Die Seelen von Stambul

Alexander Röder

„Die Seelen von Stambul“ ist der zehnte Roman der Karl May magischer Orient Reihe, die ursprüngliche Anthologie „Auf phantastischen Pfaden“ zählt dabei nicht mit. Gleichzeitig ist es der Auftakt einer neuen Tetralogie innerhalb dieses phantastischen Ablegers des Karl May Kosmos, geschrieben vom fleißigen Stammautoren Alexander Röder. Der in Marburg lebende Röder hat vorher die Serie mit der Tetralogie um den Mächtigen Al- Khadir und die Rückkehr des Schuts eröffnet. Neben der Mitarbeit am Fugenroman „Sklavin und Königin“ verfasste der Autor noch solo den Folgeroman „Auf der Spur der Sklavenjäger“. Es ist nicht unbedingt notwendig, die vorangegangenen Bücher zu kennen, aber es erhöht das Lesevergnügen. Alexander Röder greift nicht nur auf eine Reihe der von ihm erschaffenen Nebenfiguren zurück, sondern vertraute magische Gegenstände wie das besondere Zelt dieses Mal in einem Wirtshaus als besonderen Tagungsraum oder Kara ben Nemsis kontinuierliche Hinweise, auf seine letzten vier Jahre mit magischen Begegnungen sowie dem magischen Schachspiel spielen mehr oder minder wichtige Rollen.

 „Die Seelen von Stambul“ ist der erste Roman eine Serie. Das Ende ist offen, auch wenn Alexander Röder eine Konfrontation vorläufig „abschließt“ und den Protagonisten als Mensch gestrandet zurücklässt. Wie in seinen ersten vier Romanen nutzt der Autor den reichhaltigen Hintergrund des inzwischen sehr magischen Orients, um nicht nur den eigentlichen Plot – dieser folgt klassischen Karl May Motiven – zu etablieren, sondern ausführlich die einzelnen Schachfiguren auf einem mehrdimensionalen Brett zu positionieren. Diese Vorgehensweise kommt den Stammlesern von Karl Mays magischem Orient vertraut vor. Aber trotzdem unterscheidet sich „Die Seelen von Stambul“ deutlich von der ersten Tetralogie. In den ersten Romanen sind magische Momente vor den ungläubigen Augen nicht nur Kara ben Nemsis, sondern auch seiner Weggefährten vorsichtig eingeführt worden. Es bestand immer die Möglichkeit, einer Sinnestäuschung zu unterliegen. „Die Seelen von Stambul“ legt diese Vorsicht endgültig ab. Es ist eine magische Reise durch verschiedene Alptraumwelten.

 Kara Ben Nemsi wird zur Hochzeit eines ihm aus seinen Reiseberichten bekannten englischen Botschafters nach Istambul eingeladen. Nur erricht ihn die Einladung erst am Tag der Hochzeit in seiner Heimat Dresdsen. In einer zweiten Nachricht von seinem Freund Hadschi wird er gebeten, seinem Freund beizustehen, da anscheinend magische Mächte aus dem Hintergrund nach der Macht in Instambul zu greifen. Kara Ben Nemsi soll incognito anreisen und auf keinen Fall Kontakt mit dem potentiellen Opfer, Maflei, aufnehmen.

 Kaum in der britischen Botschaft in der Hauptstadt des osmanischen Reiches angekommen, erwartet ihn eine Überraschung. Der britische Botschaft hat nach islamischen Glauben ein zweites Mal geheiratet. Nur formell und die Braut ist niemand anders als die Hexe Quendressa, die am Ende der ersten Tetralogie ihrer Kräfte beraubt in das magischen Niemandsland verbannt worden ist. Jetzt soll Quendressa die auseinanderströmenden Kräfte in Istambul dank ihrer formalen Hochzeit mit dem britischen Botschafter unter Kontrolle halten.

 Quendressa erster Auftritt ist der Beginn einer wahren Tour de Force durch die verschiedenen Welten. Kara Ben Nemsi vertraut der ursprünglichen alten Frau, durch Magie jung geblieben, nicht. Allerdings ist Quendressa seine einzige Verbündete. Mit einer Mischung aus Arroganz und gleichzeitig auch wohlmeinender Toleranz dem Ewig Ungläubigen gegenüber führt sie ihn auf der Suche nach Maflei, durch eine Reihe von sehr unterschiedlichen Gefahren. Schon in den ersten vier Romanen hat Alexander die sexuell durchaus attraktive und aggressive Hexe mit einem tief in ihrem Inneren verborgenen Herz aus Gold als eine charismatische Begleitung und stellenweise Gegenspielerin Kara Ben Nemsi etabliert. Auf dieser Basis baut der Autor den Charakter vor allem in der ersten Hälfte des vorliegenden Buches deutlich mehr aus.

 Aus Hadschi Halef Omars Familie kommt mit der Schwiegermutter Amscha seine neue Figur. Hadschi Halef Omar ist den magischen Kräften unterlegen und hat sich laut Amschas Aussage den Aufrührern angeschlossen. Amscha versucht gleichzeitig den geliebten Schwiegersohn zu retten, wie auch Kara Ben Nemsi bei seiner übergeordneten Mission zu unterstützen, das Hauptziel des Sultans ohne Namen Maflei zu schützen. Dabei ahnen weder Quendressa noch Kara Ben Nemsi, das sie anfänglich in diesem Spiel nur Köder sind.

 Um die drei angesprochenen Hauptfiguren, von denen nur Kara Ben Nemsi in allen Szenen gegenwärtig ist, herum hat Alexander Röder eine Reihe von faszinierenden Nebenprotagonisten etabliert. Da wäre die beiden Kutscherbrüder Uslu und Utku Berk – sowie ihr Über- Ich in einer anderen Dimension -, die mittels einer Art magischen Pfeife jederzeit gerufen werden können. Kara Ben Nemsi kann sie nicht voneinander unterscheiden, wobei sich die Frage stellt, ob die Brüder den Deutschen nicht absichtlich verwirren.

 Die Seelen von Stambul mit ihren tragischen Schicksale öffnen eine gänzlich andere, faszinierende Dimension dieser Geschichte. Auf seiner Reise wird Kara Ben Nemsi die Geschichte der Stadt am, Bosporus präsentiert. Alle Dimensionen und Zeiten gleichzeitig. Wie ein modernes Drei- D Kino öffnet sich eine Flut von Bildern vor dem überforderten Kara Ben Nemsi. Es ist eine der besten Szenen innerhalb der bisherigen Serie und zeigt, wie effektiv sich Karl Mays Figuren mit dem phantastischen Orient verbinden lassen. Am Ende dieser Sequenz, als es nicht nur um die vielen gefangenen Seelen, sondern Kara Ben Nemsis eigene Essenz geht, verzichtet Alexander Röder allerdings auf die christliche Symbolik, welche Karl Mays teilweise belehrende Geschichten für die Jugend auszeichneten. Dadurch wirkt dieser Kara Ben Nemsi moderner und zugänglicher, aber auch deutlich entfernter von der ursprünglichen Vorlage.

 Das Titelbild zeigt einer der übernatürlichen Bedrohungen, mit denen sich Kara Ben Nemsi auseinandersetzen muss. Anfänglich noch begleitet von Quendressa, die leider in der zweiten Hälfte des Romans über einen weiteren Handlungsabschnitt aus dem Plot genommen wird. Sie ist die Brücke zwischen dem Leser und Kara Ben Nemsi. Auf eine interessante, aber nicht belehrende Art und Weise erläutert sie die Hintergründe der überwiegend tragischen Figuren. Sie hat auch die entsprechenden magischen Waffen parat, um gegen die Feinde zu kämpfen. Und notfalls tut es ein altmodischer kleiner Damencolt, geladen mit silbernen Patronen. Viel effektiver als der Henrystutzen. Auch wenn Kara Ben Nemsi in seinen bisherigen Abenteuern innerhalb dieser Serie auf eine Reihe von magischen wie technischen Wundern – auch Nemo und der Nautilus, wie Arthur Conan Doyle in seiner Zeit vor Sherlock Holmes ist er begegnet – getroffen ist, fehlt ihm teilweise noch der Glaube. Da hilft das wiederholte Zurückblicken auf die letzten vier Jahre wenig. In dieser Hinsicht versucht Alexander Röder noch die richtige Balance zwischen dem Überhelden aus Karl Mays Romanen und dem jetzt übernatürlichen Hintergrund der neuen Geschichten zu finden. Manchmal greift der Autor auf die klassischen Momente Karl Mays zurück, dann lässt er seinen Helden zumindest kurzweilig gebrochen und seelenlos in einer Anderswelt zurück. Selten ist Kara Ben Nemsi von seinen natürlich wie Marionetten manipulierten Freunden und Kampfgefährten so schonungslos deren „Wahrheit“ ins Gesicht gesagt worden.

 Interessant, aber auch konsequent ist der gänzliche Verzicht auf Kara Ben Nemsis treuen Begleiter Hadschi Halef Omar. Er wird in den folgenden Bänden zurückkehren, die Befreiung vom fremden Einfluss wird ein wichtiges Handlungselement sein, bevor er gegen Ende der Geschichte tapfer an der Seite seines Freundes steht. Da Alexander Röder in „Die Seelen von Stambul“ vor allem das ganze Szenario etabliert und damit auch den zukünftigen, auf den ersten Blick magisch- übermächtigen Antagonisten etabliert, vermisst der Leser den kleinen tapferen Hadschi (noch) nicht. Neben der Exposition konzentriert sich Alexander Röder auf einige klassische Sujets Karl Mays. Eine Falle, aus der es im Grunde kein Entkommen gibt und welcher Kara Ben Nemsi den neueren Autoren des Kanons folgend auch nur mit Hilfe entfliehen kann. Dazu die Entführung nicht nur einer oder zwei Nebenfiguren, sondern in unterschiedlichen Stadien drei von Kara Ben Nemsis wenigen Gefolgsleuten. Freunde und Helfer findet der Deutsche zwar unter der einheimischen Bevölkerung und die beginnende Auseinandersetzung mit den bulgarischen Blut- und Seelensaugern erinnert an eine „Dracula“ Hommage, aber in vielen Szenen ist Kara Ben Nemsi auf sich alleine gestellt und mit seiner dürftigen Magie buchstäblich am Ende. Kara Ben Nemsi reagiert ausschließlich auf Ereignisse, aktives Handeln seinerseits steht noch nicht auf Alexander Röders Agenda.      

 Marionetten ist ein weiteres verbindendes Glied dieser Miniserie. Um die Machtergreifung vorzubereiten, müssen hochrangige türkische Politiker sterben. Entweder begehen sie wie Marionetten an feuerroten, aber nur magisch Begabten sichtbaren Fäden Selbstmord oder sie werden Opfer der bulgarischen Monster, die wie ihre rumänischen Brüder gerne von Blut, aber auch Seelen leben. Alexander Röder greift tief, aber zufrieden stellend auf die Legenden der Balkanstaaten zurück. Diese lebendige Beschreibung zeichnete auch schon die vier Romane um die Rückkehr des Schuts aus.

 Stilistisch liest sich „Die Seelen von Stambul“ deutlich besser als die teilweise überfrachtete erste Tetralogie. Neben dem jetzt standfesteren und damit sicheren Gefühl für die übernommenen Karl May Figuren hat Alexander Röder nicht nur einen sehr interessanten, in den nächsten Romanen sicherlich auszubauenden Hintergrund für seinen ewigen Konflikt zwischen gut und böse erschaffen, sondern der Plot ist besser zwischen gut platzierten Spannungsszenen und umfassenden, aber die Handlung nicht erdrückenden oder das Erzähltempo zum Stillstand bringenden Hintergrundinformationen ausbalanciert. 

 „Die Seelen von Stambul“ ist ein lesenswerter Auftakt einer neuen Miniserie innerhalb von Karl Mays magischen Orient. Es empfiehlt sich weiterhin, die ersten Romane zumindest aus Alexander Röders Feder zu kennen, damit der Plot sein volles Lesevergnügen, seine atmosphärische Tiefe entfalten kann. Es ist aber nicht zwingend notwendig, nicht mit „Die Seelen von Stambul“ zu starten. Eine Reihe von wichtigen Fakten werden quasi im Vorüberreiten oder während den Kutschfahrten mit den beiden Berk- Brüdern mitgeliefert.

Die Seelen von Stambul: Der Sultan ohne Namen - Teil 1 Karl Mays Magischer Orient, Band 10

  • Herausgeber ‏ : ‎ Karl-May-Verlag; 1. Edition (6. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 440 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3780225107
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3780225108
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