„Nebenwelten“ ist der vierte Cutting Edge Titel mit Storys eines Autoren. Dieses Mal präsentiert Wolf Welling insgesamt dreizehn Geschichten, Horst Pukallus fügt ein interessantes Nachwort dieser Sammlung hinzu. Horst Pukallus hat mit einer Sammlung eigener Geschichten dieser Anthologie Reihe eröffnet.
In den letzten zwanzig Jahren hat Wolfgang Pippke unter dem Pseudonym Wolf Welling neben zwei Romanen mehr als zwei Dutzend Kurzgeschichten in unterschiedlichen Magazinen vom Story Center über Nova oder Exodus bis zu den Anthologien des Hirnkost Verlages. Als Jugendlicher war er schon einmal im Fandom aktiv, beruflich eingespannt musste er weitere Aktivitäten auf den Ruhestand verlegen. Kaum Rentner begann er 2003 mit dem Schreiben von kürzeren Texten, wobei der Autor für einen Achtzigjährigen technologisch immer auf der Höhe der Zeit ist und eine gewisse Altersweisheit nur bedingt in die hektischen, grellen und provozierenden Geschichten einfließt. Wolf Welling ist als Schriftsteller der Beweis, dass Qualität kein Alter kennt und sich nicht jeder Schriftsteller ab einem gewissen Alter intellektuell rückwärts der glorifizierten Vergangenheit zuwendet.
Seine Vorbilder sind neben Frank Kafka aus dem Genre Philip K. Dick, James Ballard oder Brian W. Aldiss. Einzelne Themen wie die Selbstfindung in unterschiedlichen Inkarnation seiner stetig getriebenen und nicht selten zu Beginn der Geschichten orientierungslosen Protagonisten finden sich in dieser Sammlung geballt, aber Wiederholungen gleicher Pointen vermeidet der Autor geschickt.
„Nowhere Man“ eröffnet die Sammlung. Es ist eine der frühesten Geschichten und erschien ursprünglich in der siebenten Ausgabe des „Nova“ Magazins. Ein Mann taumelt orientierungslos durch verschiedene virtuelle Welten. Eine Begegnung mit einer ihm äußerlich vertrauten Frau verstärkt das Dilemma, denn sie präsentiert ihm zahlreiche Erklärungen für seinen Zustand und vor allem den herausfordernden Weg zu diesem Interview. Nicht zum letzten Mal stellen sich diese potentiellen Erklärungen als Irrwege heraus. Die Lösung ist aus heutiger (utopischer) Sicht deutlich profaner und nicht einmal eine neue Idee der Science Fiction. Allein die Implikationen des „Danach“ bilden den originellen Kern der Pointe. Horst Pukallus geht in seinem Nachwort noch besser darauf ein, wobei er einen Teil der Pointe verrät.
Fuckmanimal" von Wolf Welling beschreibt die sexuelle Ausnutzung von extra gezüchteten Ersatzmenschen. Durch einen Selbstmord eines Fuckanimals werden die Ermittler auf Material aufmerksam, das beweist, dass diese Wesen inzwischen in der Lage sind, ein Bewusstsein zu entwickeln und ihren Missbrauch durch ihre Besitzer zu spüren. Die Geschichte ist solide geschrieben, die Tagebuchaufzeichnungen des Fuckmanimals erinnern an ein wenig Daniel Keyes Roman „Flowers for Algernoon", aber zusammengefasst gelingt es Welling wie eine Reihe anderer Autoren dieser „Exodus" Ausgabe nicht, dem Thema neue Facetten abzugewinnen.
„Interzone“ und „Das gläserne Tor“ haben etwas, aber nicht alles gemeinsam. In der ersten Geschichte strandet ein verzweifelter Autor in einem Megastau. Als er erwacht, sind nicht nur die Straßen frei, der Weg führt ihn zu einem besonderen Gasthof hoch in den Bergen, wo er eigentlich mit einem Wolf Welling zusammen eintreffen soll. Vieles erinnert – wie abschließend erläutert wird- an Thomas Manns „Der Zauberberg“, auch wenn Welling sich mehr auf die modernen Zwischentöne konzentriert und Thomas Manns morbide wie verführerische Atmosphäre hoch in den Schweizer Bergen nicht trifft. Das Ende ist konsequent, rückblickend nicht unbedingt überraschend. Auch in „Das gläserne Tor“ verändert sich die Welt für einen Beamten im mittleren Dienst. Seine natürliche Ordnung wird durcheinander gebracht; er hat Sex mit einer den Kollegen gegenüber willigen Frau und findet sich selbst in seinem Ministerium nicht mehr zurecht. Im Gegensatz zu anderen Geschichten dieser Sammlung und vor allem „Interzone“ im Besonderen wirkt das Ende trotz der Tierinvasion kurz vor dem Epilog deutlich offener und damit auch schwieriger zu interpretieren. Die Geschichte wirkt deutlich konstruierter und durch die Vielzahl von Wolf Wellings Texten in dieser Anthologie lassen sich bei „Das gläserne Tor“ einige Versatzstücke besser erkennen, welche der Autor gerne und öfter (häufig wäre in diesem Fall das falsche Wort) nutzt.
„Beide, der Wächter und der Gefangene“ ist eine Hommage an Franz Kafkas, deren Pointe der aufmerksame Leser schnell erahnen kann. Ein Gefangener und ein Wächter bewachen sich gegenseitig in einer abgeschieden gelegenen und unregelmäßig versorgten Anlage. Der Gefangene schweigt und zwingt den Wächter mehr und mehr dazu, etwas über sich Preis zu geben. Es ist sicherlich ein Zufall, dass auf die seltsame Bewerbung richtig reagiert worden ist. Der Stil ist deutlich fokussierter, karger und paranoider. Am Ende macht alles – wenn auch ein wenig konstruiert – Sinn, aber bis dahin ist es ein Zwei-Personen-Kammerspiel. Wobei Wolf Welling auf ausführliche Charakterisierungen verzichtet.
Einige Texte spielen in und um die phantastische Bibliothek Wetzlars. Wolf Wellings „Schutzengel“ könnte auch in Anspielung an Wim Wenders Film „Der Himmel über Wetzlar“ heißen. Es beginnt mit einem Con in den Räumen der phantastischen Bibliothek und einer Anspielung auf „Fahrenheit 451“ mit einem offensichtlich erkennbaren Ebenbild des amerikanischen Präsidenten und endet mit der Bürokratie hinter den Himmelspforten. Wellings Geschichte beginnt dunkel und getragen, wird dann mit dem Operationssaal bizarr, bevor er den Bogen zu den dramatischen Ereignissen zurückschlägt und nachweist, dass niemand seiner mittelbaren Vergangenheit in welcher Form auch immer entkommen kann. Der Einbau der Bibliothek ist nahtlos und das Tempo der Geschichte ansprechend hoch.
Wolf Wellings "Osmose" funktioniert irgendwie nicht. Ehrgeiziger und selbst verliebter Wissenschaftler diffundiert aus der bekannten Welt. Er wird irgendwie von seinem beruflichen wie privaten Umfeld "vergessen". Später schockiert ihn noch ein Verbrechen. Wolf Welling liefert keine überzeugenden Erklärungen für das absolute Verschwinden dieser Person, der Autor vertraut er schockierenden "Stimmungen" und einzelnen Versatzstücken. Das aber eine bedingte Kommunikation mit seiner Umgebung noch möglich ist, zeigen die ersten Szenen, in denen der unsympathische egoistische Charakter nach und nach auch begleitet von einer Art Vorwarnung/ Einladung aus der Welt vwerschwindet. Die Geschichte ist nicht schlecht geschrieben und Welling ist auch ein routinierter Autor, der interessante Figuren entwickeln kann, aber die Plotentwicklung wirkt bemüht und der Epilog ein wenig zu pathetisch, als das der Text nachhaltig genug überzeugen kann. Der Titel sagt im Grunde alles und gibt das Ende schon vor
Schon mit seinem Buch „Die Wächterin“ hat Wolf Welling bewiesen, dass er klassische Themen originell wie ungewöhnlich aufbereiten kann. Auch „Strandsand“ nutzt die Idee des Generationenraumschiffs, um eine interessante Story zu erzählen. Im Rahmen schon auf einer neuen Welt begegnet die Protagonisten einem Jungen, der an Bord des Raumschiffs von der Schiffsintelligenz getötet worden ist. Im Rückblick erfährt man von ihrer gemeinsamen Liebesgeschichte, die sich aber nicht so natürlich entwickelt wie es die beiden jungen Menschen erwarten. Welling beendet die Story auf einer ein wenig zu exzentrischen Note, welche die emotionale Bindung zwischen den beiden Menschen hinterfragt. Auf der anderen Seite schenkt er uns eine exzentrische Schiffsintelligenz, die ein ungewöhnliches Interesse an den Menschen an Bord zeigt. Zumindest an einigen Testpersonen.
„DomusDisease“ von Wolf Welling nutzt ebenfalls eine altbekannte Idee. Die Zivilisation ist zusammengebrochen, die Städte oder später relativiert die Häuser sind unbewohnbar. Draußen campieren die Menschen teilweise in ihren Autos, in den Städten gibt es Nomaden, welche von den Resten leben. Alles Versatzstücke, die bekannt sind. Auch die Mission des Sohns zum Elternhaus ist zumindest erahnbar. Aber Wolf Wellings Stil und die Zeichnung seiner Protagonisten, sowie das Umkehren von Vorurteilen lassen die Geschichte kurzweilig erscheinen.
„Adam“ ist Wolf Wellings persönliche Frankenstein Geschichte. Das liegt nicht nur an den Zitaten aus Shelleys Meisterwerk, welche „Adam“ gegen Ende der Story liest. Wenn der Professor Frank N. Stein heißt, dann sind Operationen Programm. Aber Wolf Welling hat sich für das „Monster“ eine eigenwillige Persönlichkeit einfallen lassen und bringt Shellerys Patch Up Kreatur auf ein neues, vielleicht nicht unbedingt höheres, aber interessantes Niveau. Die Zwiegespräche sind der Höhepunkt dieser ansonsten stringenten Geschichte, deren Ende konsequent ist.
Wolf Wellings Story „Zwei gehen rein…” nimmt bewusst eine Idee aus “Mad Max- Beyond Thunderdone” auf und verfremdet sie. In seiner Zukunft ist es nicht nur möglich, mit dem Drei D Drucker Kopien von Menschen zu erstellen, auch das Bewusstsein kann kopiert werden. So findet in der Arena eine brutale Auslese statt, wenn eine Kopie gegen eine andere Kopie kämpfen muss. Dominiert von der Actionhandlung versucht Wolf Welling die fatalistische Welt seines Protagonisten sprachlich intensiv darzustellen, während das altersschwache Original sadistisch die Auslese der Besten verfolgt. Markus Müllers Geschichte ist melancholischer, stimmungsvoller, vielleicht am Ende sogar ein wenig optimistisch, während Wolf Welling die Pervertierung der Technik auf ein neues Level bringt.
„Im Tolou“ von Wolf Welling setzt sich auch mit dem Thema Invasion durch die ANDEREN auseinander. Die politische Bezüge auf die Unterdrückungspolitik Chinas werden klar und deutlich herausgearbeitet. Nur sind es dieses Mal die Chinesen, die ihr Haupt vor den Fremden aus dem All beugten, um ihnen Lebensraum gegen vordergründig Technik auf der Erde einzuräumen. Der Protagonist lebt nach Verbüßen seiner Haft im Tolou, einem gigantischen Wohnkomplex an einem unbekannten Ort, wo er unter ständiger Überwachung Anfechtungen gegen Urteile bearbeiten muss. Die Arbeit ist stupide, die Telefonverbindung zu den Vorgesetzten eher eine Farce. Alles geht seinen streng geordneten Gang, bis der Protagonist eine besondere Akte auf den imaginären Schreibtisch bekommt. Das ist auch der Moment, in dem diese zu Beginn interessante, durchaus kritische Geschichte kurz vor dem hektischen offenen Ende auseinanderfällt. Die Ursache und Wirkung passen nicht wirklich zueinander. Sollte der Protagonist die Kettenreaktion ausgelöst haben, wirkt sie überzogen. Es wäre wahrscheinlich auch nur ein Pyrrhussieg, genau wie sein Handeln emotional nachvollziehbar, aber auch unlogisch ist. Aber diesen Ausbruch kann der Leser noch akzeptieren, alleine es bleiben am Ende zu viele Fragen offen. Das hat weniger mit dem offenen Ende zu tun, sondern eher mit der Tatsache, dass Wolf Welling anscheinend selbst keine Vorstellung hatte, wie er wirklich den anfänglich sehr gut entwickelten Hintergrund verändern wollte. Deswegen hat Wolf Weelling mit einer Originalveröffentlichung einzelne Ideen und Aspekte aufgegriffen. Das Ergebnis ist die letzte Geschichte der Anthologie „Im Kashgar- Nest“. Wolf Welling nimmt den bekannten und schon angesprochenen alten Science Fiction Plot- Außerirdische landen auf der Erde und bitten um Hilfe, weil ihre eigene Welt am Sterben ist – auf und überträgt ihn in die politische Gegenwart des Misstrauens, der Paranoia und schließlich auch der Waffengänge. Da die Afrikaner und Amerikaner die Landung der Fremden in ihren Wüstengebieten ablehnen, bleibt nur die Wüste Gobi mit China. Darauf reagieren die Amerikaner – im Krieg mit China wegen Taiwan – zunehmend aggressiver. Der Uigure Erkan möchte in diesem Gebiet der ANDEREN nach seiner Freundin suchen, die während Erkans Flucht nicht mitgekommen ist. Es ist eine Reise ins Dunkel, in ein Land voller Repressalien und dem Stützpunkt der ANDEREN als Fixpunkt. Das Ende der Geschichte ist pragmatisch und ein wenig konstruiert. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Wolf Welling Geschichten beinhaltet sie eine Art Happy End. Vieles bleibt im Dunkeln und die Story hätte das Potential zu einer Novelle, vielleicht sogar einem Roman mit den überzeugenden menschlichen Charakteren und den Geheimnissen der Anderen. Aber die offenen Fäden aus "Im Tolou" werden deutlich zufriedenstellender abgeschlossen. Vielleicht hätte sich eine Verknüpfung der beiden Geschichten zu einem einzigen, deutlich umfangreicheren Text angeboten.
Tom Turtschi und Michael Iwoleit haben diesen Storyband ein schönes, stimmungsvolles Titelbild hinzugefügt. Am Ende findet sich zusätzlich eine Auflistung der bisherigen Veröffentlichungen Wolf Wellings.
Die Geschichten sind alle von überdurchschnittlicher Qualität. Selbst bekannte Plotelemente verfremdet der Autor überzeugend. Allerdings neigt er auch zu Wiederholungen, manche Wendungen finden sich in einigen der hier gesammelten Geschichten und die einige Texte enden eher beiläufig als wie andere Storys intensiv auf einem Paukenschlag. Die Bandbreite der Themen ist auf den ersten Blick breit, aber im Kern setzt sich Wolf Welling vor allem mit Menschen in extremen Situationen – dabei spielt es keine Rolle, ob selbst beigefügt oder zufällig zum Opfer geworden – auseinander. Auch in den kürzeren Texten legt der Autor sehr viel Wert auf die gute Zeichnung der Protagonisten, so dass „Nebenwelten“ einen guten Überblick über einen seit vielen Jahren präsenten Autoren gibt, der mit seinen beiden Romanen „Die Wächterin“ und „Wanderer“ inzwischen auch in der Langform für Aufmerksamkeit sorgt.
- Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (12. Dezember 2023)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 216 Seiten
- ISBN-10 : 3957653657
- ISBN-13 : 978-3957653659
- Lesealter : Ab 16 Jahren