Der deutsche Untertitel zu Edward Ashtons Gebütroman „Mickey 7“ ist schlicht falsch. Mickey 7 ist nicht der letzte Klon. Fokussiert sich der Leser alleine auf diesen Roman und nicht Ashtons Universum, gibt es mindestens einen weiteren Klon, auch wenn Mickey 7 eine ungewöhnliche Zeit durchleben muss.
Stilistisch erinnert vieles in „Mickey 7“ an die Romane von Andrew Weir. Wie „Der Marsianer“ hat „Mickey 7“ mit dem Oscar prämierten Bong Joon-ho und Robert Pattinson in der Titelrolle auf Aufmerksamkeit von Hollywood erweckt. Beide Romane sind in der inzwischen gerne genutzten Form der Ansprache direkt an den Leser verfasst worden. Der Ich- Erzähler und der Leser bilden eine Einheit. Sie wissen mehr als der Rest der Welt. Und wenn es notwendig ist, steht der Leser neben dem Protagonisten, um Informationen aus erster Hand zu erfahren. Alles Wissen wird subjektiv vermittelt. In Form von lakonisch ironischen Bemerkungen oder wenn es inhaltlich notwendig ist als Einschub in einer dramaturgisch wichtigen Szene. Dazu kommt der Wise- Guy Ansatz. Der Erzähler und Protagonist ist auf der einen Seite auf eine bodenständige Art schlauer als alle Anderen und zeigt es auch. Auf der anderen Seite befindet er sich in einer faszinierend einfachen „Notsituation“, welche auf einer der Ideen technischen Wurzeln des Science Fiction Genres basiert und trotzdem einen neuen, gänzlich anderen Aspekt offenbart.
Im Gegensatz zu Andrew Weir, der mit seinem Debütroman einen phänomenalen Erfolg verzeichnen konnte, verfasste der auch in der Krebsforschung tätige Edward Ashton schon zwei andere Romane „Three Days in April“ – auf deutsch als „Hagerstown“ erschienen – und „The End of the Ordinary“. Dazu kommen noch mehr als ein Dutzend Kurzgeschichten.
Eine Fortsetzung zu „Mickey 7“ wird unter dem Titel „Antimatter Blues“ für das Jahr 2023 angekündigt. Die Idee einer Fortsetzung ist nicht unbedingt notwendig. Der Titel des zweiten Roman geht auf eine offene Flanke zurück, die Mickey 7 nicht nur seiner Freundin, sondern auch dem Leser präsentiert. Das Ende einer Reihe von Bluffs, mit denen der Klon nicht nur sein Leben retten, sondern auch den Fortbestand der menschlichen Kolonie auf dem Eisplaneten sichern wollte.
Die Ausgangsidee ist bestechend einfach. Auf jeder Expedition zu den Sternen nicht mehr von der Erde, sondern dem Planeten Midgard muss es einen Expendable geben. Einen Freiwilligen, der die wirklich gefährlichen bis tödlichen Missionen übernimmt und sich dann als eigener Klon mit einem möglichst vollständigen Gedächtnis wiedererwecken lässt. Mickey ist dieser Klon an Bord des Raumschiffs. Er hat sich „freiwillig“ auf den einzigen freien Posten gemeldet, wobei als weitere Problemebene eine Religion namens Natalisten erschaffen werden muss, die an ein Leben und eine Unsterblichkeit der Seele glauben und deswegen die Expendables per se inklusive des Klonens ablehnen. Aber Mickey hat keine Wahl. Auf Midgard hat er Schulden, weil er gegen seinen früheren Freund Berto gewettet hat. Da bleibt nur der einzige freie Job außerhalb des Planeten übrig.
Wie bei vielen Expeditionen erweist sich der Zielplanet nicht als unbedingt geeignet. Ein neues Ziel kann mangels Treibstoff und vor allem Zeit auch nicht programmiert werden. So sind die Siedler immer wieder besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Einige Kolonien gedeihen, viele andere scheitern, wie Mickey 7 dem Leser bei den eigenen Studien hinsichtlich der Kolonialgeschichte offenbart.
Bei einer Expedition außerhalb des auf der Eiswelt errichten Doms bricht Mickey 7 im ewigen Eis ein. Die dort lebenden Kreaturen namens Creeper drohen ihn zu fressen oder er wird unter dem ewigen Eis erfrieren. Auf jeden Fall lässt ihn sei Freund im Stich. Dank eines Creepers überlebt Mickey 7 allerdings und kehrt in den Dom zurück, wo ihn sein Nachfolger Mickey 8 erwartet. Es kann allerdings nur einen geben.
Die Grundidee ist interessant. Die Menschen wohnen unterhalb einer Kuppel mit beschränkter Energie, vor allem auch limitierten Vorräten. Das Eis macht das klassische Auspflanzen unmöglich. Die Vorräte sind rationiert und werden mittels Kalorien zugeteilt. Jetzt gibt es plötzlich gegen alle Gesetze zwei Klons, die sich eine Karte teilen.
Das Erzeugen eines Klons benötigt sehr viel Biomasse. Während Andrew Weirs Mark Watney Probleme über weite Strecken des Buches dank der Naturwissenschaften lösen konnte, um auf dem Mars zu überleben, denkt Edward Ashton einzelne Aspekte nicht ganz zu Ende.
Auch die Geburt eines neuen Klons verbraucht Biomasse. An einer Stelle des Buches verlangt der natürlich herrische und verbohrte Vorgesetzte, das der Körper eines draußen gebliebenen Menschen geborgen wird, damit seine Biomasse wieder zurückgeführt wird. Da erscheint es selbst technisch schwierig, innerhalb weniger Stunden, vielleicht nicht einmal einem Tag einen neuen Klon zu erschaffen. Das Wachstum muss innerhalb weniger Stunden erfolgt sein, da Mickey 8 müde, hungrig, aber ausgewachsenen seinen Vorgänger erwartet.
Akzeptiert der Leser diese Ausgangsbasis, entwickelt sich vor allem in der ersten Hälfte des Buches ein interessantes Versteckspiel. Berto hat hinsichtlich des Schicksals von Mickey 7 gelogen. Angeblich ist auch Mickey 6 unter den gleichen Voraussetzungen dort draußen gestorben. An seinen Tod kann sich ein Klon nur erinnern, wenn es ihm andere Menschen erzählen oder er wie bei den ersten Experimenten in dieser Phase ein Backup gemacht hat. Mickey 7 und 8 bringen es nicht über sich, entweder freiwillig aus dem Leben zu scheiden oder den anderen in die Konverterkammer zu stoßen, wo seine Biomasse recycelt wird. Dieser Raum ist frei zugänglich, wie mehrere dramatische Szenen zeigen. Da sich Mickey 7 am Handgelenkt verletzt hat, müsste sich Mickey 8 auch entsprechend „verkleiden“, damit sie als eine Person durchkommen. Eine Person mit halber Nahrung, von der ein frisch aufgewachter Klon sehr viel benötigt.
Nach dem guten Auftakt entwickelt sich der Plot im Grunde auf zwei Handlungssträngen vorwärts und rückwärts zugleich. Mickey 7 bringt dem Leser sein eigenes Schicksal näher. Die Flucht von Midgard; die einzelnen zum Tod der ersten Variationen führenden Experimente; seine ihm treu ergebene Liebe und schließlich die Erkenntnis, dass er nur einen geben sollte, zwei verantwortungsbewusste Klons damit aber umgehen können. Am Ende dieses Handlungsbogen gibt es aber ein Problem. Mickey 8 wirkt eher wie eine jugendliche Inkarnation von Mickey 7, der ursprünglichen Persönlichkeit. Er ist leichtfertig, im Grunde faul und verschlagen. Mickey 7 ist deutlich erwachsener, will seine eigene Haut retten und hat von der fast bedingungslosen Liebe durch die Kampfpilotin Natasha an persönlicher Reife gewonnen. Dabei kennt er erstaunlicherweise keine Eifersucht auf sich selbst.
Das Problem mit den beiden Mickey löst der Autor abschließend auf eine erstaunlich pragmatische Art und Weise. Dabei greift Edward Ashton vielleicht unbewusst auf Autoren wie Llody Biggle jr. , H. Beam Pieper und schließlich auch Keith Laumer zurück, die in ihren Romanen nicht selten intelligente fremde Wesen vor dem dogmatischen Handeln der bornierten Militärs als verlängerter Arm einer in sich verkommenen und kapitalistisch orientierten Menschheit gerettet haben. Und das mittels Intelligenz und der Fähigkeit ordentlich zu bluffen. Neue Lesergenerationen werden staunend vor der vorläufigen Auflösung des Buches stehen. Die Fortsetzung steht ja wie eingangs erwähnt noch aus. Ältere Leser folgen den modernisiert erzählten bekannten Schemata wie einer deutlicheren Distanz. Was nicht passend ist, wird in diesem Fall passend gemacht. Auch hier besteht ein großer Unterschied zwischen Andrew Weirs „Der Marsianer“, der basierend auf einer faszinierend simplen Idee dank der Naturwissenschaften neue Wege gegangen ist.
Der Rückblick ist interessanter. Auch wenn Mickey 7 bzw. Mickey immer wieder neu geborenen wird und trotzdem mit seinem Leben quasi ab dem Moment des letzten Todes abzüglich der nicht durch Updates abgedeckten Lücken weitermacht, hat er Angst vor dem Sterben. Vor allem dem qualvollen Sterben, wie einige mit den Inkarnationen durchgeführte Experimente aufzeigen. Relative Unsterblichkeit ist bei Edward Ashton sehr schmerzhaft.
Um den fast allgegenwärtigen Mickey 7 – die ganze Handlung wird ausschließlich aus seiner subjektiven Perspektive erzählt – herum hat Edward Ashton eine Reihe von eher pragmatischen Protagonisten positioniert, die entweder wie Natasha Mickey per bedingungslos unterstützen oder aus unterschiedlichen Motiven gegen ihn und für das eigene existentielle Überleben arbeiten. Viele Überraschungen gibt es in dieser Hinsicht nicht.
Mit dem saloppen Stil aus der Ich- Erzählerperspektive und der kontinuierlich direkten Ansprache sowie dem cineastischen Erzählstil inklusive der schon angesprochenen notwendigen Rückblenden, aber auch in ausreichenden Dosen verabreichten Hintergrundinformationen hat Edward Ashton einen perfekten Roman für eine entsprechende Hollywood Verfilmung oder Streamingminiserie geschrieben. Der Leser hat auch das unbestimmte Gefühl, als wenn es die Absicht des Autoren gewesen ist.
Die grundlegende Prämisse eines Klons zu viel auf der Station wird dabei eher opportunistisch eingesetzt. Da mehrere Kolonisten auf dem Planeten ums Leben gekommen sind, wären ausreichend Vorräte auch für zwei Mickeys vorhanden, die beide gefährliche Missionen zum Wohle aller übernehmen könnten. Um die bedrohliche Situation nicht unfreiwillig zu entschärfen, führt Edward Ashton mit den Natalisten eine religiöse Gemeinschaft inklusiv des Oberbefehlshabers dieser Mission ein, die dogmatisch vorgeht und liebes alles „verrät“ als Kompromisse zuzulassen. Das wirkt stellenweise konstruiert. Da hilft es auch nicht, wenn Edward Ashton von Beginn an ein sehr hohes Tempo vorlegt. „Mickey 7“ ist kein schlechtes Buch. Es lässt sich kurzweilig lesen; der Autor variiert ein altes Genrethema, aber vieles wirkt auch zu simpel, zu pragmatisch aufgebaut, als das es nachhaltig überzeugen kann. Und das ist der große Unterschied zwischen Edward Ashton und Peter Weirs erstem Buch „Der Marsianer“. Beide haben faszinierende Ausgangslagen; beide Autoren bauen dank ihres Stils sowie ihrer Erzählstruktur gleich eine Beziehung zum Leser auf, aber Andrew Weit etabliert gleich die Ausgangslage und versucht seinen Protagonisten zu retten, während Edward Ashton der ebenfalls schon angesprochenen Tradition eines Lloyd Biggle jr oder H. Beam Piepers folgt und immer wieder nachlegen muss. Das wirkt teilweise leider auch konstruiert.
- Publisher : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe edition (10 Aug. 2022)
- Language : German
- Paperback : 368 pages
- ISBN-10 : 3453321723
- ISBN-13 : 978-3453321724
- Original title : Mickey 7