Der Verlag Dieter von Reeken legt mit „Wieder wandert Behemoth“ aus dem Jahr 1924 den vierten und letzten utopischen Roman des Schriftstellers Egmont Colerus von Geldern mit einem ausführlichen Nachwort Franz Rottensteiners neu auf.
Es lohnt sich, die Lektüre trotz einiger inhaltlicher Hinweise mit Franz Rottensteiners Nachwort zu beginnen. Der Österreicher geht ausführlich auf Egmont Colerus Lebenslauf ein. Dabei stellt er die vier utopischen Romane vor. Hinzu kommen Querverweise auf Colerus andere Arbeiten und seine Faszination mit der Mathematik, die in einigen lesefreundlichen Sachbüchern zu dieser trockenen Thematik gipfelten.
Bei näherer Betrachtung des vorliegenden Werkes fällt auf, dass „Wieder wandert Behemoth“ beginnend mit seinem dunklen prophetischen Titel vielleicht nicht nur die Handlung der vier phantastischen Romane am meisten konsequent zu einem dunklen Höhepunkt führt, sondern die Mischung aus kritischer Betrachtung der Technik und teilweise für die Zeit typisch mit rassistischen Randbemerkungen unterlegte Sozialstudien den Hintergrund der Geschichte bilden. Dazu kommen immer wieder Motive aus der Bibel bzw. den nordischen Götterwelten, die eine relevante, aber auch symbolische Rolle spielen.
Damit unterscheidet sich Colerus schmales Werk von den utopisch technischen Stoffen eines Hans Dominiks, der ja auch viele Romane in den zwanzig Jahren schrieb.. Colerus ist allerdings auch weit von den modernen Märchen eines Carl Grunerts oder eines Kurd Laßwitz aus der Zeit vor und im Ersten Weltkrieg entfernt. Auf der kapitalistischen Ebene folgt Egmont Colerus Bernhard Kellermanns „Der Tunnel“, in dem er die unheilvolle Verbindung zwischen ruchlosen Kapital und den entsprechenden Opportunisten sowie den breiten, rechtlosen und ausgenutzten Massen herstellt. Im Gegensatz zu Kellermanns 1913 veröffentlichten Bestseller siegt nicht am Ende der Wagemut eines Investors.
Überschattet vom Ersten Weltkrieg und dessen Auswirkungen vor allem auf die Weimarer Republik und die anderen Achsenmächte bezeichnet Egmont Colerus seinen Roman als Werk einer Spätzeit. Franz Rottensteiner stellt in seinem Nachwort klar, dass die ersten drei Science Fiction Romane aus der Feder des Autoren fragmentiert und teilweise verworren erscheinen. Auch in „Wieder wandert Behemoth“ vermischt der Autor eine Reihe von Motiven, die Handlung springt eher zwischen teilweise sehr plakativen Höhepunkten hin und her. Das Gesamtbild wird fast wie bei einem Impressionisten aus Bruchstücken zusammengesetzt.
Der Leser sollte die Handlung von der utopisch technischen Ebene aus kommend betrachten. So sieht sich einer der Antagonisten Herckenau in den „allgemein tierischen Kampf um die greifbaren Dinge nicht so sehr zwischen Arbeitern und Kapitalisten, als zwischen Beharren und Veränderungswunsch in der Menschheit“ (Seite 28) eingebunden. Sein Ziel ist nach der Kontrolle der Strahlungsenergien und der Lichtanlagen der ganzen Welt die Erschaffung einer neuen Währung, den Platinmünzen. Mit dieser These geht Colerus sogar einen Schritt weiter als zum Beispiel Kellermann, denn hart gesprochen will Herckenau nicht in den Konflikt zwischen aus seiner Sicht Beharren und Veränderungswünschen eingreifen, sondern seinen persönlichen Status Quo festlegen. Diese These wirkt angesichts des technischen Fortschritts in der Realität absurd. Auch wenn Kellermann im Gegensatz zu Dominik die Großindustrie per se bis auf seinen fast naiven Ingenieur Marc Allan als böse und egomanisch dargestellt hat, rückt Egmont Colerus seine Kapitalisten noch einen Schritt weiter in Richtung Hölle. Dagegen war Hans Dominik ja immer der technische Optimist, der zumindest aus deutscher Sicht und dank deutscher Ingenieure die Technik als etwas generell Gutes notfalls nur in falschen Händen angesehen hat.
Zumindest vertraut Colerus in seiner Geschichte auf das ausgleichende Eingreifen der ansonsten eher hilflos beschriebenen Politik, welche das Platinmünzenmonopol zerschlägt. In Kellermanns Romanen wie „Der Tunnel“, aber vor allem auch dem einige Jahre nach „Wieder wandert Behemoth“ entstandenem Werk „Die Stadt Anatol“ vernichtet sich das Kapital dank der Gier der breiten wie dummen Massen fast gänzlich selbst, bis nach der geplatzten Ölblase in der kleinen Stadt oder dem Stillstand der Arbeiten am “Tunnel” nur noch wenige große Firmen übrig bleiben, die emotionslos und minutiös planend die Reste der Spekulanten aufkehren und quasi metaphorisch entsorgen.
Der Konflikt zwischen Geld und Hand (der überwiegend schwarzen, wie bei H.G. Wells ausschließlich unter Tage arbeitenden Schwarzen) gipfelt schließlich in der gigantischen spiralförmigen Stadt aus Porzellan, die sich Herckenau an den Ufern des spanischen Flusses Guadalquivir bauen lässt. Herckenaus Gegenspieler ist mit Dimitri Balkovis eher ein mit breiten Strichen gezeichneter kraftvoller „Urmensch“, der mit seinem Arbeiterheer eben unter der Stadt die Kohle abbaut.
Der dekadente reichhaltige Lebensstil auf dieser bis auf Japan nach einem Nordsüdkonflikt in Frieden lebenden Welt trifft folgerichtig auf die wie mehrfach angesprochen ungebildeten rohen Menschenmassen, die ausgebeutet und abseits des Lichts leben und arbeiten müssen. Das Finale ist von biblischer Kraft und die Bestrafung von drei Stellvertretern am Kreuz wirkt eher wie ein endgültiger Abschluss als der potentielle Neubeginn einer inzwischen orientierungslosen, aber dank der verschiedenen „göttlichen“ Elemente sich wieder der Religion zuwendenden Welt.
Es ist keine geradlinige Handlung, die Egmont Colerus präsentiert. Expressiv, teilweise manipulierend, aber zwischen den einzelnen Spannungsbögen hin und her springend, abschließende Antworten vermeidend zeichnet der Autor ein bizarres Bild einer Welt, die auf den einen Blick so weit von der Gegenwart des Lesers in der Weimarer Republik entfernt ist, die aber vielleicht auch Filmemacher wie Fritz Lang beeindruckt hat. Die Stadt aus Porzellan ist von einem der größten Künstler der Welt entworfen worden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass dessen Vorname Zarathustra ist. Unabhängig von der Tatsache, dass eine solche Stadt wahrscheinlich statisch nicht möglich ist, unterstreicht diese Idee, wie stark Egmont Colerus auch mit Gegensätzen arbeitet. Das zerbrechliche Porzellan für einen Mann, der seinen Reichtum mit der Kohle verdient hat.
Behemoth selbst wandert erst ab der Mitte des Buches. In der Bibel ist Behemoth das Monster aus dem Buch Job, das von Gott zu Beginn der Schöpfung erschaffen worden ist. Zusammen mit einem weiteren Monster, dem Leviathan, sollen Behemoth und Leviathan am Ende der Zeit - der sozialen wie auch politischen Ordnung - die aufrechten Juden mit Nahrung für die dunklen Tage versorgen. In Egmont Colerus Buch steht Behemoth eher für das Ende einer Ära. Sie gipfelt schließlich in Golgotha, erbaut dieses Mal auf Schutt und Kohle der alten dekadenten Welt. Viel bezeichnender ist, dass Colerus allerdings den aufrechten Juden keine Erlösung verspricht, sondern eine neue Drohung sich abzeichnet. Japan hat Millionen von Waffen in der Wüste vergraben. Geduldig hat sich das Reich der Sonne auf den Tag vorbereitet, wenn eine Weltherrschaft wieder möglich ist. Im Epilog impliziert Egmont Colerus, dass neben Behemoth auch die Japaner wieder marschieren und die verbliebene Welt in ihrem Angesichts neu formen wollen.
Vieles spiegelt den Zeitgeist der Weimarer Republik zwischen Aufbruch (in den Nationalsozialismus mit einem ideologischen Verführer an der Spitze) und Dekadenz/ Luxus für eine kleine Elite wider. Franz Rottensteiner nennt in seinem Nachwort noch einige andere Romane dieser Zeit, die sich mit verschiedenen utopischtechnischen, aber sozialen Problemen abseits der breiteren SF Unterhaltungsliteratur auseinandergesetzt haben. Aber nur wenige Autoren verbinden konsequent, allerdings auch manipulierend eingesetzt biblische Motive mit einer klassischen Science Fiction Geschichte sowie dem ewigen Konflikt zwischen Kapital und der breiten, in diesem Fall auch farbigen Arbeitermasse. Es ist ein erstaunlich weiter Bogen, der hier ausgesprochen herausfordernd und immer die Aufmerksamkeit der Leser fordernd ausgebreitet wird. Alleine die Sonderstellung im deutschsprachigen phantastischen Genre dieser kurzen Zeit zwischen den Weltkriegen bedingt den hier vorliegenden, wieder sehr sorgfältig zusammengestellten Nachdruck. Ohne die Initiative von Herausgebern wie Dieter von Reeken oder Franz Rottensteiner würden Schriftsteller wie Egmont Colerus noch mehr von der schnelllebigen hektischen Zeit, die sie in ihren Werken auch kritisieren, vergessen werden.
- Herausgeber : Reeken, Dieter von; 1. Edition (7. Oktober 2022)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 187 Seiten
- ISBN-10 : 3945807751
- ISBN-13 : 978-3945807750
- UNSPSC-Code : 55101500 (Gedruckte Publikationen)