Seit der Erstveröffentlichung vor über dreißig Jahren hat der Heyne Verlag Dan Simmons Vampirepos “Kinder der Nacht” immer wieder neu aufgelegt. Zuletzt 2016 auch als E- Book. Die Person des Priester Mike O´Rouke ist das einzige Verbindungsglied zu den beiden anderen, um diese Zeit von Dan Simmons verfassten Horrorbüchern “Summer of Night” und “Winter Haunting”. Vor allem amerikanische Kritiker sprechen von einer art Trilogie, was nicht richtig ist. Alle Bücher sind bis auf die angesprochene rudimentäre Verbindung für sich alleine stehend und insbesondere “Kinder der Nacht” mit dem Fall des eisernen Vorhangs und den beginnenden sozialen Veränderungen in Rumänien ist ein klassischer Stoff eingebettet in die damals aktuelle politische Landschaft.
Anne Rice begann mit ihrer “Interview mit einem Vampir” die Modernisierung der alten Mythen und entfernte sich allerdings mit sehr viel Respekt von Bram Stoker. Dan Simmons war einer der ersten Autoren, die wie später Del Torro im ersten Band seiner “Strain” Serie Vampirismus als Krankheit angesehen haben. Dazwischen stehen Autoren wie Fred Saberhagen, welche die Idee der Blutsauger mit pseudohistorischen Berichten schon leicht der Gegenwart anpassten und sie weniger als Mythos denn als Teil der vor allem osteuropäischen Geschichte kennzeichneten.
Zeitgleich mit Rice und auch Simmons Büchern veränderte Hollywood seinen Blickwinkel auf Vampire und eine talentierte Regisseurin wie Katherine Bigelow erschuf mit “Near Dark” eine postmodernes Roadmovie voller Blutsauger.
Die Stimmung könnte zu Beginn von Dan Simmons Geschichte nicht nihilistischer sein.
Zu Beginn der amerikanischen Ausgabe spricht Dan Simmons vom eigenen Besuch in Rumänien, das sich nur schwer von der Tyrannei Ceausescus erholte. Der Amerikaner suchte nach Spuren des echten Draculas, den Wurzeln der Legende und fand ein ganz anderes soziales Problem. Tausende von teilweise kranken Waisenkindern in Heimen, deren hygienische Bedingungen höflich gesprochen als primitiv, in Wahrheit unmenschlich angesehen werden muss. Versorgt von überforderten Ärzten und Krankenschwestern.
Diese Erfahrungen hat Dan Simmons als Ausgangspunkt seines Horror Romans genommen. Wie bei “Song of Kali” geht es dem Amerikaner um einen realistischen Hintergrund. Im Rahmen der Science Fiction wird der Ire Ian McDonald mit seiner in der dritten bzw. zweiten Welt spielenden Trilogie von Science Fiction Romanen eine gleiche Qualität realistischer und damit unter die Haut gehender Beschreibungen erreichen. Auch wenn es sich bei ”Kinder der Nacht” um einen Horror Roman, eine Vampirgeschichte handelt, überdecken die menschenunwürdigen Zustände in den Heimen die blutigen fiktiven nachfolgenden Ereignisse und der Plot tritt nicht selten angesichts der ausführlichen, das Tempo der Geschichte aber nicht behindernden Beschreibungen positiv in den Hintergrund.
In den letzten dreißig Jahren mag sich in Rumänien stellvertretend für eine Reihe anderer Länder etwas verbessert haben, aber die gegenwärtige Realität des Ukraine Krieges macht deutlich, wie schmal der Grat zwischen Deckung des Existenzminimums und dem Kampf ums Überleben wirklich ist.
Kate Neuman ist eine dreißig Jahre alt Immunologin und Blutspezialisten, die aus Ameirka kommend freiwillig in einem Krankenhaus in Bukarest arbeitet. Sie versucht respektvoll mit allen Patienten umzugehen. Sie ist vom Leid und Elend der Menschen überfordert. Auch wenn Rumänien offiziell den Kommunismus hinter sich gelassen hat, sind Korruption und Versorgungsengpässe allgegenwärtig. Durch einen Zufall entdeckt sie ein Neugeborenes, das durch eine Bluttransfusion sehr schnell heilt. Dabei hat es nicht einmal die richtige Blutgruppe erhalten. Kate adoptiert den Jungen und kehrt mit ihm in die Staaten zurück. Weitere Untersuchungen finden eine Art Tumor in seinem Magen, der dem inzwischen Joshua genannten Jungen hilft, Blut aufzunehmen und quasi zu Nahrung umzuwandeln. Auch das rezessive Gen weist darauf hin, dass Joshua kein Einzelfall ist.
Kurze Zeit später wird Kate Neuman überfallen und Joshua entführt. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Freunden, zu denen auch der schon angesprochene Mike O´Rouke gehört, macht sich Kate auf die Suche nach ihrem verschwundenen Sohn. Sie wird sie nicht nur um den halben Globus führen, sondern vor allem auch zu antiken Orten und einem Feind, der sein Geheimnis unter allen Umständen zu hüten sucht.
“KInder der Nacht” ist eine auch heute noch interessante Lektüre, die eine Reihe von Stärken, aber auch einige strukturelle Schwächen aufweist. Im letzten Drittel des Buches muss Dan Simmons nicht nur den Plot beenden, sondern der Autor greift auf einige Versatzstücke des Genres zurück. Diese nicht immer notwendige Schwäche teilt Dan Simmons mit Stephen King, dessen Szenarien nicht selten deutlich schwächer endeten als es die vielversprechenden Auftaktkapitel suggerierten. Der Roman braucht einen dominanten Feind, der den ganzen Handlungsbogen betrachtend allerdings sehr weniger Auftritte hat. Vor allem in der ersten Hälfte des Buches verzichtet Dan Simmons komplett auf die Versatzstücke des Genres und entwickelt Joshuas Krankheit ausschließlich auf einer spekulativen medizinischen Ebene und nicht als Vampir Mythos/ Legende.
So sind einzelne Ideen isoliert voneinander stimmig, aber in der kompakten Form nicht zufriedenstellend entwickelt. Die Idee, das Vampire wie die Mafia hinter vielen Entwicklungen in Osteuropa stehen, ist interessiert. Die Spekulation, das eine kleine Gruppe von entschlossenen Männern und Frauen diese mächtige, seit Jahrhunderten bestehende Organisation zumindest kurzzeitig in Schwierigkeiten bringen und mittels eines Kommandounternehmens quasi desorientieren, erscheint aufgesetzt und negiert eine Reihe von anfänglich stimmigen, bedrohlichen, aber vor allem auch gut entwickelten Szenen. Angeführt von einer bis dahin ambitionierten, aber auch kämpferisch unscheinbaren Kate, die mehr und mehr zu Lara Tomb wird.
Während das letzte Drittel des Buches wie angesprochen eher schwach und stereotyp erscheint, überzeugt die erste Hälfte des Romans deutlich mehr. Neben den eindrucksvollen, nach Dan Simmons Besuch anscheinend authentischen Beschreibungen der Lebensumstände in Rumänien fesselt auch die medizinische Exkursion in den USA. Die Protagonisten müssen im Gegensatz zum Leser erst einige Schritte nachvollziehen, um diesen einzigartigen Tumor einordnen zu können. Das braucht seine Zeit, geht auch zu Lasten des Tempos, ist aber abschließend ausgesprochen befriedigend gelöst. Bis zur Entführung des Jungen betritt Dan Simmons kontinuierlich neue Wege des Vampirgenres und hat eine perfekte Mischung als alten Mythen und moderner Medizin erschaffen.
Auch wenn der Autor wie angesprochen im letzten Drittel das Gaspedal unnötig und teilweise übertrieben durchdrückt, kann er einige der Schwächen durch eine kontinuierlich überzeugende Zeichnung seiner dreidimensionalen, aber auch menschlichen Charaktere ausgleichen. Heldentum ist bei Dan Simmons gleichbedeutend mit Opferbereitschaft und das demonstriert der Amerikaner in diesem grundsätzlich flott geschriebenen Roman an einigen Stellen nachdrücklich, allerdings auch immer inzwischen am Rande des Blockbusterklischees.
“Kinder der Nacht” ist auch heute, dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung vor allem angesichts der überzeugenden ersten Hälfte ein lesenswertes Buch, das nachdrücklich unterstreicht, welchen Eindruck der experimentierfreudige Dan Simmons zu Beginn seiner Karriere sowohl als Horror wie auch als Science Fiction Autor hinterlassen hat.