Cory Doctorow sieht in seinem Epos "Walkaway" eine Art Vorgeschichte zu "Down and Out in the Magic Kingdom". Unabhängig von den Querverbindungen ragt das Buch durch seine auf den ersten Blick absurde, aber leider im überzogenen Sinne auch für die
gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung in den Industriestaaten schockierende Prämisse aus der Masse einer Reihe von modernen Anti Utopien heraus. Cory Doctorow extrapoliert zwei Entwicklungen. Es gibt die unendlich reiche OIigarchie, deren Ziel das reine Vermehren von Geld ist. Auf der anderen Seite gibt es eine Masse von nicht beschäfftigten Menschen, den "non- work". Doctorow impliziert zwar, dass vor allem die Klimaveränderungen und die Umweltverschmutzung für die Arbeitslosigkeit verantwortlich ist. Viel mehr impliziert er in einem direkten Vergleich zu Ian McDonalds "Luna" bescheiden, aber erkennbar die Auswirkungen der Drei D Drucker, die viele manuellen Tätigkeiten überflüssig machen.
Die Stärke des Buches liegt in seiner Breite. Weniger auf den zugrundeliegenden Plot bezogen sondern die vielen kleinen Ideen bis zu den Zeppelinen, die wie beim Cargolifter als Retrofortschritt der Technik gefeiert und doch von der Realität überholt worden sind. Dabei erschafft er mit seiner Grundidee eine politisch fragwürdige wie irrwitzige Welt, die aufgrund der absurden Übertreibungen den Leser gleichzeitig anzieht wie abstößt. Die Stärke des Buches liegt in der Tatsache, dass der Leser viele Antworten sich selbst suchen muss, während seine überwiegend jugendlichen Protagonisten im Grunde mit ihren „Walkaway“ Erfahrungen eine Art neue Kultur auf Basis eines in der Theorie perfektionierten Kommunismus bilden möchten.
Eine der größten Schwächen liegt in dem belehrenden Stil, der voller Technobegriffe cool wirken soll, es aber nicht ist. So sprechen auch in der Zukunft Menschen nicht miteinander und immer wieder hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als wenn Doctorow ein wenig müden sich in Floskeln, wenn es um hintergründige Beschreibungen geht.
Der Roman ist aber keine politische Satire, wie man sie bei Pohl oder Kornbluth oder beiden zusammen findet. Ein wenig erinnert der nicht unbedingt stringente Plotaufbau an die ersten Romane eines Kim Stanley Robinson Bücher erinnert. Vielleicht sollte man „Walkaway“ auch weniger als Epos oder auch nur als Roman betrachten, bei dem es auf Strukturen vor und hinter der Bühne ankommt, sondern als Versuch, sich einen Überblick über eine in sich zusammengebrochene Zivilisation zu verschaffen, in welcher die Alten mit Geld und Gewalt am Status Quo festhalten, während die Jungen sich buchstäblich aus dem Staub machen.
Hubert, ETC – wegen seiner mittleren Namen – sein Freund Seth und Natalie entschließen sich wie viele Jugendliche, der Arbeitslosigkeit und der kontinuierlichen Überwachung – bei Natalie handelt es sich um ihre reiche Familie, die paranoid das Leben ihrer Tochter unter Kontrolle zu halten sucht – durch die Oligarchie und schließlich im Grunde auch die Suche nach der eigenen Identität abseits der Elite. Einen Mittelstand gibt es erstaunlicherweise bei Doctorow nicht. Vielleicht eine der Schwächen dieser provozierenden sozialen Studie.
Interessant ist, dass sie anscheinend die virtuelle Realität als Heilsbringer ansehen und die Nachwehen der zusammengebrochenen Industriegesellschaft als eine Art „default reality“ empfinden, obwohl sie zum Überleben genau die beste MacGuffin Erfindung der etablierten Welt benötigen: den 3 D Drucker. Dieser ermöglicht es nicht nur, selbst aus Müll und Schrott neue Maschinen oder Kleidung herzustellen, er könnte in Doctorows Fiktion sogar bessere Maschinen herstellen als es bislang gab. Eine Art selbstbefruchtende Perfektion. Durch diese tragbaren Drucker können sie sich aus der Zivilisation verabschieden und an einer Stelle denkt der Leser ein wenig an Truffauts Film, aber auch Bradburys legendäres Buch „Fahrenheit 451“ zurück, in denen die Büchermenschen in der Einsamkeit ihre Texte zitierend dahin wandern. In „Walkaway“ sind es die jungen Menschen mit ihren tragbaren Druckern.
Was anfänglich von der Obrigkeit als eine kleine Gruppe von esoterischen Spinnern abqualifiziert worden ist, wird mehr und mehr zu einer Art Massenbewegung. Sie siedeln sich zwar in der Nähe der Städte an, wollen aber mit der Zivilisation nichts mehr zu tun haben.
Die Elite will sie verdrängen und greift die Siedlungen an. Damit wollen sie in erster Linie die Bewegung unterdrücken und weniger die Menschen wieder zurücktreiben.
Doctorow extrapoliert natürlich auf der einen Seite die Occupy Bewegung mit ihren „weltfremden“ Ansprüchen. Er versucht diese auch von den Entwicklungen der Industrie abhängige Oppositionsbewegung im Kleinen detailliert zu beschreiben, um die globalen Wellenbewegungen zu implizieren.
Daher benötigt der Autor eine der wenigen nicht überzeugenden Wendungen. Die „Walkaways“ tragen mit sich einen wissenschaftlichen Durchbruch, das ewige Leben. Ein Geschenk, das sich nicht in der Theorie, aber jetzt in der Praxis mit Geld erwerben lässt. Diese typische Science Fiction Idee lässt das Buch uneinheitlicher erscheinen. Ohne dieses MacGuffin würde das Buch sich eher aus vielen kleinen Szenen zusammensetzen, die nicht schlecht geschrieben sind und auch exzentrisch lebensecht erscheinen, aber es wären immer nur Momentaufnahmen. Anscheinend vertraute Doctorov seinem Plot nicht ausreichend, um auf diese Idee zu verzichten.
Auf der anderen Seite werden dadurch die Sterbeszenen erträglicher, denn es gibt auf eine nicht unbedingt simple, aber effektive Art eine Art Weiterleben nach dem Tod. Zynisch gesprochen fahren alle Toten in eine Art idealisiertes Paradies ein, das sie getreu dem Gemeingutgedanken der „Walkaway“ Bewegung auch von allen irdischen Belangen befreit.
Die Zeichnung der einzelnen Protagonisten mit einem Fokus auf die angesprochenen Freunde ist gut. Manchmal ein wenig klischeehaft wie die Söldnerin, die sich mit Sex und Geld bestechen lässt. Oder die reichen Eltern mit ihrem Verfolgungswahn, die anonym mit ihren Söldnern ein weiteres Netz um ihre Tochter spinnen, ohne dass dieses wirklich effektiv erscheint. Auch die zahlreichen Sexszenen erscheinen wie aus einem „normalen“ Porno. Sie sind nicht erotisch, sie bringen den Plot nicht voran und der Autor erschafft keine knisternde Atmosphäre. Im Grunde sind sie überflüssig und lenken eher von den wichtigen Sequenzen negativ ab. Anstatt vielleicht wie bei einigen anderen Szenen die Flucht in die parodierende Übertreibung zu wählen, bleibt Doctorow ernst und distanziert zu gleich. So verschenkt er vor allem in der auch Geduld fordernden Eingangsphase seines Buches extrem viel Potential.
Bei einem Epos hilft einem Autoren, sich auf kleinere Ereignisse zu konzentrieren und aus diesen Mosaikstücken ein komplexes Bild dieser Zukunft zu zeichnen. Doctorow scheint grundsätzlich ein solcher Autor zu sein, der mittels vieler kurzer Kapital inklusiv eines jeweils individuellen Höhepunktes Spannung zu erzeugen sucht. In „Walkaway“ springt diese Vorgehensweise auf die einzelnen Protagonisten über, so dass der ganze Fluss der Handlung plötzlich unrund erscheint und lange Sequenzen unnötig unterteilt werden.
Ohne Frage ist „Walkaway“ aufgrund des jugendlich anarchistischen Ansatzes, der an eine Karikatur erinnernden Zeichnung einer Industriegesellschaft und abschließend auch aufgrund der Auseinandersetzung mit den Wünschen/ Sehnsüchten der zukunftslosen Jugend ein gewaltiges wie auch gewalttätiges Buch mit sehr vielen Stärken, aber auch einigen Schwächen, das unterstreicht, wie sehr und wie weit sich Cory Doctorow weniger als Autor, aber als Vordenker der Internetjugend entwickelt hat. Nur nicht zu deren Stimme.
Auf der anderen Seite bekommt er aber den Spagat zwischen der den Ausstieg propagierenden Jugend und ihrer intensiven, fast intimen Abhängigkeit von den fast wie eine Mannamaschine erscheinenden 3 D Druckern nicht überzeugend genug hin. Die Jugendlichen verlassen zwar bildlich ihr Nest, um sich in eine andere Abhängigkeit zu begeben. Dabei vergisst er, dass die Umwandlung selbst von Müll Energie benötigt und die Jugendlichen anscheinend über Perpetuum Mobile Maschinen verfügen. So interessant die grundlegende Idee des „Walkaway“ ist, so fadenscheinig erscheint die präsentierte Lösung. Der Autor macht es seinen Figuren viel zu leicht, dem „Gefängnis“ zu entfliehen, um sich in eine andere perfekte Abhängigkeit zu begeben. Überleben oder eigenständig Leben haben sie dadurch nicht gelernt und werden es in dieser Konzeption des Buches auch niemals lernen.
Diese Simplizität entzieht dem wichtigsten Plotelement fast jegliche Glaubwürdigkeit, so dass „Walkaway“ irgendwie wie eine provokante Hülle für ein wunderbares Geschenk ist, das sich nicht die Büchse als die Büchse der Pandora erweist.