Zyniker könnten davon sprechen, das die Publikationsgeschichte von „Das Ungeheuer“ länger ist als die eigentliche, kurzweilig zu lesende Geschichte.
Das inzwischen verstorbene Ehepaar Michael und Mollie Hardwick hat den Roman ursprünglich 1970 geschrieben. Es handelt sich um die Adaption von Billy Wilders Kinofilm „Das Privatleben des Sherlock Holmes“. Das Buch erschien unter dem Filmtitel zum ersten Mal 1973 im König Verlag.
Der Blitz Verlag legte es als Teil der Sherlock Holmes Criminal Bibliothek 2006 neu übersetzt wieder auf. Neben einem schönen Titelbild von Mark Freier verfügte die Paperbackausgabe über Innenillustrationen von Andreas Gerdes.
Die Neuauflage „Das Ungeheuer“ basiert auf der 2006er Ausgabe. Mario Heyer ist für das Titelbild verantwortlich. Einen Hinweis auf die ursprüngliche Ausgabe, einen Originaltitel oder gar Übersetzer finden sich nicht im Impressum.
Patrick Kincaids Roman „Das Script-Girl“ spielt während der Dreharbeiten zu Billy Wilders Komödie und stellt eine ideale Ergänzung zum vergnüglichen Roman dar.
Der Roman beginnt mit einer Rahmenhandlung. Fünfzig Jahre nach dem Tod von Doktor Watson erhält ein Enkel von einem bekennenden Sherlock Holmes Fan und Banker den Inhalt eines Schließfachs ausgehändigt. Der Chef der Filiale hat anscheinend extra seinen Ruhestand verschoben, um den Schließfachinhalt persönlich zu übergeben. Als typischer Brite sieht er Sherlock Holmes und damit auch Doktor Watson als die Inkarnation des verlängerten Arms der britischen Regierung und nicht James Bond, der gerade im Kino mit „Goldfinger“ so populär gewesen ist.
Neben einigen Utensilien wie Sherlock Holmes Pfeife oder einer Kokainspritze sowie alten Fotos findet sich ein Manuskript zu einem politisch brisanten Fall, den Doktor Watson zu Lebzeiten nicht veröffentlichen wollte.
Der eigentliche Fall entwickelt sich erst relativ spät. Vorher gibt es eine klassische Billy Wilder Episode mit moralischen Verwechselungen. Sherlock Holmes und Doktor Watson bekommen eine Einladung zum Ballett Schwanensee. Der Direktor des Balletts hat einen delikaten Auftrag. Die Primaballerina Madama Petrova möchte Holmes als dritten oder vierten möglichen perfekten Kandiaten zum Vater ihres Sohnes machen. Dazu soll er mit ihr eine Woche Liebesurlaub in Venedig verbringen. Als Geschenk soll Holmes eine Stradivari erhalten, die berühmte Geige, auf die Arthur Conan Doyle immer Bezug genommen hat. Egal, ob Sherlock Holmes seine Mission erfüllt oder nicht. Während dieses Gesprächs vergnügt sich Doktor Watson hemmungslos mit den Tänzerinnen. Trotzdem geling es Holmes, sowohl den russischen Direktor des Balletts wie auch der Primaballerina davon zu überzeugen, das Doktor Watson und er mehr als nur Wohnungsgefährten sind.
Die Episode – im Laufe des Romans wird nicht mehr Bezug darauf genommen – endet mit einer explizierten Einladung an Doktor Watson – vom Direktor des Balletts, während Sherlock Holmes seine berühmte Geige überreicht bekommt.
Weiterhin lehnt Sherlock Holmes das Angebot eines aus seiner Sicht geizigen Zirkusdirektors ab, nach seinen verschwundenen sieben zwergenartigen Artisten zu suchen. Kopfgeld umgerechnet ein Pfund pro Zwerg. Aber in einem guten Billy Wilder Drehbuch geht keine Idee verloren, wie Sherlock Holmes, Doktor Watson und die Zuschauer bzw. jetzt Leser feststellen müssen.
Die Drehbuchautoren I.A.L. Diamond und Billy Wilder nehmen sich viel Zeit, einzelne Aspekte aus den Kanongeschichten zu streifen. Patrick Kincaids fiktiver Roman zu den Dreharbeiten impliziert, das die Rohschnittfassung mindestens eine Stunde länger gewesen ist und das Material inzwischen verloren gegangen ist. So geht Doktor Watson auf Sherlock Holmes Kokainsucht ein, der sich mit einem einfachen Trick aus der Bredouille befreit… vor den Augen seines Freundes zerstört er die Fläschen mit dem „Kokain“.
Kaum hat Holmes seine Geige und Doktor Watson seine Einladung erhalten, bringt ein Kutscher eine junge Dame in die Baker Street, welche er aus dem Wasser der Themse gezogen hat. Sie kann sich an nichts erinnern, nur das sie immer wieder Sherlock Holmes Namen stammelt.
Der in ihrer Hand durch die Feuchtigkeit noch erkennbare Gepäckschein führt Sherlock Holmes zum Koffer der Dame und damit auch ihrer Identität. Sie heißt Gabrielle Valladon, kommt aus Belgien und sucht ihren Mann Emile, der für eine Firma in London gearbeitet hat. Seit drei Wochen hat sie auf ihre Briefe keine Antwort mehr bekommen.
Bei der Verfolgung der wenigen Spuren findet Sherlock Holmes schließlich auch eine Einladung von seinem Bruder Mycroft Holmes in den Diogenes Club. Dieser rät von einer weiteren Verfolgung der Spur ab, macht aber einen nicht erklärbaren Fehler, in dem er im Beisein seines Bruders von einem Ort in Schottland spricht.
Sherlock Holmes, seine “Frau” Gabrielle Valladon und schließlich auch ihr gemeinsamer Diener Watson machen sich auf den Weg ins schottische Hochland.
Auf dem Kinoplakat von Billy Wilders sehenswerter Komödie stand “What you don´t know about Sherlock Holmes has made a great Motion Picture”. Schon beim Film stand das angebliche Privatleben über dem eigentlichen Fall, welcher der Tradition der heimlichen Verteidigung des Vaterlands gegen ausländische Spione folgte. Nur die amourösen Angebote findet der Leser bei Arthur Conan Doyle nicht.
Die erste Ausgabe im Blitz Verlag gab einen wichtigen und zumindest im Film auch überraschenden Aspekt des Filmplots viel zu früh preis. Die Neuauflage mit dem Titel “Das Ungeheuer” und dem Monster von Loch Ness macht es nicht viel besser. Allerdings kann ein Leser, welche den Film nicht kennt, zumindest erst auf den zweiten Blick erkennen, in welche Richtung sich der Plot entwickelt. Hier hilft das geschriebene Wort sogar. Den tricktechnisch wird in Billy Wilders Streifen schnell klar, das es sich bei dem Ungeheuer (von Loch Ness) nicht um ein Tier handeln kann.
Die Adaption des Drehbuchs ist dem Ehepaar Michael und Mollie Hardwick grundsätzlich gelungen. Die verspielte Visualität der opulenten Billy Wilder Inszenierung kann nicht in einem Buch wiedergegeben werden. Die wechselnden Perspektiven des Hauptfalls werden durch einzelne Berichte und wenige Dialoge ersetzt. Bei Doktor Watson ist der Leser gewöhnt, das er seine authentischen Fälle aus der Ich- Perspektive erzählt. Hinsichtlich der Sherlock Holmes Passagen irritiert dieses Vorgehen ein wenig, weil es den Lesefluss hindert und der berühmte Detektiv die nicht immer rühmlichen Szenen in wenigen Worten seinem Freund und damit dem Leser auch direkt hätte erzählen können.
Wie im Film ist im Buch die Reise fast interessanter als das Ziel. Am Ende wirkt alles stark konstruiert und der später betriebene Aufwand steht in einem starken Kontrast zum Ertrag. Sherlock Holmes muss auf den Weg auch relativ wenig deduzieren, sondern die einzelnen Puzzleteile fügen sich auch dank Mycroft Holmes wenig kryptischen Hinweis relativ schnell zusammen.
Auch wenn Sherlock Holmes mehrfach die Freundschaft zu Doktor Watson betont und vordergründig sogar auf sein Kokain verzichten will, nutzt der große Detektiv seinen Freund auch mehrfach aus. Das beginnt bei der Bloßstellung hinter der Theaterbühne, wobei sich Doktor Watson auch wie der sprichwörtlich ältere Junggeselle in einem Harem williger Tänzerin benimmt oder ordentlich balzt; geht über die Strafversetzung in die dritte Klasse durch den Schaffner bis zum Finale, wo Sherlock Holmes seinem Freund aufzeigt, das der Fall Irene Adler sich durchaus wiederholen kann. Zumindest behauptet Sherlock Holmes, das er die Maske der jungen Frau aus dem Wasser der Themse gleich durchschaut hat. Beweise kann er allerdings nicht präsentieren.
Um es mit dem Original zu bezeichnen ist die Romanadaption von “The Private Life of Sherlock Holmes” ein auch heute noch dank des Respekts den Kanonfiguren gegenüber; den pointierten und gut übersetzten Dialogen sowie der immer absurder werdenden Handlung mit dem angesprochenen sehr hektischen Ende ein lesenswertes Büchlein, dem nur der richtige Mantel auch in der Neuauflage umgehängt werden sollte.
Band: 36, Historischer Kriminalroman
Seiten: 158 Taschenbuch
Exklusive Sammler-Ausgabe
Preis: 12,95 €