Dunkle Gewässer

Joe Lansdale

In den USA ist “Edge of Dark Water” als ein Jugendbuch vermarket worden. In Deutschland richtet sich die Veröffentlichung in erster Linie an ein Krimipublikum. Der Roman steht ohne Frage zwischen diesen beiden Extremen. Einige Szenen insbesondere gegen Ende des Plots könnten für jugendliche Leser ein wenig zu schockierend sein, auf der anderen Seite gibt es im Grunde keinen klassischen Ermittlungsplot. Wie fast alle seine anderen, serienunabhängigen Romane beinhaltet die Handlung eine Reise, in diesem Fall weniger eine Suche als eine Art Gang nach Canossa. Der große Unterschied zu vielen seiner Bücher liegt in der Tatsache begründet, dass dieses Mal die Protagonisten nicht von ihrem Heimatort im klassischen Sinne durch Verbrecher oder Naturkatastrophen aus der Zeit des Spätwesterns oder der großen Depression vertrieben werden, sondern sich selbst eine Mission auferlegen, die im Verlauf ihrer Reise zu einer charakterlichen Reife führt. Wie aber in allen Lansdale Romanen steht im Mittelpunkt ein von Beginn an schon überdurchschnittlich „reifer“ – eher in intellektueller denn körperlicher Hinsicht zu sehen – Charakter, an dem sich trotz entsprechender Selbstzweifel andere aufrichten können. Wie in „Das Dickicht“ spielt Mark Twain mit seinen Geschichten indirekt eine wichtige Rolle. Im übertragenen Sinne ließe sich ohne Probleme der Bogen zu „Twin Peaks“ schlagen.

Zusammen mit einigen Freunden findet Sue Ellen die Leiche May Lynns im Fluss. Ihre Hände und Füße sind gefesselt, eine alte Nähmaschine hat ihren Körper nach unten gezogen. Sue Ellen ist schockiert, das weder der örtliche Sheriff noch ihr Alkohol kranker  Vater etwas hinsichtlich des Verbrechens unternehmen wollen. Sue Ellen stellt während dieses dramatischen Auftakts dem Leser ihre Gemeinde vor. Dabei zeigt sich ihre Verachtung sowohl der eigenen, die Realität mit Betäubungsmitteln ausblenden Mutter als auch der debilen Gemeinde gegenüber überdeutlich. Durch einen Zufall finden sie Sue Ellens Tagebuch, in dem sie auf ein Geldversteck hinweist, das von ihrem Bruder stammt. Dieser hat verschiedene Banken überfallen, bevor er eines natürlichen Todes gestorben ist. May Lynn wird von Sue Ellen zwar als attraktiver Freundin, aber auch als kleine Dorfschlampe, die von einer Hollywoodkarriere träumte und sich gerne von Männern einladen ließ. Mehrere Faktoren bedingen, dass Sue Ellen mit ihren Freunden beschließt, May Lynns Leiche auszugraben und zu verbrennen, das Geld ihres Bruders zu finden und die Asche nach Hollywood zu bringen. Damit wollen sie den letzten Willen der Freundin erfüllen.

Auch wenn die Idee pervers erscheint, ist es die emotionale Erzählstruktur des Romans, die einige gruselige Aspekte so distanziert und trotzdem ansprechend erscheinen lässt. Nach dem ersten Drittel des Buches angesichts des fehlenden Interesses an einer Aufklärung des Verbrechens erscheint es als einzige Möglichkeit, um May Lynn Ruhe und Frieden zu verschaffen. Die Planung ist dabei nicht dem Zufall geschuldet, sondern eine bunt gemischte Gruppe Jugendlicher, die über den Vorurteilungen ihrer Eltern gegenüber Schwulen (weiß) und Farbigen (weiblich), plant ihr Vorgehen ausgesprochen gut. Kurz vor der Flucht schließt sich Sue Ellens Mutter der Gruppe an. Sie versucht, von den Betäubungsmitteln wegzukommen. Dieses Widerstehen der Drogen wirkt vielleicht ein wenig zu moralisierend und aufgesetzt, soll aber die Identifikationsmöglichkeiten der Heranwachsenden erweitern.  Auch dient die Mutter als Symbol der positiven Veränderung, hilft als Erwachsene in kritischen Fragen und zeigt durch ihre damalige Unentschlossenheit, dass es wichtig ist, seine Träume umzusetzen.  Spannungstechnisch setzt Lansdale noch ein sehr skurriles Element in die Handlung ein. In der kleinen Gemeinde haben neben dem Sheriff auf May Lynns und Sue Ellens Vater mitbekommen, dass die Kinder über Geld verfügt haben. May Lynns Vater heuert eine Sagengestalt – Skunk – an, um das Geld zu bekommen, während sich der sadistische Sheriff und Sue Ellens Vater selbst auf die beschwerliche Reise machen.  „Dunkle Wasser“ ist wie schon eingangs erwähnt kein klassischer Kriminalroman. So ist es wenig überraschend, dass der eigentliche Kriminalfall relativ schnell keine echte Rolle mehr spielt, die Auflösung fast nebenbei erfolgt und die Konsequenzen daraus diskussionswürdig sind. Von Beginn zeigt der Autor auf, dass alle Haupt-  und vor allem die Nebenfiguren teilweise schwere moralische Pakete mit sich herumtragen. May Lynns Tod und die Verfolgung durch Skunk sind Katalysatoren, die sie dazu zwingen, über die eigenen bisherigen Entscheidungen nachzudenken und sich ihnen zu stellen. Das erfolgt auf sehr unterschiedliche, aber durchgehend ansprechende Art und Weise. Nicht selten wird die Erwartungshaltung des Lesers gereizt, um dann das Szenario auf eine gänzlich andere Art und Weise zu unterminieren. So handelt es sich um keinen Sexualmord; so ist Sue Ellens Mutter keine Schlampe und schließlich das Geld für diese Reise nicht unbedingt wichtig. Es ist das Zusammenspiel zwischen der kleinen verschworenen Gruppe und ihrem Umfeld, was den eigentlichen Reiz des Plots ausmacht. Anfänglich in sich selbst, später durch ihre Umgebung werden sie immer wieder mit Vorurteilen und Vorwürfen konfrontiert, gegen die sie sich nicht immer richtig zur Wehr setzen können. Mehr und mehr sind es ihre Taten, welche schwierige Situationen entscheiden. Obwohl sich manchmal am Rande des vielleicht notwendigen, aber zumindest nicht belehrend präsentierten Klischees bewegend überzeugen die meisten positiven Figuren ausgesprochen gut.  

Zu den Schwächen des Buches gehört ohne Frage, dass sich Lansdale nicht richtig entscheiden konnte, welchen Weg er wirklich gehen will. Die Reise an sich ist nicht nur gut, sondern auch atmosphärisch dicht, intensiv und zeigt, wie gut sich Lansdale vor allem im Osten Texas auskennt. Mit seiner Liebe zu Details, seinem Hang weniger zu beschreiben als es den Leser nicht immer angenehm erleben zu lassen, wird dieser vom ersten Augenblick an in diese bizarre Welt eingezogen, die vom Fluss lebt, der sadistisch immer wieder seinen Lauf verändert und diese Veränderung den Menschen förmlich aufzwingt. Nicht wie Joseph Conrad wird der Fluss zu einer eigenen Persönlichkeit, aber der Amerikaner kommt diesem Ideal schon sehr nahe.  Landschaften und Charaktere verwischen immer mehr. Vielleicht ist es deshalb auch doppeldeutig, wenn schließlich nicht der Mensch, sondern die Natur Skunk besiegt. Aber Lansdale passt sich auch der langsamen Flussgeschwindigkeit inhaltlich an. Schnell finden die Reisenden Obdach bei einem Priester, dessen guter Ruf – wieder der Hinweise auf die verschiedenen Vorurteile – durch die alleinstehende Frau mit Anhang ruiniert wird. Er muss schließlich fast erleichtert den Ort mit Ihnen verlassen.  Aber dieser lange, fast idyllische Aufenthalt – natürlich haben die Verfolger sie nicht nur ein-, sondern überholt, so dass der Schock der Wiederbegegnung brutal, aber eher ernüchternd ausfällt – lässt den Plot außer Tritt geraten. Wie bei einigen anderen Landsdale Romanen erscheint das Ende plötzlich überstürzt, fast hektisch in seiner Auflösung, aber als Ausgleich präsentiert der Autor weniger einen Epilog als eine Art ironischen Kommentar, in dem fast alle roten Fäden bis auf das Ende der Reise überwiegend zufriedenstellend abgehandelt werden.  Skunk ist dagegen eine Problemfigur. Ein Charakter, ein Alptraum wie aus dem Märchen, der Mensch nicht nur quält, sondern ihnen die Hände abhackt. Ohne eigene Persönlichkeit wirkt er wie eine Mischung aus diversen Splatter Romanen zusammengesetzt, um die Leser zu erschrecken. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet der korrupte Sherriff gefährlicher erscheint als dieses eindimensionale Monster, das im Grunde an der eigenen impulsiven Dummheit scheitern soll, während es bis dahin raffiniert und vor allem effektiv die Spur gehalten hat. Dieses Überwinden gleich mehrfacher Traumata durch die wichtigste Identifikationsfigur des Lesers – Sue Ellen – erscheint wie der Eber in „Das Dickicht“ als maßlose Übertreibung, welche den bisher semirealistischen Thriller zu sehr in den Bereich des platten, aber effektiven Horrors treibt. Bis auf diese offensichtliche Schwäche gehört aber „Dunkle Wasser“ nicht zuletzt aufgrund der intensiven wie emotional sehr ambivalent aufgebauten Auseinandersetzung mit dem Leben/ Überleben während der Depression an einem Gott verlassenen Ort der Erde zu Lansdale vielleicht nicht besten, aber zwischenmenschlich reifsten Büchern.               

Originaltitel: Edge of Dark Water
Originalverlag: Tropen
Aus dem Amerikanischen von Hannes Riffel Phantastische Buchhandlung

Erstmals Heyne tASCHENBUCH

Taschenbuch, Broschur, 320 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-453-67656-5

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