Blutiges Echo

Joe R. Lansdale

Joe R. Lansdales „Lost Echos“ komm vielleicht am nächsten an die Stephen King Romane der frühen Ära wie „Shining“ – bestimmte Ereignisse empfindet der Harry Wilkes als beängstigende Visionen – und „Dead Zone“ – diese Prophezeiungen können körperliche Schäden hinterlassen – heran. Auf der anderen Seite macht es sich der Texaner hinsichtlich der Plotführung seines so typischen Krimis auch relativ leicht, da das Auffinden des Täters dank Wilkes Visionen zwar möglich, eine Beweisführung allerdings unmöglich ist. Am Ende des Lektüre dieses geradlinigen Romans bleiben für den Leser zwar keine Fragen offen, aber hinsichtlich der Ausgestaltung des Plots vor allem auf den letzten fünfzig Seiten macht sich ein Gefühl der Leere breit. Es fehlt nicht nur die typische Deduktion, das Auffinden eines oder mehrere Verdächtiger in einer kleinen, durch die Weiten Texas fast isolierten Gemeinde wie es in „A fine dark Line“ der Fall gewesen ist, auch die Motive wirken eher schwammig und klischeehaft.

Als Junge ist Harry Wilkes an einer Mischung aus Mumps und einer Ohrenentzündung erkrankt. Nach seiner Leidenszeit empfängt er an einigen Orten Visionen, die in erster Linie mit Kapitalverbrechen wie Morden in einem Zusammenhang stehen. Er klingt sich zwar als subjektiver Beobachter in diese teilweise sehr lange zurückliegenden Ereignisse ein, er empfängt allerdings weder ein objektives Bild noch kann er unmittelbar Opfer und Täter identifizieren. Diese Visionen machen ihn zu einem Außenseiter. Auf dem College verfällt er schließlich dem Alkohol. Durch einen Zufall lernt er die attraktive Tochter eines einflussreichen und reichen Mannes der Gemeinde kennen, die sich gegen alle Wahrscheinlichkeiten in ihn verliebt. Diese Beziehung ist das erste, allerdings nicht letzte Klischees des Romans. Zu Lansdales unbestrittenen Fähigkeiten gehört es, mit wenigen signifikanten Beschreibungen lebensechte Charaktere zu erschaffen und insbesondere Talia gehört anfänglich zu den vielschichtigsten Figuren des Buches. Der Leser hat einen Moment den Eindruck, als agiere der Autor absichtlich gegen die Klischees einer verwöhnten, natürlich sexsüchtigen verzogenen Göre und versucht eine nuancierte Figur in die Handlung einzubauen. Erst als Wilkes Jugendfreundin Kayla, die inzwischen eine Polizisten geworden ist, zurückkehrt, um einen Gefallen quasi einzufordern, zerbricht dieser falsche Eindruck und innerhalb weniger Seiten wird Talia zum erwarteten Klischees, wobei die „Trennungsszene“ nicht nur dramaturgisch ausgezeichnet beschrieben worden ist, sondern für Wilkes und den Leser noch unbestimmt den Schlüssel zu einer ganzen Mordserie beinhaltet, die seit Jahren eher unbeachtet von der Öffentlichkeit in der kleinen Gemeinde stattfindet. 

Natürlich ist Kayla das Gegenteil von Talia. Auch attraktiv, aber trotz ihres Polizistenjobs auch verhalten vorsichtig, von den „Schwächen“ ihres Elternhauses immer noch gezeichnet bittet sie Wilkes, ihr bei der Aufklärung des aus ihrer Sicht Mordes an ihrem Vater zu helfen.  Der Leser ahnt schon, dass die beiden Verbrechensebenen miteinander in einem engen Zusammenhang stehen, zumal Joe Lansdale durch wechselnde Perspektiven im ersten Drittel des Buches einige unnötige, eher dramaturgisch die ansonsten sich ruhig, aber interessant entwickelnde Handlung aufblähende Hinweise hinterlassen hat.

In seinem Roman „Doctor Sleep“ hat sich Stephen King intensiv und sehr persönlich mit dem Thema Alkoholismus auseinandergesetzt. Das Erstaunliche an „Lost Echos“ ist, dass Joe Lansdale mit seinem Protagonisten Harry Wilkes nicht nur einen tragischen Alkoholiker in den Mittelpunkt seiner Handlung stellt, sondern ihm eine Art brüchigen Mentor in Person Tads an die Seite stellt. Dabei sind die zur Alkoholabhängigkeit führenden Umstände der beiden Männer extrem konträr. Wilkes ist ein klassisches Opfer, das aufgrund der Visionen in die Isolation und Einsamkeit getrieben wird. Der Autor bietet keine Erklärungen an. Während Stephen King in „Dead Zone“ sie als „schwarze krebsartige Zonen“ und in „The Shining“/ „Doctor Sleep“ als Gaben bezeichnet, bietet Lansdale keine Antworten an. Die Stärke des Romans ist aber wie in „Doctor Sleep“ das Überwinden der eigenen Schwäche durch die Liebe von Mitmenschen, das Sammeln von Kraft und schließlich vor allem auch das Entsagen in diesem Fall passiv auf drastische Art von falschen Freunden. Dabei erscheint Tad als der nuanciertere Charaktere. Ein Martial Arts Kämpfer, dem in einem Moment der Schwäche Frau und Kind weg gerissen und sein bisheriges Leben zerstört wird. Er zerbricht an diesem Moment und rafft sich erst wieder auf, als der Harry Wilkes zu helfen sucht. Emotional überzeugend und nicht am Rande des Kitsches entlang beschreibt Lansdale, wie diese beiden Männer ihr Selbstbewusstsein wieder herstellen, auch wenn sie durch ihre etwas naiven Untersuchungen die Aufmerksamkeit der Killer auf sich lenken. Diese Abschnitte erscheinen auf den ersten Blick in einem klassischen Lansdale Roman umpassend, fügen sich aber aus einer bewusst erwachsener gewählten Perspektive in das immer wieder durchlaufende Thema des „Coming of Age“ ein, das nicht nur den angesprochenen „A fine dark Line“, sondern seine Jugendbücher wie auch seine serienunabhängigen Krimis durch die Wahl der in einer wichtigen Entwicklungsphase steckenden Protagonisten auszeichnet.  In vielen Lansdale Romanen wird die klassische Vaterfigur gegen einen starken erwachsenen Freund ersetzt. Diese Rolle übernimmt Tad, obwohl er selbst sein Leben in den Griff zu bekommen sucht. Immer am Rande des Klischees mit den Durchhalteparolen und der stetigen Verführung durch den Alkohol zeichnet Lansdale ein realistisches, aber den eigentlichen Plot auch dominierendes Portrait zweier gesellschaftlicher Außenseiter, die aus Isolation und Schuldgefühlen zu Alkoholikern geworden sind.

Frauencharaktere gehören nicht unbedingt zu den starken Seiten Lansdale. Mit der reichen, natürlich sexgeilen Tochter eines rücksichtslosen Millionärsopportunisten mit dem Hang zum Tontaubenschießen wird eine Chance vergeben, während die Jugendfreundin Kayla ein doppelt schweres Los trägt. Zum einen muss sie versuchen, ihre sehr einfache Herkunft – sie kehrt schließlich in ihre Heimatstadt zurück – als Polizisten zu überdecken und auf der anderen Seite Wilkes in doppelter Hinsicht – gegen seine Alkoholsucht als auch seine Gabe – zu helfen und ihn trotzdem zu „benutzen“. Es ist interessant, dass Lansdale anfänglich die Beziehung zwischen der reichen Talia und dem naiven Wilkes besser beschreiben konnte als die vor Klischees wie bis zum „Wundsein sich lieben“ deutlich vielschichtigere und ehrlichere Beziehung zur Jugendfreundin. 

Als Antagonisten dient im Grunde auch ein Klischees des Genres. Ohne zu viel zu verraten handelt es sich um eine Autoritätsperson und einen willigen Helfer, der ihre Machtbefugnisse ausnutzend zu Serienvergewaltigern und Massenmördern werden. Die Idee, dass insbesondere das Gehirn hinter den Aktionen, einen dritten Mann quasi mit einbezieht, erscheint konstruiert und dient vor allem aufgrund der sadistischen und pseudoerotischen, aber kritisch besprochen auch unnötigen Exzesse als  Einstieg in seinen Fall. Die klinische Distanz in den nicht voyeuristisch ausgemalten Gewaltszenen mit einem Hang gegen Ende zu Comicartiger Übertreibung lässt das Geschehen in diesen Sequenzen auf der einen Seite erträglicher machen, auf der anderen Seite fehlt ein wenig der Bogenschlag zu den Ermittlungen. Lansdale baut kein Tempo in wichtigen Passagen auf und vertraut vielleicht ein wenig zu sehr seiner Figurenentwicklung, was im letzten Drittel des Romans vor allem angesichts der vielen naiven Fehler, welche die drei „Freunde“ begehen, zu wenig ist.

Ohne Frage ist „Lost Echos“ der Versuch, das harte Krimigenre mit phantastischen, übernatürlichen, aber nicht weiter erklärten Elementen zu verbinden. Insbesondere im Vergleich zu Kings rein tragischen Figuren und seiner Fähigkeit, nicht nur dreidimensionale Charaktere zu entwickeln, sondern sie in der frühen, tragischen Phase seines Werkes auf hohem Niveau scheitern zu lassen, wirkt „Lost Echos“ ein wenig zu einfach konstruiert, zu stringent und zu wenig handlungstechnisch überraschend. Zwar legt der Autor der Erwartungshaltung der Protagonisten gemäß ab und zu eine falsche Spur, ihm fehlt aber der Mut, letzt endlich aus den bekannten Handlungsmustern etwas wirklich Überraschendes zu zimmern. Sprachlich insbesondere in der Originalfassung intensiv mit sehr gut geschriebenen Dialogen verfliegt die anfänglich melancholisch depressive Atmosphäre einer Jugend in einem der unwirtlichen Bundesstaaten der USA insbesondere im zu schlangen, zu elegant eloquenten und doch plötzlich die Klischees reitenden Mittelteil, bevor die finale Auseinandersetzung mit reichlich Zufällen und vor allem Fehlern auf der Antagonistenseite stimmungstechnisch solide, aber zu wenig inspiriert niedergeschrieben worden ist. Ein durchschnittlicher Joe Lansdale Roman, der insbesondere auf der handlungstechnischen Ebene leider das Potential nicht heben kann, das in den brüchigen, aber nicht zerbrochenen Charakteren steckt.    

 

  • Broschiert: 308 Seiten
  • Verlag: Golkonda Verlag (25. September 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3942396831
  • ISBN-13: 978-3942396837
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