Lüge aufgebaut worden ist. Ohne Frage ist es mutig, einen derartig sympathischen Charakter komplett zu demontieren, auch wenn Dumarest männlich und ehrenvoll die Illusion über den „Tod“ – in vielen Romanen für die wichtigen Protagonisten eine Form des Übergangs – hinaus beibehält.
Bei vielen Handlungselementen geht „Kalin- die Hexe“ neue Wege. In Bezug auf seine bislang ausschließlich indirekte Konfrontation mit den Cyber/ Cyclan geht der vorliegende Roman einen Schritt weiter. In seiner Wut töten Earl Dumarest ein Mitglied der Cyclan, in dem er ihn etwas theatralisch über die Balkenbrüstung eines Herrschaftssitzes schleudert, der die ambivalente Zukunftssicht – Mittelalter trifft auf Raumschiffe – Tubbs bestens präsentiert. Auch wenn die Cyclan wieder Ränkespiele im Hintergrund ausnutzen und die lange andauernden Blutrachen auf Solis – vielleicht ist die Kombination eines Planeten mit Quartalsbeserkern auf Logis und die auf den italienischen Familien aufbauende Ideen einer Blutrache und der entsprechenden Sippenhaft zu ähnlich, um in ein stringentes Buch gepackt zu werden – zu ihrem Vorteil verlängern, gewährt Tubb einen Einblick hinter die stoischen Maske der Halbmenschen, in dem er einen von ihnen von den Erfahrungen seiner Umwandlung und dem flüchtigen Ideal der Zahlenwelt berichten lässt. Auf die weitere Pläne dieser anscheinend nach galaktischer Herrschaft strebenden Kunstmenschen und ihre Hierarchien geht er nicht weiter ein. Bislang konnte der Leser nur erfahren, dass sie ihre Aufträge mit einem erstaunlich beschränkten Rahmen an Eigeninitiative und Entscheidungskompetenzen erledigen musste. So fiel es den potentiellen Geschäftspartnern leicht, weiterhin eigene Interessen zu vertreten. Die Cyber spielen aber in „Kalin, die Hexe“ eher eine untergeordnete Rolle.
Viel interessanter ist die gemeinsame Reise Dumarest und Kalins zurück nach Solin. Kaum hat Dumarest die junge Frau vor den Berserkern gerettet, in dem er eine Passage zum nächsten Planeten gebucht hat, müssen sie ihr Raumschiff verlassen, da der Plan zweier Gangster schief geht und das Schiff im Nichts explodiert. Dumarest und Kalin finden sich auf einem Sklavenschiff wieder, das die beiden zu einem Sklavenplaneten bringt, auf dem die Gestrandeten mit den Explosionskragen um den Kragen nur bis zum Umfallen arbeiten können und müssen. Die Idee der Sklavenoligarchien – sei es für die Unterhaltung der herrschenden Diktatoren wie in „Die Telepathin“ oder „Planet der Spieler – oder wie im vorliegenden vierten Abenteuer alleine zum Fördern seltener Bodenschätze unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen - scheint für eine derartig in der Zukunft spielende Serie kontraproduktiv. Auf der anderen Seite ist Schwerindustrie für Tubbs erste Dumarest Romane ein Fremdwort. Auf den Planeten werden für einen monokulturellen „Tauschhandel“ Rohstoffe abgebaut oder wie in „Die Telepathin“ wertvollster Honig geerntet, es gibt aber keine zweite Stufe der Verarbeitung. Dadurch wird für den Leser phasenweise nachvollziehbar, dass sich die Menschen in frühen Stadien der Fertigung entweder verdingen müssen oder bei Niedrigstlöhnen gehalten werden. Ein anderer Aspekt macht die Serie aber sehr viel realistischer. Natürlich klafft ein kultureller Spalt – so breit wie ein Canyon – zwischen den Mitgliedern der verschiedenen Klassen. Während die Reichen – in erster Linie Oligarchen und ironisch, aber wenig überraschend mehr oder minder funktionale Politiker ohne eigenes Charisma – zu der gehobenen Klasse reisen, verkörpern die einfachen Menschen die Frontiermentalität des Wilden Westens. Sie reisen im Kälteschlaf mit einem fünfzehn Prozent hohen Risiko, die Reise nicht zu überleben, von Planet zu Planet. Das Geld für die nicht billigen, aber primitiven Passagen müssen sie sich verdienen. Die verschiedenen Industrien nutzen die verzweifelten wie billigen Arbeitskräfte aus. Nicht selten wird schon eine gewaltige Steuer fällig, um die außerhalb der planetaren Hoheitszone liegenden Raumhäfen zu verlassen. Tubb beschreibt dieses Aufeinandertreffen von Menschenmaterial und Ausbeuterkapitalismus mehrmals drastisch. Auf Logis darf nur jemand das Raumhafengelände von Planetenseiten betreten, der über ein gebuchtes und bezahltes Flugticket verfügt. Auf Hive werden die Menschen auf dem Raumhafengelände interniert. Auf dem Gelände ist wenig Platz und es gibt keine Lebensmittel oder Wasser für die Verzweifelten, außerhalb müssen sie sich für die lebensgefährliche Arbeit des Hönigsammeln verpflichten. Diese Ausbeutung der Massen gibt den Dumarest Romanen einen interessanten, wie die sechziger Jahre sogar provokant modernen Zug.
Im Vergleich zu anderen Romanen und angesichts der Einschränkung, das Kalin im Grunde schemenhaft alle Ereignisse vorhersehen kann, verzichtet der Autor auf die inzwischen fast stereotyp wirkenden Arenaspiele, in denen sich Dumarest gegen alle Wahrscheinlichkeiten durchsetzen kann und angesichts von noch fast dreißig weiteren Abenteuern auch durchsetzen muss. Dadurch erscheinen die fast obligatorischen Actionszenen intensiver und variabler. Hinzu kommt, dass Tubb positiv aus dem Roman das teilweise hektische Tempo anderer Teile nimmt. Kalin und Dumarest können unter primitiven Verhältnissen auf der Sklavenwelt aufeinander zu gehen. Dadurch wirkt das tragische Ende sehr viel intensiver, wenn sich herausstellt, dass die Kalin suchende Familie weniger an der Vollendung einer Blutrache interessiert ist, welche die Geschlechter beider Familien fast gänzlich ausgerottet hat, sondern das es einen anderen, von Tubb intensiv beschriebenen, aber zu wenig extrapolierten Hintergrund gibt, welcher den Roman aus den bisherigen Abenteuern heraushebt. In keinem seiner Dumarest Abenteuer hat der Autor übernatürliche Fähigkeiten seiner in erster Linie weiblichen Protagonist hintergründig erläutert. Sie wirken wie Absonderlichkeiten einer sich stetig verändernden menschlichen Natur, die auf – davon ist Dumarest im Vergleich zu fast allen anderen Menschen, denen er begegnet, überzeugt – den gemeinsamen irdischen Wurzeln basiert. Mit Kalin verfügt der Roman über eine sehr dreidimensionale Frauenfigur. Anfänglich erinnert sie in ihrer Schwächlichkeit an die Telepathin aus dem zweiten Roman, wobei der Autor ein wenig überzogen sogar so weit geht, sie aus der Perspektive der abergläubischen Logisbewohner als hexe darzustellen und damit den Kreis zu den Vorurteilen der Erde gänzlich zu schließen. Wenn schließlich im abschließenden Kapitel Kalins doppeltes Geheimnis offenbart wird, ist nicht nur Dumarest berührt, sondern der Leser hinterfragt das bisher literarisch Erlebte. Eine Stärke dieses auf den ersten Blick auf der Abenteuerhandlungsebene ein wenig zu dünnen Buches, das im Verlaufe über die Charakterebene sehr zufrieden stellend an Tiefe gewinnt und zu den besten frühen Dumarest Abenteuern gehört.