„Antimatter Blues“ ist – obwohl die Handlung zwei Jahre später einsetzt – eine direkte Fortsetzung zu „Mickey 7“, dessen Verfilmung durch den südkoreanischen Regisseur und Oscar Gewinner Bong Joon Ho mit Robert Pattinson in der Hauptrolle vorangetrieben wird. Auch wenn der Autor Edward Ashton immer wieder Bezug auf „Mickey 7“ nimmt und die wichtigen Handlungsaspekte durch seinen lakonischen Erzähler den neuen Lesern vor Augen führt, ist es empfehlenswert, den ersten Roman vor der Lektüre von „Antimatter Blues“ zu lesen. Verschiedene Hintergrundhandlungsteile werden in dem ersten Buch nicht nur zufrieden stellend entwickelt, die ausschließlich subjektive Perspektive der Handlung ermöglicht ein besseres Verständnis für die Vorgehensweise von „Mickey 7“, der offiziell seit zwei Jahren ja kein Expendables mehr ist und nicht mehr für Risikoeinsätze bzw. nach verlustreichen Risikoeinsätzen geklont werden darf.
Der geniale Plan am Ende von „Mickey 7“ , als Botschafter der auf dem Eisplaneten Niflheim lebenden Außerirdischen gegenüber den Menschen zu agieren, hat zwei Problemfelder. Die Fremden reden seit gut zwei Jahren nicht mehr mit dem Wegwerfklon Mickey 7 und zweitens, hat Mickey draußen eine zweite Antimateriebombe versteckt, mit welcher er seinem paranoiden Vorgesetzten auf der Station vorgaukelt, das die Außerirdischen jederzeit die menschliche Basis vernichten können.
In den letzten zwei Jahren konnte Mickey so relativ unbehelligt und mit seiner Liebe Nasha auf der Station leben. Natürlich holt jeden ein solcher Bluff über kurz oder lang wieder ein. Niflheim ist ein Planet mit einer exzentrischen Umlaufbahn, der kurze, aber unwirtliche Sommer kennt, ansonsten lange herausfordernde Winter. Raumfahrt ist weiterhin eine sehr teure Angelegenheit, die zusätzlich Zeit raubend ist. Mit Hilfe von außen ist nicht zu rechnen. Bei der Rückführung der Antimaterie aus der ersten von zwei Bomben – die Hintergründe werden ausführlich in „Mickey 7“ beschrieben und Edward Ashton wiederholt sich nicht in der Tiefe – kam es zu einem Unfall. Der größte Teil der Antimaterie ist nicht mehr zu recyclen und weitere Antimaterie außerhalb der zweiten Bombe ist nicht mehr vorhanden. Hinzu kommt, dass heimlich zwei Epigonen von Mickey 7 geklont worden und in den Tod in der Reaktorkammer geschickt worden sind, ohne dass das Original etwas davon wissen durfte. Jetzt steht die Station fast ohne Energie da, gäbe es nicht die eine Bombe, welche nach offizieller Lesart die Außerirdischen in ihren Krallen halten.
Mickey 7 soll die Fremden überzeugen, den Menschen die Bombe zurückzugeben. Es gibt aber die schon angesprochenen zwei Probleme. Die Fremden reden anfänglich nicht mit Mickey 7 und zweitens ist die Bombe nicht in dem – wie jeder betont – dämlichen Versteck, das Mickey vor zwei Jahren ausgesucht hat.
Bezug sich der imaginäre Titel „Expendables“ in der ersten Geschichte vor allem auf Mickey – 7, der dem selbst gewählten Schicksal – auch auf diesen Hintergrund geht Edward Ashton nicht mehr ausführlich ein – zu entkommen suchte und nicht mehr auf Selbstmordmissionen sterben und als neuer Klon mit vollständigem Gedächtnis erwachen wollte, erweitert Edward Ashton den Kreis der „Expendables“, denn Mickey 7 bricht zusammen mit Nasha und einigen wenigen Menschen sowie dem Sprecher der Fremden auf eine Mission in Richtung Süden des Planeten auf, die sie alle bei Erfolglosigkeit überflüssig macht.
Ohne direkt Bezug auf die zahlreichen Buddy Filme aus dem Zweiten Weltkrieg zu nehmen, in denen ein kleiner Haufen von Helden wider Willen großes vollbringen und mit großartig Vollbrachten nicht mehr ganz vollzählig zurück in die Heimatbasis zu kommen, kopiert Edward Ashton nach einem kurzen, pointierten Auftakt dieses Szenario und entwickelt es vor dem Hintergrund nicht einer fremden Rasse, sondern anscheinend zwei Ablegern der Außerirdischen mit einer Affinität für menschliche Technik geschickt weiter. Das Tempo wird während der ganzen Geschichte hoch gehalten und in dieser Hinsicht ist „Antimatter Blues“ deutlich besser strukturiert und inhaltlich ausbalanciert als die erste Mickey 7 Geschichte. Diese war auch überzeugend und in dem inzwischen fast klassischen Peter Weir Stil mit einem übergeordneten Ich- Erzähler voller Herausforderungen und Schwierigkeiten niedergeschrieben worden, litt aber ein wenig im mittleren Abschnitt unter dem Infodumping, das der Autor immer wieder vor einzelne Handlungsabschnitte stellte. Nach einem ironisch niedergeschriebenen Auftakt zog das Tempo erst während der finalen Konfrontation mit Mickey 7 zwischen allen Fronten wieder an und endete mit einem zu Beginn von „Antimatter Blues“ etablierten Status Quo, basierend auf den schon angesprochenen zwei Bluffs.
In der Fortsetzung sind es nicht zwei Bluffs, sondern zwei – auf den ersten Blick konträre –Versprechungen, welche schließlich einen im Grunde in mehrfachen Hinsicht gordischen Knoten durchschlagen. Zu den Stärken des ersten Buches gehörte die seltsame Ökologie mit den Creepers als eine exotische wie faszinierende Lebensform. Diese Seite ist – den ganzen Plot betrachtend – ausgebaut und gleichzeitig auch enttäuschend. Edward Ashton fügt seinen Fremden nicht nur einen zweiten Stamm hinzu, sondern geht auf die Zusammenhänge zwischen den beiden außerirdischen Lebensformen genauso ein wie er am Ende eine weitere Variation integriert. Die letzte Wendung macht Sinn und zeigt, wie eng die Fremden mit den Menschen über diese Schiene verbunden sein könnten. Auf der anderen Seite konzentriert sich der Autor auf eine Vielzahl von Anspielungen, zu denen er keinen Hintergrund hinzugefügt. So bleiben die Creepers und die Spinnen genannten Fremden vage skizziert. Ausreichend Potential für weitere Geschichten wäre vorhanden, auch wenn der Epilog in eine neue, gänzlich andere Richtung deuten könnte. Nach zwei Büchern erwartet der Leser allerdings auch mehr Informationen oder Hintergründe. Mickey 7 zeichnet zumindest aus, das er sehr pragmatisch, um nicht zu sagen, hinsichtlich der möglichen Herkunft und vor allem ihrer Einzigartigkeit auch potentiellen Gefährlich phlegmatisch reagiert. Edward Ashton macht es ihm aber während des Höhepunktes auch sehr viel leichter, in dem er die schon angesprochene Variation, eine Art „Deus Ex Machina“ Weg, aber keine finale Lösung einführt und den im Grunde unlösbaren Konflikt Mickey 7s auf diese Art zumindest vorläufig buchstäblich unter die gefrorene Erde verbannt.
Zu den Stärken Edward Ashtons gehört wie bei Peter Weir seine erzählerische Leichtigkeit. Beide Autoren ähneln sich in dieser Hinsicht, wobei Peter Weir in seinen inzwischen vier vorliegenden Büchern auch andere Themen streift und vom dem Szenario, Mensch/Klon in einer unmöglichen Situation während einer unlösbaren Mission, abweicht. Edward Ashton ist beginnend mit „Mickey 7“ ja kein reiner Wegwerfklon, sondern ein Mensch, dessen Erinnerungen immer wieder up oder down geloaded werden, während sein Körper buchstäblich recycelt wird, damit er für die Menschen sein „Leben“ opfern und für sie sterben kann, um wieder geboren zu werden. In der vorliegenden Geschichte muss er im Gegensatz zu „Mickey 7“ mehr agieren und nicht mehr nur ausschließlich reagieren. Wie Mickey selbst den Lesern mitteilt, kein bevorzugtes Szenario, denn schnelle und entschlossene Entscheidungen liegen ihm nun einmal nicht. Und Entscheidungen muss er treffen, Pläne schmieden. Wobei seine Pläne wie im ersten Buch zum großen Teil auf Improvisation und das buchstäbliche Hoffen basieren. Durch die Fokussierung auf eine Mission und vor allem einen stringenten Handlungsstrang funktioniert diese „Gabe“ deutlich besser als in „Mickey 7“. Die Beziehung zur dominanten und immer für einen guten Spruch aufgelegten Nasha gibt Mickey deutlich mehr Profil, auch wenn das Ende ein wenig süßsauer erscheint und den Leser fast manipuliert. Nasha ist das emotionale Gewissen, das Mickey nicht nur als Wegwerfklon, sondern vor allem auch als Charakter zu Beginn der Geschichte gefehlt hat.
Um Mickey und Nasha herum hat Edward Ashton eine Reihe von inzwischen den Charaktertiefe gewonnen Nebenfiguren platziert. Sie stammen fast alle aus dem ersten Roman. Dabei agiert Edward Ashton auf zwei Ebenen. Einmal die Interaktion zwischen den Menschen und dem Wegwerfklon, die mehr und mehr vom gegenseitigen Respekt geprägt ist und schließlich das Verhalten der kleinen Expendables- Kampftruppe untereinander. Mit der Situation generell überfordert bemühen sie sich, zwischen Heldentum inklusive Märtyrerstatus und dem generellen Überlebensinstinkt in einer allerdings ausweglosen Situation – während der Mission sterben oder ein generelles Scheitern bedeutet den gleichen Ausgang - , immer einen flotten Spruch auf den Lippen zu haben und trotzdem ihre Aufgaben stoisch zu erledigen. Damit unterminiert Edward Ashton vielleicht einige der Kampfszenen, die wie eine Mischung aus Frank Herbert „Dune“ – keine Würmer – und Robert A. Heinleins „Starship Troopers“ mit einer Handvoll kaum ausgebildeter Menschen in der Mitte wirken. Edward Ashton verzichtet allerdings positiv auf zu starke Beschreibungen und fokussiert sich auf das große Ganze.
Weiterhin positiv ist, dass Edward Ashton einzelne Aspekte der ersten Geschichte relativiert. Das gilt vor allem für die Position des Stationskommandanten Marshall, welcher Mickey 7 das Leben zur Hülle gemacht hat. Edward Ashton versucht dessen Position ein wenig gerade zu rücken, wobei der Grat zwischen einem Kommandanten mit seiner Verantwortung in einer fast aussichtslosen Position – der Leser kann nicht verstehen, warum die Menschen mit diesen Mühen ausgerechnet auf dieser unwirtlichen Welt eine Kolonie erschaffen wollen – und einem Tyrannen, der sich einen Sündenbock ausgesucht hat, sehr schmal ist. Rechtlich gesehen kann Marshall ja Mickey 7 oder 8 oder 9 nur als einen Wegwerf Klon mit der ihm zugewiesenen Aufgabe und nicht als vollwertigen Menschen sehen. Das Original Mickey hat sich ja dieser Aufgabe verschrieben, auch wenn seine Motive in der ersten Geschichte beschrieben eher oberflächlich und einer Affekthandlung geschuldet erscheinen. Der Kommandant hat das Wohl der ganzen Kolonie mit einer allerdings in beiden Romanen eher unbestimmt definierten Zahl an Kolonisten im Auge zu behalten und so agiert er harsch, diktatorisch, aber generell auch ausgesprochen konsequent. Aber dieses Problem löst Edward Ashton auf eine spektakuläre, aber auch vielen Science Fiction Fans bekannte Art und Weise.
„Antimatter Blues“ ist - wie der erste Band – eine flott geschriebene Space Opera mit einem ungewöhnlichen Anithelden in der Rolle seines Lebens. Zum zweiten Mal. Der Hintergrund ist zwar solide entwickelt, aber teilweise bleibt Edward Ashton ausgesprochen oberflächlich. Da bietet sich nicht nur hinsichtlich der Creeper und ihrer ungewöhnlichen „Zusammensetzung“ noch sehr viel Potential für weitere Mickey 7 Geschichten. Die Handlung ist deutlich stringenter und zugänglicher, da Edward Ashton den größten Teils der Hintergrundgeschichte und des Szenarios in „Mickey 7“ entwickelt hat und nur bedingt in der Fortsetzung extrapoliert. In seinem Nachwort hat der Autor davon gesprochen, dass er „Mickey 7“ und „Antimatterblues“ im Grunde als einen Roman ansieht und so sollten die Büchern auch gelesen werden. Unmittelbar aufeinander folgend, um die grundlegende Dynamik der Geschichte und die persönliche Entwicklung Mickey 7s besser in allen Details verfolgen zu können.
Wie Peter Weir bietet Edward Ashton cineastisch geschriebene Science Fiction Unterhaltung an, welche einige der gängigen Klischees des Genres geschickt extrapoliert, verfremdend modernisiert und mit einem stetigen Augenzwinkern dank des sympathischen Erzählers kurzweilig wie spannend präsentiert.
- Herausgeber : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (14. Februar 2024)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 384 Seiten
- ISBN-10 : 3453322940
- ISBN-13 : 978-3453322943
- Originaltitel : Antimatter Blues