Karl Maria Guth hat in der „Henricus – Edition Deutsche Klassik GmbH“ die zehnteilige Heftromanserie „Aus dem Reich der Fantasie“ von Robert Kraft, behutsam an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst, in verschiedenen Fassungen vom Paperback bis zum E- Book neu herausgegeben.
Die in sich abgeschlossenen zehn Hefte erschienen ursprünglich 1901 im Verlag H.G. Münchmeyer. Sie stellen eine Besonderheit in Robert Krafts Werk dar. Nicht zuletzt aufgrund des in der Theorie jugendlichen Heldens handelt es sich um Geschichten, welche sich an die reifere Jugend wenden, aber auch von Erwachsenen gelesen werden können.
Die Rahmenhandlung ist einfach gestaltet und gleichzeitig unglaublich vielschichtig. Der inzwischen vierzehn Jahre alte Richard ist an beiden Beinen gelähmt. Bei einem Zugunglück vor zwei Jahren hat er darüber hinaus seine Eltern verloren. Inzwischen lebt er im geerbten Haus und eine ältere Tante versorgt den Jungen. Vor seinem Unglück war Richard nicht nur ein Musterschüler, sondern ein begeisterter Sportler. Durch seine Krankheit hat er begonnen, die Abenteuer Klassiker zu lieben. „Robinson Crusoe“ als Favorit, aber auch Jules Vernes „20 .000 Meilen unter den Meeren“ oder „Lederstrumpf“. In der ersten Geschichte „Der letzte Höhlenmensch“ wird auch die „Reise in die Urwelt“ eine wichtige Rolle spielen. An seinem vierzehnten Geburtstag erscheint ihm eine gute Fee. In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Tür in eine Kammer. Jede Nacht vor dem Schlafengehen soll Richard überlegen, was er träumen und damit erleben will und kraft seines Geistes kann er durch die Kammer in diese jeweiligen Welten schreiten. Um zurückzukehren, muss er nur „Ich will erwachen“ denken. Die Fee prophezeit ihm, dass er trotz seiner Behinderung Großes vollbringen kann.
Jedes der zehn Hefte beinhaltet eine dieser Reisen in das jeweilige Reich der Fantasie, wobei die Betonung auf Phantasie und damit auch Phantastik liegt. Alles ist möglich. In der ersten Geschichte reist Richard in eine literarische Version der Vorzeit mit dem letzten Höhlenmenschen und seiner Tochter. Sie werden - wie „Der letzte Mohikaner“ in Coopers Geschichte durch die Weißen - von den Bronzemenschen verdrängt, deren Existenz wiederum auch schon von der nächsten Stufe der menschlichen Entwicklung bedroht ist. Da die Tochter des Höhlenmenschen von seinen Feinden ihren Göttern geopfert werden soll, entschließt sich Richard, bei der Befreiung zu helfen. Viele Elemente der klassischen Abenteuerliteratur und weniger eine historische Auseinandersetzung mit der Vorzeit fließen in die Geschichte ein. Aus den Wölfen werden die ersten Hunde. Die Leichen der Könige werden einbalsamiert und mit reichlich Gaben versehen auf Pfahlbauten mitten im See aufgebahrt. Priester haben wie im alten Ägypten einen mächtigen Einfluss und die Furcht vor den Feuerwaffen, die Richard ohne Probleme ausschließlich zur Selbstverteidigung bedienen kann, ist gering. Eine Verständigung ist jederzeit möglich. Das Tempo der Geschichte ist hoch, die Handlung spielt sich innerhalb weniger Tage ab. Schon in der nächsten Episode „Die Totenstadt“ wird Richard Jahre in seiner Phantasiewelt verbringen, auch wenn in der Realität niemals mehr als eine verträumte Nacht vergeht.
„Die Totenstadt“ spielt in Robert Krafts Heimatstadt Leipzig. Richard erträumt eine Welt, in welcher sich die Erdachse verschiebt. Leipzig ist plötzlich am Äquator und alle Menschen und viele Tiere sterben durch ausströmende giftige Gase. Richard kann mit den Leitplanken der Zivilisation als Robinson Crusoe in Leipzig leben. Ein Schuster und seine Frau haben ebenfalls die Katastrophe überlebt. Während Richard sich im Pulverturm seine eigene Festung baut und von den eigenen Ernten lebt, fallen der Schuster und seine Frau auf eine primitive Existenz Stufe zurück. Sie haben vorher die Geschäfte geplündert und mit Geld um sich geschmissen, das natürlich keinen Wert mehr hat. Der Schuster ist zu einem hoffnungslosen Alkoholiker geworden, der seine in Lumen lebenden, nach der Katastrophe geborenen Kinder aus schickt, um ihm Alkohol zu bringen. Naiv versucht Richard einen Kontakt zu der unter primitiven Umständen lebenden Familie herzustellen. Natürlich mit katastrophalen Folgen.
„Die Totenstadt“ ist deutlich vielschichtiger angelegt als „Der letzte Höhlenmensch“. Auf unterschiedlichen Ebenen zeigt sich Robert Krafts Abneigung gegen die brüchige Zivilisation. Während die Bronzekrieger sich hinter ihren Wehrmauern eine flüchtige primitive Kultur aufgebaut haben, leben nur der letzte Höhlenmensch und seine Tochter wirklich frei und selbstbestimmt. Sie sind auch bereit, sich für diese Freiheit zu opfern. Der intellektuell nicht unbedingt hochstehende Schuster sinkt in „Die Totenstadt“ noch unter das Niveau der Bronze- bzw. Höhlenmenschen. In Lumpen gekleidet, ist er nicht mehr in der Lage, sich selbst zu ernähren.
Die Verschiebung der Erdachse hat katastrophale Folgen und Robert Kraft spielt auf den wenigen Seiten zweier Heftromane dieser Miniserie alle Szenarien durch. Flora und Fauna verändern sich, nur die starken Gattungen setzen sich durch. Fast alle Menschen sind tot, wobei Robert Kraft auf exzessive Beschreibungen der Leichenberge verzichtet. Richard setzt das aus „Robinson Crusoe” Gelernte um. Er weiß ja, dass er in einem allerdings unangenehm realistischen Traum seine persönliche Wunschvorstellung als Einsiedler auf einer einsamen Insel lebt. Interessant ist, dass Richard diese Vision in einer der folgenden Geschichten nicht alleine, sondern im Trio träumerisch umsetzen wird. Während in viele von Robert Krafts Geschichten phantasievolle Erfindungen einfließen, präsentiert der Leipziger mit „Die Totenstadt“ eine reine Science Fiction Idee.
Mit dem letzten Traum „Die indischen Eskimos“ kehrt Robert Kraft zum ersten und einzigen Mal zu seinem vorherigen Traum zurück. Richard befindet sich in Indien auf einer Expedition, um im Dschungel nach legendären Ruinen zu suchen. Ausgangspunkt der Expedition ist die indische Hafenstadt Phunga. Plötzlich kommt es zu einem Wetterumschwung, die Temperaturen stürzen ins Bodenlose. Richard wird klar, dass er wieder in dem Traum mit der verschobenen Erdachse ist. Befand sich in „Die Totenstadt“ seine Heimatstadt Leipzig plötzlich am Äquator, so rückt Indien im Allgemeinen und seine Region im Besonderen gen „Norden“ bzw. in der Nähe von Phunga befindet sich der neue Nordpol. Giftgase treten allerdings nicht aus, so dass bis auf die Millionen von plötzlich erfrorenen Menschen eine Handvoll Inder mit Richard in einer Höhle überlebt. Richard bringt die Inder durch den Entzug von Nahrung – er hat sich schnell einen Kälteanzug aus Decken genäht und kann draußen jagen – zum Arbeiten. Auf einer Expedition nach Phunga trifft er sogar auf eine überlebende Hündin mit ihrem Rudel. Die Abwesenheit von den ihm vertrauenden Indern führt zu einem sozialen Sprung und unterstreicht, dass sich die Inder schnell an neue klimatische Situationen anpassen. Schlägt der Leser einen Bogen zu „Die Totenstadt“, sogar besser als der alkoholkranke Schuster und seine Frau, die in die Primitivität zurückgefallen sind.
„Die Totenstadt“ und „Die indischen Eskimos“ bilden zusammen eine ausgesprochen interessante Lektüre. In beiden Fällen setzt sich entweder zu Beginn der Intellekt oder die Erfahrung Richards durch. Richard legt sogar eine Art Museum in einer Höhle an, in welche er von jeder Tierart zwei erfrorene Exemplare bringt. Allerdings sind die Inder besser dran als die Leipziger, da zumindest durch einen warmen Strom die Wassertemperatur bei 17 Grad bleibt und man - quasi aus dem Iglu - sich mit Süßwasser versorgen kann. Für die Pfadfinder unter seinen Lesern hat Robert Kraft noch eine Reihe von Hinweisen für Selbstversorgung in Extremsituationen parat. Der anfänglich belehrende Ton des herrischen, weißen Richard gegen die faulen und feigen Inder verliert sich im Laufe der Handlung. Am Ende erweisen sich die Inder als erstaunlich anpassungsfähig und strafen den Oberlehrer Richard Lügen.
In dem 1910 veröffentlichten Roman „Die neue Erde“ sollte er diese Ausgangsbasis eines Untergangs der gegenwärtigen Zivilisation mit dem entsprechenden Wiederaufbau deutlich umfangreicher und detaillierter ausbauen.
Gleich zu Beginn des chronologisch dritten Traums „Der rote Messias“ wendet sich Robert Kraft an seine Leser und erklärt, dass Richard auch für die reifere Jugend träumt. Es ist der erste Einsatz eines übergeordneten Erzählers in dieser Geschichtensammlung.
Erst spät wird Richard als der Indianer Todespfeil identifiziert, der sein Volk wieder vereinigt und die weißen Männer nicht nur aus den Reservaten, sondern aus Amerika vertreiben möchte. Solange die Indianer an Todespfeil glauben, sind sie durch die Waffen des weißen Mannes unverwundbar. Sie können trotzdem ums Leben kommen, aber eben nicht durch die Kugeln aus den Gewehren der Weißen. Es gibt allerdings eine einschränkende Bedingung. Sie dürfen nach der Segnung kein Feuerwasser mehr trinken, sonst verlieren sie diesen Schutz. Den Indianern gelingen eine Reihe von Pyrrhussiegen; die an den Grenzen der Reservate liegenden Forts werden eingenommen. Abschließend erweisen sich allerdings die Weißen aufgrund ihrer brutalen, der Realität entnommenen Taktik als überlegen und Todespfeil wird zu einem Geächteten, einem Gejagten. Robert Kraft erläutert- ein wenig verklärt - die historische Ausgangslage. Die Geschichte müsste in der Zeit nach dem Bürgerkrieg bis ins Jahr 1890 spielen. Mit dem Todespfeil führt Robert Kraft allerdings eine klassische, vielleicht auch klischeehafte Märtyrerfigur ein, die weniger aufgrund ihrer Handlungen als ihren Einsichten auf der einen Seite charismatisch, auf der anderen Seite auch ein wenig zu stereotyp angelegt worden ist.
In „Die Weltallschiffer“ ist Richard dagegen ein junger Erfinder, der an Bord eines Kugelraumschiffs (!) mit hunderten von Besatzungsmitgliedern ins All aufbricht. Neben der Elektrizität hat Richard das Metall Almit erfunden, das nicht der Schwerkraft unterliegt. Diese Idee wird nicht nur in einige der Kolportageromane Robert Krafts Einzug halten, sondern auch von Paul Alfred Müller in seinen Heftromanreihen „Sun Koh“ und „Jan Mayen“ mehrfach benutzt werden. Das Ziel der Reise ist der Mars, wobei auf der Rückseite des Mondes auch kurz wie spontan gelandet wird. Hier treffen sie das erste Mal auf seltsame Wesen in Bauten, die an Zuckerhüte erinnern. Zum Mars kommt die Expedition gar nicht, das wird laut Robert Kraft einem weiteren, nicht mehr realisierten Traum vorbehalten. Stattdessen finden sie einen zweiten, unsichtbaren Mond, den sie Germania taufen und auf dem trotz der im Vergleich zur Erde kleinen Masse gigantische menschenähnliche Wesen leben, deren Zivilisation bis auf die Raumfahrt dem Erdniveau entspricht. Die Geschichte endet mit einem Cliffhanger. Nicht zum ersten und vor allem auch nicht zum letzten Mal in dieser Sammlung. Mit diesem Kniff kann Robert Kraft seine Träume auf dem Höhepunkt vorläufig beenden und sich als Autor auch ein wenig aus der Verantwortung stehlen. Neben einer Reihe von technischen Erfindungen gibt es zwei größere Handlungsabschnitte, die sich mit Krankheiten auseinandersetzen. Die Weltraumkrankheit führt zu Erfrierungen. Beim Erreichen der Ätherzone kommt es innerhalb der Crew zu Schockzuständen. Sehr viele Besatzungsmitglieder sterben daran.
Technisch ist „Die Weltaltschiffer" eine der am besten recherchierten Episoden. Sie könnte auch der Ursprung der Gerüchte sein, die Robert Kraft an „der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff“ mitgeschrieben hat. Manches wirkt aus heutiger Sicht technisch ein wenig naiv, aber Robert Kraft macht deutlich, dass ein Aufenthalt außerhalb des Raumschiffes wegen der mangelnden Atmosphäre und der extremen Kälte Schutzanzüge benötigt, wie die beschriebenen Experimente an lebenden Tieren unterstreichen. Alleine mit dieser Idee ist er einer Reihe von anderen utopischen Autoren dieser Zeit mindestens einen Schritt voraus.
„Die verzauberte Insel“ basiert auf Robinson Crusoe. Richard macht das auch zu Beginn seines fünften Traums deutlich, indem er sich nicht nur seine beiden Freunde Oskar und Paul wünscht, sondern ein perfektes Abbild der Insel, auf welcher Robinson Crusoe gelebt hat. Der Traum wird wahr. Allerdings ist das Leben auf dieser paradiesischen Insel nicht ganz so leicht wie erwünscht. Während Nahrung und Wasser reichlich vorhanden sind, muss ein Dach über dem Kopf haben und die entsprechende Höhle ist auch nicht so ganz einfach zu finden. Vor allem, weil die drei Freunde nicht alleine auf der Insel sind. Heinzelmännchen helfen den Jungen nachts. Sie reparieren Dinge, nähen Kleidung und scheinen mittels Zeichen eine Art Kommunikation zu suchen. Aber die Jungs wollen das Geheimnis der für sie unsichtbaren hilfreichen Geister lüften.
Im direkten Vergleich zu einigen anderen Träumen ist „Die verzauberte Insel“ leichte Kost. Das Geheimnis der Heinzelmännchen wird zwar gelüftet, es bleiben viele Fragen offen. Nicht das erste Mal flüchtet sich Robert Kraft in die Floskel, dass Richard in einen weiteren Traum zurückkehren und die Fragen für sich beantworten kann. Robert Kraft appelliert an den Erfindungsgeist der Jugend. Jeder der drei Jungen hat sein eigenes Talent, das er für die Gruppe einsetzt. Vorbild der Geschichte ist wahrscheinlich neben Robinson Crusoe auch Jules Vernes „Zwei Jahre Ferien“ gewesen.
„Der König der Zauberer“ ist eine der besten Geschichten dieser Sammlung. Richard erleidet zusammen mit einem Kameraden auf hoher See Schiffbruch. Nachdem sie tagelang auf dem Meer herumgeirrt sind, finden sie ein Schiff voller Toten an Bord. Sie beobachten, wie ein Mann in einer antiquierten Kleidung mit seinem Boot ankommt, ein junges Mädchen von Bord bringt und die Toten einsammelt. Der Mann wird auch auf Richard und seinen Freund aufmerksam. Er bringt sie zu seiner unsichtbaren Insel. Es handelt sich um den Herrscher im Land der lebenden Toten, den Gottmensch Erasmus von Teken, der im Jahr 1254 geboren worden ist. Als Alchemist hat er einen Langlebigkeitstrunk erfunden, der allen seinen Sklaven und Mitbewohnern auf der Insel zur Verfügung stehen. Die Insel ist hierarchisch aufgebaut. Die Menschen beginnen als Sklaven und können sich dank ihrer Fähigkeiten nach oben hocharbeiten und freie Künstler werden. Richard beginnt als Leibdiener des Gottmensch, dessen Ansichten der Protagonist skeptisch gegenübersteht. Für ihn ist er ein Magier, kein Gott, sondern ein Mensch, der außer der Erfindung dieses besonderen Elixiers vor allem technischen Spielereien nutzt, um seine Macht zu festigen. Für Richard hat er einen besonderen Plan. Einem vergleichbar charismatischen, aber seine Macht auf Technik aufbauenden Antagonisten wird Richard auch in der Geschichte “Die Ansiedelung auf dem Meeresgrund” begegnen.
Dank des exzentrischen Gegenspielers und vor allem einer minutiös und detailliert aufgebauten Gesellschaft auf der kleinen, für die Menschheit unsichtbaren polynesischen Insel mit Richard als dem ungläubigen, alles hinterfragenden Thomas präsentiert Robert Kraft viele Themen, die mit ihrer Mischung aus Mystik, Aberglauben und Technik auch in seinen späteren Kolportageromanen wieder aufgegriffen werden.
„Das Stahlross“ ist unabhängig von der spannenden Handlung vielleicht neben „Eine Nordpolfahrt“ die leichteste Lektüre dieser Sammlung. Bei Robert Kraft wird sehr viel mit technischen Hilfsmitteln gereist. „Im Zeppelin um die Welt“ (1909) , „Im Aeroplan um die Erde“ (1909/ 1910) oder auch „Im Panzerautomobil um die Erde“ (1904). Warum nicht zu Pferde? Ein junger deutscher Ingenieur – natürlich Richard -- hat ein künstliches Pferd aus Stahl mit vielen kleinen weiteren Gimmicks entwickelt, mit der er von Windhoek durch die Wüste reiten will, um seine Erfindung der Welt zu präsentieren. Natürlich wird das Pferd von einer bislang unbekannten Energie angetrieben, welche die Menschen von den fossilen Brennstoffen unabhängig macht. Ein roter Faden nicht nur in Robert Krafts Werk. Auch die Waffen haben eine geheimnisvolle Wirkung.
Der örtliche brutale Sheriff als Handlanger der Briten soll sich im Auftrag der Krone des Pferdes bemächtigen. Durch einen Zufall trifft Richard das jüngste deutsche Opfer des Sheriffs und befreit ihn aus einer lebensgefährlichen Situation. Dessen Schwester befindet sich immer noch in der Hand des Sheriffs. Die beiden Männer beschließen, das Mädchen zu befreien und geraten in einen Hinterhalt.
Die Grundhandlung ist ein klassischer Karl May Stoff mit einem deutschen Überhelden – nur das Stahlross ersetzt den Bärentöter und den Henrystutzen – und ausländischen Feinden. In diesem Fall Briten, welche sich nicht um die für die Kolonien geschlossenen Abkommen kümmern. Die Schurken werden eindimensional dargestellt. Sie scheitern nicht nur an der intellektuellen wie technischen Überlegenheit des Deutschen, sondern vor allem an der eigenen Arroganz.
Stellt „Das Stahlross“ vielleicht unfreiwillig eine Hommage an Karl May dar, dann ist „Die Ansiedelung auf dem Meeresgrund“ Jules Verne gewidmet. Richard entwickelt in seinem Traum einen Tauchanzug, der sich dem stetig steigenden Druck in den Tiefen des Meeres anpasst. Bei einem der Tauchtests stößt Richard auf eine untergegangene Stadt maurischen Ursprungs und vor allem einen Schienenstrang auf dem Meeresgrund. Die Eisenbahnwagen bestehen aus leuchtenden Kugeln. Männer bauen die Stadt ab und verladen die Steine in die Eisenbahn. Richard schleicht sich ein und findet sich plötzlich in der im Titel erwähnten Ansiedlung auf dem Meeresgrund wieder. Herrscher ist der “Meister”, ein ebenso genialer Erfinder wie Richard. Auch er hat einen vergleichbaren Tauchanzug erfunden. Die Männer haben sich in diese Siedlung von der Welt zurückgezogen. Sobald sie ihren Eid auf den Meister geschworen haben, dürfen sie sich in der Siedlung frei bewegen. Sie müssen auch nicht arbeiten. Nur das Geheimnis muss gewahrt werden. Das erinnert alles natürlich an Jules Vernes „20.000 Meilen unter den Meeren“, wobei die Siedlung fest auf dem Meeresgrund verankert ist. Richard will sich aber dem Meister nicht beugen und sucht wie die Gefangenen an Bord der „Nautilus“ nach einer Fluchtmöglichkeit.
Die Überschneidungen mit Jules Vernes Klassiker sind groß. Vielleicht zu groß. Der Leser muss aber diesen Gedanken ignorieren und sich die vielen in erster Linie technischen Ideen anschauen, welche Robert Kraft auf den wenigen Seiten in die Novelle eingebracht hat. Leider endet wieder eine sehr gut geschriebene dramatische Situation mit Richards Erwachen. Mit diesem für die Handlung notwendigen Kniff macht es sich Robert Kraft manchmal zu einfach. Der Leser und Richard verdienen es, dass die Träume auch bis zum bitteren Ende oder einem Happy End gehen und nicht immer wieder abrupt enden. Die jeweiligen Enden sind in der Masse betrachtet die größte Schwäche dieser Novellensammlung.
Der lustigste Traum ist sicherlich „Eine Nordpolfahrt“. Im Gegensatz zu den meisten Träumen, in denen Richard entweder ein fast altkluger Knabe oder ein junger, aus der Masse herausragender Mann ist, präsentiert Robert Kraft ihn in dieser Novelle als alten Seebären, der eine lange Karriere an Bord von verschiedenen Schiffen hinter sich hat und endlich seine erste Fahrt als Kapitän von der Reederei quasi geschenkt bekommt. Er soll einen Vergnügungsdampfer gen Norden führen, auf dem sich eine Schar von exzentrischen Künstlern eingemietet hat. Die Idee, Seefahrt mit aus Robert Krafts Sicht nahe an der Dekadenz lebenden Künstlern- Schauspielern, Komponisten oder Schriftsteller bilden in diesem Fall eine Einheit – zu kombinieren, wird der Autor in der Miniserie „Schnelldampfer Mikrokosmos“ drei Jahre später und noch einmal in „Das Gauklerschiff. Die Irrfahrten der Argonauten“ (1912) ausführlicher präsentieren. Auf der Fahrt gen Norden verführen die Künstler Richard, leichtsinnig zu werden. Das Schiff wird erst von Packeis eingeschlossen, später bedrohen Eisberge seine Existenz. Richard muss auf der einen Seite seine Passagiere in Sicherheit bringen, auf der anderen Seite ihre Exzentrik im Zaum halten.
Die Novelle ist ein Feuerwerk von kleinen, bizarren Ideen. Höhepunkt ist neben der Polachse, die immer von Eskimos geschmiert werden muss, das Ausgraben des Nordpols, der sich als alter eingefrorener Baumstamm entpuppt. Die Figuren sind überdreht gezeichnet, eine echte Sympathie kommt nicht auf. Auch wenn Richard seinen Fehler wieder gut macht, muss ihm der Vorwurf gemacht werden, dass er sich nicht an seemännische Bestimmungen gehalten hat. Knapp zehn Jahre später wird ein vergleichbarer Fehler ja zum Untergang der „Titanic“ führen. Aber die Grundstimmung dieser Geschichte ist derart optimistisch, dass so etwas hier nicht passieren kann.
“Aus dem Reich der Fantasie” ist ein idealer Einstieg in den Robert Kraft Kosmos. Alle relevanten Themen seines umfangreichen Werkes werden in den zehn Träumen gestreift. Dabei erweist sich Robert Kraft nicht nur als phantasievoller Erzähler, der begrenzte Umfang in Kombination mit den in sich abgeschlossenen Träumen zwingt den Leipziger, deutlich stringenter und vor allem fokussierter zu schreiben als er es später in seinen manchmal zu umfangreichen Kolportageromanen gemacht hat.
Die Herausgeber haben diese Ausgabe behutsam an die neue deutsche Sprache angepasst. Puristen können - allerdings selten und antiquarisch - auf die beiden Ausgaben der Braatz Edition zurückgreifen. Dort ist die Sammlung 2004 als Nullnummer, aber auch 2017 in einer Neuauflage weiterhin in Frakturschrift erschienen.
- Herausgeber : Hofenberg (18. Mai 2023)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 268 Seiten
- ISBN-10 : 3743742888
- ISBN-13 : 978-3743742888