Mit „Das Erwachen“ präsentiert der Science Fiction Autor Andreas Brandhorst seinen ersten näher an der Gegenwart spielenden Science Thriller. Obwohl der Roman mehr als siebenhundert Seiten umfasst und zahlreiche Handlungsebenen schließlich bis auf eine einzige an einem Ort zusammenlaufen, wirkt der ohne Frage temporeiche Thriller auch ein bisschen prätentiös. So vergisst der Autor über weite Strecken im mittleren Abschnitt seines Romans die an Bord eines Raumschiffs zum Mars spielende Handlungsebene, um sie abschließend mit dem gleichen ironischen Unterton wie die Haupthandlung mit dem degradierten Menschen abzuschließen.
Auch hinsichtlich der Haupthandlungsebene endet der Roman genau an dem Punkt, an dem er interessant wird. Die Bildung einer neuen Gesellschaft mit dem Menschen nicht mehr als dominierende Rasse auf der Erde. Auch wenn Andreas Brandhorst aufgrund des technischen Fortschritts sehr viel mehr Möglichkeiten hinsichtlich der Evolution vor allem seines wichtigen künstlichen Charakters hat, baut er seine Prämisse nicht unbedingt auf einer neuen Idee auf.
Mitte der sechziger Jahre hat der britische Autor D.F. Jones eine Trilogie von Romanen um „Colossus“ geschrieben. Der erste Teil ist verfilmt worden.
Der größte grundlegende Unterschied zwischen Andreas Brandhorst Epos und den Kalter Krieg Arbeiten D.F. Jones liegt in der Ausgangsprämisse. Der Forscher Forbin hat „Colussus“ erschaffen, um die strategische Verteidigung der westlichen Welt zu optimieren und strategisch in die Hände des Supercomputers zu legen. Die Russen haben einen ähnlichen Plan, einen vergleichbaren Computer. Die beiden Maschinen verbünden sich und streben die Weltherrschaft an, unter deren Diktatur der Maschine der Mensch allerdings friedliebend kontrolliert weiterleben darf.
In „Das Erwachen“ ist die Geburt der Maschinenintelligenz – Brandhorst grenzt diese klar von den künstlichen Intelligenzen der in dieser Hinsicht eher behutsam extrapolierten gegenwärtigen Technik ab - einem Zufall geschuldet.
Der Hacker Axel Krohn setzt eine Art Computervirus frei, der sich in den Programmen eines Spieleentwicklers verborgen hat. Axel Krohn hat vorher schon bei einer zufälligen Übergabe des entsprechenden Sticks feststellen müssen, dass die Informationen gefährlich sind. Denn zwei Menschen kommen dabei in einem alten Kontorhaus in Hamburg ums Leben. Hilfe erhält er von der undurchsichtigen, aber scheinbar zu Beginn fast allgegenwärtigen Giselle.
Das Computervirus entwickelt sich zu einer Maschinenintelligenz, einer neuen Art von Wesen, das nicht nur das Netz beherrscht und dadurch mittels Netzabschaltungen oder Stromausfällen; der Manipulation von Daten oder einer kompletten Überwachung auch mittels Drohnen nach der Weltherrschaft greift. Alleine wie viele Wesen sucht es nach seinem Schöpfer. Doch Axel Krohn wird nicht nur von der deutschen Polizei oder der amerikanischen NSA gejagt, auch ein geheimnisvoller Hacker interessiert sich für ihn.
Andreas Brandhorst zeichnet in seinem Thriller ein schaurig schönes Bild vom Weltuntergang. Der Winter beherrscht im August Nordeuropa, der Klimawandel ist in vollem Gange. Technik ist auf der einen Seite notwendig, auf der anderen Seite macht sie die Menschen zu sehr abhängig. Es ist ein schmaler Grat, auf dem der Autor wandelt. Ob wirklich jedes technische Spielzeug notwendig ist oder die Menschen dem Handy mehr vertrauen als dem eigenen Geist sei dahingestellt. Die einzelnen Positionen lassen sich auch endlos diskutieren.
Die Abhängigkeit ist da. Sie ist der Malus einer modernen Industriegesellschaft, die in anderer Form nicht funktionieren kann und wird. Abschließend stellt Andreas Brandhorst das auch nicht in Frage. Ihm geht es eher um die unkontrollierbaren Menschen, die mit ihrer förmlichen Sucht nach Macht die Erde nicht nur schwer bewohnbar gemacht haben, sondern immer nach dem nächsten Krieg lüstern. Sie werden anschließend fast in Hollywoodmanier bestraft.
Natürlich ist es humorvoll lesenswert, dass die meisten der Helden oder grauen Begleiter auf klassische Art und Weise sich zum Showdown treffen. Da wird mit einer Cessna ohne viel Elektronik die Alpen überquert oder andere fahren mit einem uralten Diesel betriebenen Jeep quer durch die Berge. Wenn das Handy keine Route mehr anzeigt, dann wird ein kleiner Junge vor Ort bestochen. Das liest sich alles sehr interessant und die einzelnen Szenen sind auch spannend.
Hinzu kommt, dass Andreas Brandshorst Figuren überwiegend interessant sind. Der ein wenig selbstverliebte Axel Krohn verliert innerhalb weniger Stunden alles und muss erkennen, dass er kein so brillanter Hacker ist. Andere sind besser. In der Mitte weitet Brandhorst diese Geschichte ein wenig unglaubwürdig zu einem familiären Drama aus, wobei der Autor das wahrscheinlich aus spannungstechnischen Gründen macht, aber deutlich über das Ziel hinausschießt. Weniger wäre hier mehr gewesen. Seine neue Freundin Giselle agiert dank ihrer ausgezeichneten Selbstverteidigung in zwei/ drei Szenen schlagkräftig, dient aber nach einem guten Auftakt mit einem persönlichen Verlust eher als Stichwortgeber.
Ohne zu viel zu verraten erscheinen die Axel und Giselle begleitenden „halbfinsteren“ Gestalten eher wie eindimensionale Staffagen, ein wenig zu sehr aufgemotzt und vom charismatischen Sendungsbewusstsein der eigenen Überzeugung weniger brutal als vordergründig schmierig/ schleimig angetrieben und schließlich während des zufriedenstellenden Showdowns auf ihre historisch wenig bedeutende Persönlichkeit reduziert und abserviert.
Viktoria Jorun Dahl ist vielleicht die „perfekteste“ Schöpfung Andreas Brandhorst. Die über sechzig Jahre alte Frau ist Leiterin des International Instituts für Frieden und Sicherheit. Sie erhält von der UNO den Auftrag, sich für eine Zusammenarbeit der Regierungen in Hinblick auf die Maschinenintelligenz zusammenzusetzen. Vorher hat ihr der Leiter einer großen Stiftung stellvertretend für die Leser von den Gefahren der unkontrollierten Erschaffung künstlicher Intelligenzen an Hand einer Parabel über Eulen und Spatzen erläutert. Viktoria Jorun Dahl muss mit den Politikern nicht nur Langmut haben, immer wieder wird sie mit einem italienischen Politikerpfau konfrontiert. Andreas Brandhorst zeigt in einer signifikanten Szene, dass hinter dessen eitlen Drohgebärden nicht viel steckt, aber ihm gehört zumindest die dramaturgisch notwendige Schlusssequenz, in welche der Autor noch ein zeitliches Ultimatum als Bestandteil vieler Thriller einbaut. In diesem Punkt lässt vielleicht Michael Crichtons „Andromeda- tödlicher Staub aus dem Weltall“ herzlich grüßen.
Ein weiteres ausgleichendes Element ist der Sonderermittler Coorain Coogan . Als Australier ist er im alten Europa sowieso ein Fischer außerhalb des Wassers. Er kommentiert das technokratische Geschehen auf eine selbstsichere, ein wenig flapsige, es aber auch auf den Punkt bringende Art und Weise. Vor allem seine Gespräche mit dem deutschen Axel Krohn quer durch Europe verfolgenden Kommissar lockern die manchmal ein wenig zu bedeutungsschwangeren Dialoge förmlich auf und unterstreichen die cineastische Vorgehensweise Andreas Brandhorst, in welcher die Balance eines Hollywoodblockbusters anstrebend Humor mit Action und hintergründiger Dynamik kombiniert.
Zu den Schwächen gehört, dass Andreas Brandhorst nicht selten die allgegenwärtige Gefahr auf eine Art persönliches Drama reduziert und vor allem die „Suche“ der Maschinenintelligenz nach ihrem Schöpfer mit visuellen Anspielungen auf die First Contact Sequenz in dem gleichnamigen Jodie Foster Film ein wenig zu klischeehaft ausfällt. Das Ende ist positiv wie fatalistisch zugleich. Am meisten könnte die Gleichmut erschrecken, mit welcher ein neuer Gott den Menschen betrachtet und vieles an sich abperlen lässt. Aber wie eingangs erwähnt stellt dieses einen Handlungsstrang abschließende und doch gleichzeitig offene Ende hinsichtlich der näheren Zukunft ein Sprungbrett für eine Fortsetzung, wenn nicht sogar Trilogie dar. Es werden zwar alle Fragen irgendwie beantwortet und Alex Krohn wird zu einer Art „Primus Inter Pares“ in seinem eigenen Paradies, aber wie im wirklich Leben ist die Reise interessanter und packender als das Ziel. Ob diese Art von perfektionierten Sozialismus wirklich langfristig funktionieren kann oder Andreas Brandhorst Jack Williamsons Satire „Wing 4“ vorgreift, steht auf einem leider unbeschriebenen offenen Blatt.
Die Maschinenintelligenz agiert abschließend zumindest in den beschriebenen Augenblicken zu menschlich und gleichzeitig auch zu naiv. Versucht Brücken gegen alle Logik zu schlagen und damit auch den Leser positiv mitzunehmen. Als Persönlichkeit ist sie aber zu griffig, zu wenig fremdartig. Angesichts der gigantischen Kapazitäten; dem Bau von Türmen anscheinend rund um die Ohren; sie seltsame alle Handynetze gleichzeitig blockierende Frequenzsuche und den unendlichen Möglichkeiten, welche diese Superintelligenz haben sollte. Natürlich ist es sehr schwer, ein derartig weitentwickeltes künstliches Wesen zu beschreiben, aber die exotischen Exzesse gehören vor allem in seinen in der fernen Zukunft spielenden Science Fiction Romanen positiv zu seinen Stärken. Aber die Maschinenintelligenz ignoriert auch sehr viele Dinge, die Menschen zu Menschen machen und unterminiert nicht nur die negativen Antriebsfedern, sondern jegliche Art von Ambition.
„Das Erwachen“ ist trotz der angesprochenen Schwächen ein interessanter, umfangreicher, aber nicht langweiliger Thriller eher für ein Meanstreampublikum als die eingefleischten Science Fiction Fans, die ansonsten zu Andreas Brandhorsts Stammlesern gehören. Der Autor hat sehr gut recherchiert und versucht die Informationen ohne belehrenden, aber mit einem durchaus mahnenden Unterton in die Handlung einfließen zu lassen. Selbst die technischen Beschreibungen sind nachvollziehbar, die Extrapolationen angesichts der dramatischen Ereignisse auf einem katastrophentechnischen Niveau nachdenklich stimmend und die verschiedenen Handlungsebenen sind positiv klar voneinander getrennt und fließen doch am Ende zusammen.
Es ist literarisches Neuland, das Andreas Brandhorst routiniert, teilweise inspiriert betreten hat. Im Gegensatz zu einigen aufgeblähten Büchern der letzten Jahren ist „Das Erwachen“ allerdings im Kern stringenter, besser geplant und vor allem unabhängig von einigen Klischees fokussierter umgesetzt als viele seiner Science Fiction Bücher.