“Drachenmond” ist der dritte und in der ursprünglichen Planung letzte Roman der „Luna“ Trilogie Ian McDonalds. In der Theorie vor allem deswegen, weil das Ende gleichzeitig ein Abschluss und ein interessanter noch wackeliger Neubeginn sein könnte.
Wichtig ist, dass der Leser die Trilogie tatsächlich mit dem ersten Band anfängt. Es gibt zwar eine kurze Zusammenfassung des Geschehens, aber die Charaktere entstehen dadurch nicht zum Leben. Viel wichtiger ist es, die Protagonisten und ihre von den Familienehren gesteuerten teilweise fatalistischen Handlungen zu verstehen, um deren Folgen in diesem Buch nachvollziehen und erkennen zu können.
Lange Zeit bis in die zweite Hälfte von „Drachenmond“ ignoriert Ian McDonald die aufgebauten Handlungsfäden und fügt seinem Buch immer wieder neue hinzu, von denen er einige nicht abschließt oder gar nicht abschließen will. Das entschädigt für den einfach phlegmatischen, aber auf der zwischenmenschlichen Ebene trotzdem spannenden ersten Teil des Buches. Mit einem brutalen Attentat auf einen wichtigen Eckpfeiler der lunaren Gesellschaft leidet Ian McDonald anschließend den blutigen Showdown ein, der wie die ersten beiden Bücher aus einer modernen denkenden kapitalistischen Gesellschaft basierend auf dem Verbrauch der vier existentiellen Rohstoffe sowie archaisch erscheinenden Ritualen wie tödlichen Zweikämpfen stellvertretend für die Anführer der jeweiligen Familie basiert.
Der letzte Science Fiction Autor, der erfolgreich ein derartig weit verbreitetes Konzept präsentiert hat, ist Frank Herbert mit seinem Epos „Der Wüstenplanet“ gewesen. Aber im Gegensatz zu Frank Herbert vor allem zu Beginn relativ geradliniger Handlung vor einem exotisch eindrucksvollen Hintergrund, fühlt sich Ian McDonald eher in einem Netzwerk voller Intrigen wohl, das wie der Klappentext richtig impliziert, der futuristische Gegenentwurf zu George R.R. Martins „Games of Throne“ ist. Und wie Martin kann McDonald einfach gut selbst in der deutschen Übersetzung erzählen.
Ein wichtiger Bestandteil geht fast in der Geschichte zwischen den Familienauseinandersetzungen verloren. Der Mond will in jeglicher Hinsicht von der Erde unabhängig werden und in dieser Hinsicht gibt es im Grunde zwei Bestrebungen. Aus dem All die Asteroiden ausbeuten und deren Rohstoffe auf den Mond bringen, um den Erdtrabanten wenigstens für einhundert Jahre bewohnbarer zu machen. Auf der einen Seite umkreist den Mond ein gigantischer Ring, welcher das Sonnenlicht ohne die störende Atmosphäre auffangen und entsprechend weiterleiten kann. Entweder auf die Oberfläche des Begleiters oder gebündelt an die Erde. Natürlich zu einem entsprechenden Preis. Wirtschaftlich wäre der Mond autark, was vielen Politikern auf der Erde ein Dorn im Auge ist.
Daher soll eine wirtschaftliche Aufrüstung genauso verhindert werden wie der Versuch, ein eigenes Militär zu etablieren. Nur ist es schwer, in die isolierte Gemeinschaft der Familien Spione einzuschleusen. In der zweiten Hälfte des Romans wird die generelle Idee einer Unabhängigkeit des Mondes wie zum Beispiel von Robert A. Heinlein in „Der Mond ist eine herbe Geliebte“ beschrieben zur Seite geschoben, weil die familieninternen Auseinandersetzungen einen breiten Raum einnehmen. Bis auf das Erklimmen der jeweiligen Konzernspitze bringen diese Kämpfe den Mond als Ganzes nicht unbedingt weiter und die abschließende Befreiung der Bewohner auf der Rohstoffsklaverei wirkt ein wenig aufgesetzt. Der Leser hat noch gut in Erinnerung, wieviel Mühe sich Ian McDonald im ersten Buch mit Marina Calzaghe als Identifikationsfigur für den Leser gegeben hat, um diese besondere Kultur und den Kauf von Luft oder Wasser oder Energie ausführlich zu beschreiben.
Marina Calzaghe ist ein weiteres Beispiel. Durch eine Heldentat im ersten Buch konnte sie in den inneren Kreis der Familien einkehren und quasi von der Tellerwäscherin zu einer wichtigen Vertrauten vor allem der Drachenfamilie werden. Im dritten Buch reist sie zur Erde und kehrt dem Mond den Rücken zu. Sie will sich um ihre kranke Mutter kümmern. Sie fühlt sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch auf der Erde nicht mehr wohl. Außerdem ärgern sie die Nachbarn, was aus dem Kontext gerissen wirkt. Schließlich entschließt sie sich, wieder zum Mond zu fliegen und von vorne zu beginnen. Nur hat sie das Geld nicht und die Geheimdienste wollen das ausnutzen. Auch hier findet Ian McDonald schnell eine alternative Lösung und nimmt leider nicht zum einzigen Mal in vor allem diesem Roman die Spannung aus einer dramaturgisch relevanten Situation wieder raus.
Auf dem Mond fehlt im Grunde Marina Calzaghe als zugänglichste Protagonisten einer in mehrfacher Hinsicht narzisstischen und alle Soaps wie „Dallas“ oder „Denver“ in den Schatten stellenden Vetternwirtschaft.
Um Marina eher als williges Opfer verschiedener Intrigen herum hat Ian McDonald im Grunde nur egoistische Opportunisten gestellt. Die wenigen Heranwachsenden verlieren ihre Identitäten und ihre durchaus positiven Ziele gehen quasi in den militärischen Auseinandersetzungen auseinander. Mehr und mehr dominiert eher die Familienehre als jegliche Logik. In den ersten beiden Büchern standen sie genau dieser intellektuellen Dominanz kritisch gegenüber und suchten eigene Wege zu gehen. Dieser Zwiespalt wird zu wenig herausgearbeitet.
Ian McDonald konzentriert sich mehr auf die zweite und nicht mit den Kindern dritte Generation. Aber die Erwachsenen sind alle Egoisten, Egozentriker, kaltblütige Kapitalisten und wie schon erwähnt worden auch Narzissten, denen Prunk und selbst geheuchelte Bewunderung lieber ist. Da wird eine Frau brutal ermordet, weil sie mit einem Mitglied aus einer anderen Familie geschlafen hat. Und das sollte sie auch machen, um den körperlich schwachen Nachwuchs des Feindes unter Kontrolle zu halten.
Während dieser Mord brutal ist, stirbt ein anderer selbsternannter neuer Drache durch fünf tödliche Gifte mit unterschiedlicher Wirkung grausam in seiner gigantischen Badewanne. Sadistisch geplant und unangenehm detailliert beschrieben ragen solche Szenen aus dem von einem hohen Tempo in der zweiten Hälfte geprägten Roman fast surrealistisch heraus und erinnern auch ein wenig an David Lynchs „Dune“ Adaption, aber nicht an die literarische Vorlage.
Aber die Erwachsenen bleiben distanziert, dem Leser fast fremd. Ein weiterer und relevanter roter Faden nicht nur für diesen Roman ist Ariel Cortas teilweise Wandlung von einer egoistischen und unsympathischen Frau zu einer neuen Anführerin mit einem bedingt sozialen Gewissen. Dazu muss sie sich mit Lucas Cortas auseinandersetzen, der teilweise unwissentlich zum einem Handlanger der Erde wird. Deren Pläne sind genauso exotisch wie der gigantische Ring um den Mond und müssten technologisch erst noch selbst in dieser Zukunft extrapoliert werden. Aber auf den letzten Metern zeigt sie zumindest vorläufig ihr neues, aber nicht unbedingt wahres Gesicht und befreit die Lunabewohner von einer existentiellen Sklaverei.
Es ist aber nur einer der zahlreichen Konfliktherde in diesem Buch, die vor allem von Ian McDonald dualistisch entwickelt worden sind. Jedem Protagonisten oder Antagonisten steht sein individueller “Feind“ gegenüber. Die gigantischen Kämpfe hinter den wirtschaftlichen Interessen werden nicht selten auf der persönlichen, abschließend sogar auf der Arena Ebene ausgetragen. Trotzdem fehlen die kleinen emotionalen Momente und weniger unsympathische Protagonisten werden durch verschiedene Plotmechanismen vom Leser distanziert, so dass nur Blut, Schweiß und der Austausch von Körperflüssigkeiten übrig bleiben.
„Drachenmond“ ist wegen der nicht mehr ureigenen, sondern teilweise konstruiert wirkenden Komplexität der schwächste Band der Trilogie und gleichzeitig aber ein sehr gutes Sprungbrett für einen weiteren wichtigen Abschnitt der Serie, in dem sich die Konflikte auf dem Mond automatisch durch das vorläufige Ende dieses Buches verlagern. In dieser Hinsicht befriedigt vor allem die zweite Hälfte von „Drachenmond“, während der Leser zu Beginn die perfiden an „Dallas“ erinnernden Finten der ersten beiden Bücher vermisst.
- Taschenbuch: 576 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (8. Juli 2019)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453317971
- ISBN-13: 978-3453317970
- Originaltitel: Moon Rising