Paradise One

David Wellington

David Wellington hat sich seit seinen ersten Versuchen im eigenen Internetblog in fast allen Bereichen des Genres herumgetrieben. Meistens sogar mit Erfolg. Zombies, Vampire und Werwölfe stellten die Eckpfeiler seiner mehr als ein Dutzend Horror Romane dar, von denen die meisten auch in Deutschland im Piper Verlag erschienen sind.

Unter dem Pseudonym David Chandler publizierte der hauptberuflich als Archivar der Vereinten Nationen arbeitende Wellington eine Fantasy Trilogie (ebenfalls Piper Verlag).  Zwei der drei „The Silence“ Trilogie Romane veröffentlichte der Heyne Verlag in seiner SF Reihe. Unter dem Pseudonym D. Nolan Clark startete er in der SF durch.  

Daneben schreibt er noch Thriller um einen US Spezialeinheit- Veteranen.

Mit „Die letzte Astronautin“ erschien noch im Piper Verlag sein erster Solo Science Fiction Roman“, den vorliegenden „Paradise One“ publizierte der Heyne Verlag.  Das abrupte Ende nach mehr als achthundert Seiten impliziert, dass es sich um den ersten Band einer neuen Serie handeln könnte. Im Interview auf “Die Zukunft” spricht David Wellington davon, dass die Grundidee von seinem Lektor beim Verlag Orbit stammte. Anscheinend hat das ganze Team hinter den Kulissen einzelne Aspekte zur Handlung beigetragen. Auch wenn das Tempo der Geschichte hoch und die wenigen agierenden Personen/Roboter/K.I. gut charakterisiert worden sind, wirkt das ganze Epos nicht gänzlich stringent oder stimmig komponiert. Immer wieder hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als habe David Wellington auf eine Idee oder einen Einwurf reagiert. Um nicht die ganze Handlung durcheinander zu wirbeln, wurde eine Exkurs gebildet; eine spannende Sequenz integriert, um anschließend wieder auf die Haupthandlung zurückzuführen.   

Im Prolog führt der Autor Alexandra Petrova, ein Mitglied der Brandwache ein. Der Begriff stammt aus dem Zweiten Weltkrieg und bezeichnet vor allem die Menschen in Großbritannien, die nächstens über den Dächern der Städte gewacht haben. Sie sollten Feuer bei den Bomberangriffen der Deutschen melden und möglichst auch bekämpfen. Ihre Mutter war ein hohes Mitglied der Brandwache.

Auf Ganymed hat sie einen angeblichen Massenmörder aufgespürt und will ihn ausschalten. Das fehlende Okay der Vorgesetzten ignoriert sie und geht alleine vor. Sie ist sich ihrer Tat voll bewusst. Die Szene wird auf eine fast tragische Art und Weise aufgelöst.

Natürlich wird sie auf eine besondere Art und Weise bestraft. Sie soll zusammen mit Dr. Zhang  Lei– eine Arzt mit einer eigenen Vergangenheit – zur Kolonie Paradise One fliegen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Ihre Mutter Ekaterina war eine der ersten Kolonisten nach dem Eintreten in den Ruhestand.   

Ihr Pilot wird auf dieser Mission Sam Parker sein, mit dem sie mal eine Woche zwischen den Kissen verbracht hat. Anschließend haben sich ihre Wege getrennt.

Zhang Lei ist der einzige Überlebende einer anderen im Sonnensystem gelegenen Kolonie.  Er muss ein Armband tragen, das normalerweise mit Gefangenen in Verbindung gebracht wird. Aber in der Theorie ist er aufgrund seiner Erfahrungen der beste Mann, um nach Paradise One zu reisen. Und das gleich zu Beginn und nicht wie David Wellington impliziert irgendwann.  

Kaum sind sie im fremden Sonnensystem eingetroffen, wird ihr Schiff angegriffen und schwer beschädigt. Der Angriff kommt von einem der mehr als einhundert Raumschiffe der Erde im Orbit um Paradise One. Die Überlebenden müssen mit ihrer Erfahrung, aber auch ihrer Improvisationsfähigkeit gegen zahlreiche Herausforderungen ankämpfen, um schließlich irgendwann den Planeten zu erreichen. Diese Odyssee nimmt den größten Teil des Romans ein.

Ohne zu viel zu verraten, basiert „Paradise One“ auf Algis Budrys Roman „Projekt Luna“, nur ins Unermessliche gesteigert. In diesem Buch  musste jeweils ein Astronaut durch ein außerirdisches Konstrukt auf dem Mond wandern. Dabei stellte er sich lebensgefährlichen Herausforderungen und musste immer wieder den inneren Schweinehund überwinden. Anweisungen von außen drangen nicht zu den mehr oder minder Freiwilligen vor.

David Wellington impliziert, dass die Brandwache von Beginn an wusste, dass etwas faul im Paradise One System ist. Immer wieder hat diese einflussreiche Organisation Raumschiffe – nur wenige Kriegsschiffe, sondern eher Raumtransporter – ausgeschickt, damit die jeweilige Besatzung sich den Gefahren stellen, an ihnen scheitern und die Erkenntnisse durch die K.I.s an Bord zurückschicken sollte. Ohne das Wissen der Besatzung natürlich. Jeder tödliche Fehler konnte aufgezeichnet werden, die nächste Crew sollte es anders machen, einen Schritt weiter gehen, um nicht etwa eine Gefahr, sondern deren zwei Gefahren zu überwinden. Wobei die zweite Herausforderung eher genereller Natur ist und gar nicht überwunden werden kann.

Einen Freiwilligen in ein Labyrinth und dadurch auch in den Tod zu schicken, ist für den Leser noch nachvollziehbar. Phillip P.Petersen geht in seinen „Transport“ Romanen auch so vor. Das Militär ist eben bis zu einem bestimmten Grad auch rücksichtslos.

Aber der Aufwand, der hier betrieben wird, erscheint unlogisch. Die Robotik in Kombination mit den exzentrischen K.I.s der Raumschiffe ist schon relativ weit, sodass man grundsätzlich keine Menschen mehr schicken muss. Vielleicht weil Menschen besser improvisieren können, aber dann dürfen die mechanischen Helfer sie nicht behindern oder einschränken, wie es im vorliegenden Roman nicht nur an einer Stelle der Fall ist. 

Zweitens steht der Aufwand von mehr als einhundert möglicherweise verlorenen Raumschiffen – sie befinden sich allerdings alle noch im Orbit um den Planeten – und hunderttausenden von „Toten“ – sie sind überwiegend noch eingefroren – macht keinen wirklichen  Sinn, zumal das Team Lei/Parker/ Petrova gar nicht auf die Mission vorbereitet wird. Das ist ein Widerspruch zu der angeblichen perfiden Planung der Brandwache und ein anderes Team hätte wahrscheinlich die ersten Stunden nicht überlebt.

Die zweite Gefahr ist eine außerirdische Lebensform, der Zhang schon begegnet ist. Der verschüchterte Arzt nennt diese einen Basilisken. Dessen Fähigkeiten sind ambivalent. Sie kann Mensch und K.I. befallen. Beide reagieren unterschiedlich auf dieses Wesen. Nur wenige Menschen sind immun und zu denen gehört Zhang Lei. Warum man den Mann (er ist eher verachtet als geachtet) erst auf Mission 115 oder so nach Paradise One schickt, wird nicht wirklich herausgearbeitet. Auf einem Raumschiff beginnen sich die Menschen wie die Zombies in Wellingtons ersten Horror Romanen gegenseitig zu verspeisen; auf einem anderen Raumschiff leben die Überlebenden in absoluter Dunkelheit, weil sie Angst haben, mit Licht den Basilisken zu ködern. Auf einem dritten Raumschiff beschießen sie die Neuankömmlinge mit Transportcontainern voller Yam Wurzeln, wobei sich die Frage stellt, wie die Yam Wurzeln  in das System kommen. Auf den anderen Raumschiffen gibt es Fertignahrung, um den noch eingefrorenen Kolonisten im Notfall zu versorgen.    

David Wellington ist einer der Autoren, die ihre Figuren auf einem imaginären Spielbrett verteilen und dann bis zum Ende (des Romans) das Gaspedal durchdrücken. Cineastische Science Fiction im Buchformat. Neue Actionszenen, neue Herausforderungen, neue Gefahren, nur wenige andere Perspektiven und kein konkreter Blick auf das Ganze. In dieser Hinsicht ist „Paradise One“ sicherlich eine gute, oberflächliche Unterhaltung in der alten Tradition der Pulp mit Exkursen in den Bereich der K.I. und Robotik. Dazwischen eine Handvoll Menschen mit eigenen Vergangenheiten und Befindlichkeiten, dann passt es schon.

David Wellington will aber nicht nur spannende Unterhaltung im direkten Vergleich zum Beginn seiner Karriere anbieten. „Paradise One“ noch mehr als „Die letzte Astronautin“ will belehren, mahnen. Pointierte Dialoge – teilweise wirklich überzeugend gut und pointiert geschrieben – wechseln sich mit Sequenzen ab, die an eine Rocky Horror Picture Show Parodie auf Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ erinnern. Insbesondere die K.I. mit verschiedenen Persönlichkeiten sowie der Bord Roboter Rapscallion, ein Verwandter von Bender aus „Futuruma“,  mit eigenen Drei- D-Drucker für die verschiedenen Körper wirken manchmal eher wie eine Farce als durchdachte Geschöpfe. Über die Beschreibungen hinaus agier der Autor dann wieder logisch, indem er deutlich macht, dass das Rechnen einer unendlichen Zahl nicht reicht, um eine K.I. abzulenken und zum Schweigen zu bringen. Sie muss eine Aufgabe haben, die  lösbar wirkt, aber nicht begrenzt ist. Sei es das Herstellen von Büroklammern oder das Retten der ganzen Menschheit. Extreme müssen her. Aber diese Ideen verlaufen schließlich inhaltlich im Nichts.

Petrova als disziplinloses, aber stolzes Mitglied der Brandwache ist manchmal die Heldin, welche mit Hingabe eine schwierige Situation löst, dann wieder die hilflose Tochter ihrer attraktiven wie dominanten Mutter. Kaum ist sie ihrer Mutter begegnet, macht David Wellington den Fehler, mittels Rückblenden das schwierige Verhältnis zwischen den beiden Frauen darzustellen und nimmt das hohe Tempo aus der Geschichte. Die Rückblenden bestehen dann auch noch überwiegend aus Klischees.

Simon Parker als Mann, der mehr als nur Spass mit der Petrova hatte, ist der einzige Charakter, der wirklich einer Wandlung unterliegt. Im Laufe der Jagd zum Planeten verschwinden immer wieder die drei Protagonisten, könnten getötet worden sein, tauchen aber immer wieder auf. Für Simon Parker gilt das im Besonderen, wobei sein Auftauchen überraschend sein soll. Das ist aufgrund seiner wenig überzeugenden Warnungen eher eingeschränkt der Fall.

Der neurotische Zhang Lei wäre die interessanteste Figur. Ein Mann, der als Arzt angesichts einer unbekannten Herausforderung versagt hat, im Kern versagen musste. Ein Mann, der sich als Mörder sieht. Ein Mann, der mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Ein Mann, der am Ende ebenfalls in Rückblenden untergeht. Sie sollen eine weitere verletzliche Seite zeigen, enden aber in einer Reihe von Klischees.

Von den wenigen Nebenfiguren und den angesprochenen künstlichen Intelligenzen ganz zu schweigen.

Über das  ganze Universum, die Infrastruktur der Menschen und vor allem die vorhandene Technik erfährt der Leser wenig. Mehr als hundert Raumschiffe bei einem Experiment zu  verlieren, erscheint schon krass. Vor allem, einen solchen Skandal unter der Decke zu halten.

Es sind   diese Nebenkriegsschauplätze, welche dem Leser die anstrengende, immer wieder an den Kräften durch noch mehr unglaubwürdige Action über Action zerrende Lektüre verleiden. David Wellington ist ein guter, kraftvoller Erzähler, der seine Leser (und damit auch die Figuren) in räumlich engen, realistischen Szenarien  mit einzelnen Herausforderungen vor sich her treibt. Das Ziel ihrer Flucht und selten ihres Angriffs ist unbestimmt und nicht unbedingt begehrenswert. In „Paradise One“ will der Autor zu viel auf einmal und unterminiert einzelne sehr starke Szenen. Das offene Ende ist eher frustrierend und dass ein erstes Zwischenziel um die Seite 700 von 830 erreicht wird, zeigt, dass die Struktur und die Balance des Buches nicht unbedingt stimmen.

Es ist - positiv gesprochen - aber ein typischer Potpoiler, den Mann/ Frau auf Reisen oder am Strand, vielleicht auch am heimischen Kamin lesen kann, ohne das Gehirn wirklich anzustrengen. Solange man nicht mitdenkt, wird man mitgerissen und auf den ersten Blick wie bei einem Fast Food Essen unterhalten. Schnell ist man wieder hungrig und wird nicht unbedingt gleich nach einem weiteren Wellington greifen. Nicht nur das Auge liest mit, sondern auch das Gehirn und das kriegt eher einen Zuckerschock nach „Paradise One“. Vor allem wäre weniger mehr gewesen. Der Drang, vielleicht auch die Versuchung, immer wieder etwas Neues draufzulegen, um einen Schritt näher zum Planeten zu kommen - im All leichter gesagt als wirklich getan - beginnt die Leser ab der Mitte der Geschichte zu ermüden.  Die junge Petrova muss erkennen, dass die Brandwache sie vor Beginn  der Mission betrogen hat und das Erreichen des Planeten kein unbedingter Erfolg ist. Trotzdem geht sie stoisch, manchmal ein wenig naiv voran. Nicht aus Sorge um ihre dominante Mutter, der sie natürlich an einem ganz anderen Ort begegnet, sondern weil sie  es unbedingt ihren verlorenen Vorgesetzten zeigen will. Hochachtung oder Respekt sind ihr sicherlich nicht sicher. Diese Motivation ist wie vieles im vorliegenden Roman eher simpel gestrickt und nicht wirklich einleuchtend.   

Nach vier bzw. mit dem nicht übersetzten Abschlussband der D. Nolan Clark Trilogie hat David Wellington immer noch nicht das richtige Gespür für das Science Fiction Genre gefunden. Als Horrorautor mit einem Auge für die zu umschiffenden Klischees und neuen Ideen ist er einfach überzeugender.  

Paradise One von David Wellington - Buch | Thalia

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (14. August 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 848 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453323203
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453323209
  • Originaltitel ‏ : ‎ Paradise One