Elm Haven

Dan Simmons

“Elm Haven” fasst die beiden Romane “Sommer der Nacht” und “Im Auge des Winters” in einem Band zusammen.

Thematisch gehören nur diese beiden Bücher zusammen, weil sie in einem fiktiven “Elm Haven” spielen.  Brimfield ist die Vorlage für die Stadt, in welcher Dan Simmons einige Jahre seiner Jugend verbracht hat. Dale Stewart tritt in beiden Büchern auf und kehrt als Erwachsener in “Im Auge des Winters” in seinen Geburtsort Elm Haven zurück.  

Der seperat zuletzt als E-Book veröffentlichte “Kinder der Nacht” übernimmt die Figur des Mike O´Rourke, der als katholischer Priest bizarre Vorgänge in Rumänien untersuchen soll.  Der erwachsene Cordie Cooke erscheint in dem nicht übersetzten Roman “Fires of Eden”, nicht selten in den USA als vierter Teil dieser aus klassischen Horrorstoffen bestehenden Serie “betitelt”, während Dale Stewarts jüngerer Bruder Lawrence eine kleine Rolle in dem Hardboiled Thriller “Darwin´s Blade” übernommen hat.  

In seinen zu Beginn der neunziger Jahren veröffentlichten Horror Romanen hat sich Dan Simmons immer klassischen Themen wie Vampiren (“Kinder der Nacht”, orientalischen Mythen (“Song of Kali”)  oder wie in “Carrion Comfort” einer kleinen Gruppe von psychisch begabten Außenseitern angenommen. Mit “Sommer der Nacht” und seinen autobiographischen Bezügen betrat Dan Simmons zum ersten Mal Stephen King Country. In “Es” hat der in Maine lebende King ja auch eine Gruppe von Heranwachsenden auf übernatürliche Vorgänge in einer verschlafenen amerikanischen Kleinstadt angesetzt, ergänzt um eine in der Gegenwart spielende Handlung mit den inzwischen erwachsenen Heimkehrern. 

“Sommer der Nacht” spielt im Jahre 1960 im angesprochenen Elm Haven, Illinois. Fünf Jugendliche, fast noch Kinder entdecken eine Reihe von unheimlichen Ereignissen, die sich um die alte Zentralschule entwickeln. Dan Simmons spannt ein breites Spektrum von nicht nur bedrohlichen, sondern vor allem abstoßenden kleinen Szenarien, die schließlich zur finalen Konfrontation mit einem natürliche Jahrhunderte alten Bösen führen. 

Dale Stewart kehrt quasi als ein Mann auf Bewährung in “Im Auge des Winters” nicht nur nach Elm Haven, sondern relativ schnell auch in die eigene Vergangenheit zurück. Nur ein Jahr vorher hat er versucht, sich wie sein literarisches Vorbild Hemingway zu erschießen. Die Kugel trägt er als Symbol seiner Verzweifelung mit sich. Er hat seine Familie verlassen und ist besessen von einer ehemaligen Geliebten. Mit einem Sabbatjahr versucht er nicht nur sein Leben wieder zu ordnen, er will in Elm Haven endlich einen Roman fertigstellen und hofft in der Vergangenheit seiner Heimatstadt die entsprechende Inspiration zu finden. 

Die beiden Verbindungsglieder neben einigen übernatürlichen Herausforderungen sind Dale Stewart und Elm Haven. In vielen anderen Punkten setzt Dan Simmons absichtlich auf Gegensätze.  Wie der Titel der beiden Bücher impliziert, spielt die Handlung einmal im Sommer mit seinen feuchtwarmen Nächten; der schwülen Luft und der stetigen Bedrohung durch Tornados, während die Winter im wahrsten Sinne des Wortes frostig kalt sind und die Schneemassen nicht nur die Charaktere emotional beeinflussen, sondern ganze Siedlungen von der Außenwelt abschneiden können. 

Wie “Es” oder der kaum erwähnte “A Boy´s Life” von Robert McCammon ist “Sommer der Nacht” ein Gruppenroman, ein gemeinschaftlicher mit Opfern ausgetragener Kampf gegen das Böse, das die Erwachsenen nicht sehen können oder wollen. Der erste Roman lebt von den lebendig beschriebenen Charakteren, von denen einige laut Dan Simmons auf realen Vorbildern basieren.  Dan Simmons jüngerer Bruder Wayne ist die Vorlage für Lawrence Stewart. Viele Jungs aus der kleinen Gruppe dienten als Inspiration für andere Figuren wie Mike O´Toole alias Mike O´Rouke oder Jim Hatten für Jim Harlen. Interessant ist, das Dan Simmons sich selbst als Vorbild für Dale Stewart angesehen hat. Das macht den zweiten Roman mit seinen langen introvertierten Phasen und der offensichtlichen Selbstkasteiung des Protagonisten noch interessanter, wenn auch weniger inhaltlich zugänglicher.  

Die Erlebnisse der Jungen bestehen aus einer Mischung aus eigenen Erinnerungen an den Vergnügungspark oder die verschiedenen Shows sowie die alte Old Central School, die in der Realität im Jahre 1960 - dem Handlungsjahr des Romans - abgerissen worden ist. Vielleicht ist wegen dieser Vermischung von eigenen Erlebnissen und Erinnerungen in Kombination mit realen Figuren “Sommer der Nacht” der lebhaftere, der eher klassisch aufgebaute Horror Roman, während “Im Auge des Winters” wie die späten Arbeiten Stephen Kings - siehe “The Shining” im direkten Vergleich zu “Doctor Sleep” - auf einer gänzlich anderen Ebene funktioniert.   

In “Im Auge des Winters” führt Dale vor allem einen Kampf gegen sich selbst. Einsam und alleine. Auch die Bedrohung unter anderem durch eine Gruppe von Skinheads, die seine vor einigen Jahren im Internet veröffentlichten Essays übel nehmen, erscheint deutlich greifbarer als die Auseinandersetzung mit einer seit Jahrhunderten lauernden dunklen Macht. 

Es ist aber wie in diesem Doppelband wichtig, die beiden Romane in der chronologischen Reihenfolge zu lesen, weil sie in Perfektion ausgeführt eine Art Moebiusschleife bilden. Ohne auf Details einzugehen könnte “Sommer der Nacht” der Roman sein, den Dale Stewart in seinem Sabbatjahr in Elm Haven schreiben will, aber auch aufgrund seiner verklärten Erinnerungen nicht schreiben kann. Diese Erinnerungsebene verfolgt der Leser besser im ersten Roman “Sommer der Nacht”. Aber Dan Simmons hat im zweiten Band noch eine interessante Hürde eingebaut. Der Roman besteht im Grunde aus einer überlagerten übernatürlichen Ebene. Dales Erinnerungen - egal ob real oder inzwischen geschönt - bilden das Tor nicht nur zu dem fiktiven Roman, sondern für eine übernatürliche Inkarnation als eine Art Einfallstor in die Realität. Aber ein gänzlich subjektives Einfallstor, denn was Dale nicht erlebt hat oder was ihm nicht erzählt worden ist, gibt es zumindest in der Theorie nicht mehr. 

In “Sommer der Nacht” wachsen die Jugendlichen über sich hinaus. Sie übernehmen Verantwortung und werden für ihr Leben allerdings nicht nur geprägt, sondern teilweise auch gebrandmarkt. In “Im Auge des Winters” muss Dale Steward wie besprochen sich noch mit einem größeren Feind auseinandersetzen: sich selbst. Nur wenn er die eigenen Dämonen besiegt, hat er die Chance, den kleinen durch den Winter auch isolierten Ort wieder als Mensch, nicht unbedingt als Mann zu verlassen. Wie Stephen King sich in “Doctor Sleep” mit der eigenen Alkoholabhängigkeit auseinandersetzte, muss Dale Steward wieder einen Zugriff auf die Realität, aber auch eine Einordnung der eigenen Vergangenheit finden. Diese inneren Auseinandersetzungen faszinieren und frustrieren zugleich. Simmons und King zeichnen das Portrait von im Leben gescheiterten Menschen. Ohne Frage auch durch die schrecklichen Ereignisse in ihrer jeweiligen Jugend oder bei King die besondere Gabe des “Shining”, mit denen sie sich auseinandersetzen mussten. Aber Dale Steward versteckt sich auch lange Zeit gerne und willentlich hinter den Erlebnissen seiner Jugend und sucht sie als eine Art Ausrede für die ganzen Niederlagen, die er aus seiner Sicht natürlich absolut unberechtigt erlitten hat.  “Im Auge des Winters” ist moderner psychologischer Horror. 

Daher steht das Buch auch immer im Schatten von “Sommer der Nacht”.   Eine Handvoll guter Freunde, alle um die 12 Jahre alt, ein unbeschreibliches Böses; eine Reihe von Begegnungen mit Untoten und anderen Schrecken in und um ein altes, heruntergekommenes Schulgebäude ist klassischer Horror, meisterlich erzählt, wie es der Leser von Stephen King oder Robert McCammon schon gewohnt ist. Aber im Gegensatz zu Stephen King ist Dan Simmons ein Autor, der genau weiß, wie er seine Büchern beenden kann und sollte. “Es” ragt in dieser Hinsicht zusammen mit einer Handvoll anderer King Romane aus der Masse heraus und ist von der ersten Seite an wie Dan Simmons “Sommer der Nacht” perfekt strukturiert und vor allem auch souverän erzählt. Aber Dan Simmons gönnt im Gegensatz zu King seinen Lesern nicht die Chance, das einzelne Protagonisten vom Leben gezeichnet und gereift auf die Ereignisse zurückblicken. Das findet erst im zweiten,  elf Jahre nach “Sommer der Nacht” verfassten Buch statt.  Hier beschreibt der Autor atmosphärisch eindrucksvoll, auch in der guten Übersetzung von Joachim Körber stilistisch zufriedenstellend und wie mehrfach erwähnt von lebensechten, dreidimensionalen Protagonisten bevölkert einen Sommer, der perfekt erscheint. Mit Schulferien, endloser Freiheit, Badeseen und strahlendem Sonnenschein, der plötzlich dunkel wird. In welchem die Jugendlichen genau wie wenige Jahre später die USA ihre Unschuld verlieren und lernen, was es heißt, als noch nicht Erwachsener Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen treffen zu müssen. 

      

“Elm Haven” bestehend aus den beiden unterschiedlichen und doch aufeinander aufbauenden Romanen ist eine empfehlenswerte Neu- bzw. Wiederveröffentlichung, die nachdrücklich unterstreicht, dass Dan Simmons selbst im Schatten Stephen Kings und in dessen literarisch stärksten Bereich wie Dean Koontz oder Robert McCammon Eigenständiges und vor allem absolut Originelles erschaffen kann.  

  

Dan Simmons: Elm Haven - Paperback - Heyne Verlag

Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber, Friedrich Mader
Originaltitel: Summer of Night / A Winter Haunting
Originalverlag: Heyne
Paperback , Broschur, 1.008 Seiten, 13,5 x 20,6 cm
ISBN: 978-3-453-31981-3
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