Marianne Labisch von der künstlerischen Seite, Michael Haitel in seinem Nachwort von der technischen beschreiben die Entstehung dieses ungewöhnlichen Buches. Die digitalen Welten des Andreas Schwietzke haben die Autoren inspiriert, wobei die Schriftsteller freie Wahl unter seinen Werken gehabt haben. Hinzu kommt zum Abschluss nicht nur ein ausführliches Porträt inklusiv eines sehr offenen Interviews mit dem Künstler, sondern dessen Kommentare zu den entsprechenden Bildern und vor allem auch den Geschichten. Die Entscheidung, doch alles in einem sehr umfangreichen und formattechnisch ungewöhnlichen Buch abzudrucken, ist richtig gewesen, da der Leser so die Möglichkeit hat, das Bild zu betrachten, die Geschichte zu lesen und die entsprechenden abschließenden Kommentare auf sich wirken zu lassen.
Anke Höhl-Kayser eröffnet mit »Der zerbrochene Mond« die Anthologie. Im abschließenden Interview wird Bezug zu den Werken Casper David Friedrichs genommen, wobei Andreas Schwietzke interessanterweise wie die Autorin in der globalen Zerstörung auch die Chance eines Neuanfangs sieht. Der Auftakt ist eine fast klassische Horrorgeschichte mit zwei zu einem Kongress reisenden Menschen in einer eher abgeschiedenen Gegend, um deren Wagen herum zu seltsame Phänomene entwickeln. Nicht jede dieser Idee wie die Zombies sind für den Leser nachvollziehbar und wirken eher aufgesetzt angesichts des religiösen zweiten Teils der Geschichte, dafür wirkt die Atmosphäre vor allem in Kombination mit der rasant erzählten Handlung deutlich stimmiger und intensiver.
Nur wenige Menschen werden von Andreas Schwietzkes Grafik auf Ellen Nortons »Der Kran« kommen. Der Interpretationsspielraum ist zu weit. Unabhängig von dieser Tatsache ist Ellen Nortons Geschichte stimmungsvoll, spannend, ein wenig mystisch und faszinierend. Eine ältere Dame liest eine Anzeige von einer freien Wohnung, die nur an Menschen von über achtzig Lebensjahren vermietet wird. Der Leser ahnt schon die Zusammenhänge, aber die einzelnen Figuren sind exzentrisch wie eindringlich genug gezeichnet worden, um diese Schwäche auszugleichen. Der Übergang vom »Realen« ins »Mystische« funktioniert deutlich besser als zum Beispiel in der Auftaktstory »Der zerbrochene Mond«.
Paul Sankers »Ob und wann« erinnert an einen Albtraum vom Kafkas Dimensionen. Der alte Keller, den Andreas Schwietzkes Grafik zeigt, ist minutiös in diese Groteske eingebaut worden. Der alte Mann, dessen Fall vom Angesicht der Erde und schließlich die sich zu einem Albtraum erweiternde Reise durch die relative Dunkelheit mit dem dekadenten Abschluss werden stimmig und eindringlich erzählt. Alleine Erklärungen verweigert Paul Sanker dem Leser, wie einige andere Autoren der mystischen Geschichten dieser Sammlung.
Daniel Huster muss in seinem Beitrag »Der Weltraumstaubsauger« die Schwierigkeit literarisch umschiffen, dass Andreas Schwietzkes Bild im Grunde das wichtigste Element der Handlung schon beinhaltet. Ein Staubsauger saugt einen fetten Mann inklusiv seines Sessels einfach auf, die Hausfrau und seine Frau steht im Hintergrund und führt fast liebevoll den unscheinbar erscheinenden Staubsauger. Ein optischer Witz, eine zynische Abrechnung mit dem wenig liebevoll wirkenden Ehemann. Um diesen bekannten Plot herum muss der Autor eine kurzweilig zu lesende Geschichte entwickeln, an deren Ende die Erkenntnis steht, dass niemals nur einer alleine Schuld ist. Herausgekommen ist eine wunderbar zu lesende Farce auf die Tücken des Alltags, in einem augenzwinkernden Stil verfasst.
Gabriele Behrends »Der Smaragdwald« passt sehr gut zu Andreas Schwietzkes surrealistischer Komposition. Die von der Erde stammenden Farmer auf dem Planeten Demeter werden mit seltsamen Naturphänomenen konfrontiert. Durch die wechselseitige Perspektive ist der Leser den Protagonisten einen Schritt voraus. Die Atmosphäre ist stimmig, das Zurückschlagen der Natur zufriedenstellend und die Gedankengänge der fremden Intelligenz überzeugend. Allerdings hätte die Autorin auf den Holzhammer im Epilog verzichten können.
Nicht nur zu den längsten, sondern auch besten Geschichten gehört Tetiana Trofushas »Coming Home«. Lange Zeit kann der Leser nicht glauben, dass es außer der Idee eines bizarren Heimatplatzes einen Bezug zu Andreas Schwietzkes stimmungsvollem Bild gibt. Auf den letzten Meter dreht die Autorin nicht nur den lange Zeit im positiven Sinne an Roman Polanskis »Ekel« erinnernden Plot, sondern stellt die Schöpfung über den Schöpfer. Die Idee mag weit hergeholt sein und der technische Hintergrund ist eher vage, aber angesichts des Kammerspiels – die ganze fast an eine Novelle erinnernde Geschichte spielt zu neunzig Prozent in wenigen Räumen – mit einem Fokus auf der emotionalen Abhängigkeit der drei wichtigen Charaktere voneinander ist diese Oberflächlichkeit auch akzeptabel. Wahrscheinlich hätten tiefer gehende fiktive Erklärungen die Dynamik dieses Dramas unterminiert. Ji scheint als ehemaliges Modell in einer devoten Abhängigkeit von ihrem neuen Ehemann und Herrn Adam zu leben. Lange Zeit spielt die Autorin diese entsprechende Note inklusiv der Furcht vor Bestrafung, der Paranoia, über eine bestimmte Fliese im Flur zu treten und schließlich dem erdrückenden Bedürfnis, es dem lange Zeit tagsüber abwesenden Mann recht zu machen. Ein Eindringling bringt dieses fragile Kartenhaus zum Einsturz. Es ist lesenswert, wie subversiv zynisch die Autorin im letzten Drittel der Geschichte die absichtlich von ihr etablierten Regeln durchbricht und immer wieder eine Idee nach der anderen infrage stellt. Hinzu kommt die finale Befreiung der Protagonisten im Grunde nicht nur von ihrem Übervater, sondern ihrer bisherigen Welt. Eine auch dank der gut beschriebenen, interessant ausbalancierten Figuren sehr lesenswerte Story.
Achim Stößers »Vitalfunktionsangleichung oder der Duft der Durian« führt einige Ideen aus Trofushas Geschichte mit der Dynamik eines Holzhammers fort. Es ist schwer, Andreas Schwietzkes Grafik und diese frontale Anklage gegen Vorurteile, Diskriminierung, die Suche nach neuen sozialen Strukturen und schließlich auch die Vorverurteilung durch eine auf beiden Augen blinde Justiz mit der fragilen Liebesgeschichte in Verbindung zu bringen. Aber in beiden Texten werden die bisher bestehenden, nicht immer optimalen sozialen Strukturen von einer dritten Seite aufgebrochen und die im Grunde emotional zurückgebliebenen Figuren an ihren schwächsten Punkten getroffen. Beide Geschichten provozieren, manipulieren und unterhalten auf eine unangenehm brutale wie direkte Art und Weise. Beide Autoren haben sich entschlossen, ihren Texten zum Nachdenken anregende, vor allem ihre Figuren ein wenig bis ganz befriedigende Enden zu geben und dadurch die beißende soziale Kritik an einer abgestumpften oder abstumpfenden Gesellschaft extrapoliert aus der klar erkennbaren Gegenwart noch direkter klingen zu lassen.
Bei Simone Komosinskis »Das Gefäß« hätte der Künstler vom Inhalt der Story her an ein anderes, nicht vertretenes Bild aus seinem Computer gedacht. Unabhängig davon spricht er den Bezug zu bestimmten japanischen Zeichentrickfilmen in der Tradition einer bizarren »Alice im Wunderland«-Variation an. Die Geschichte mit der in eine andere Welt fallenden Frau, den Märchenwesen und Dämonen sowie dem typischen, damit auch klischeehaften Ende ist stilistisch solide geschrieben worden, der Funke will aber nicht wirklich überspringen und die interessanten Beschreibungen enden eher im Nichts.
Wie »Das Gefäß« beschäftigt sich Bettina Ferbus’ »Durch sieben Tore musst du gehen« mit dem Übergang in eine oder mehrere neue Welten auf eine eher Fantastische Art. Im Nachwort spricht der Künstler auch die Idee einer Nahtoderfahrung an, wobei das aus dem ewigen Eis erreichte Paradies ein wenig an Capras Shangri-La mit einer absoluten, ein wenig sexistischen Gleichberechtigung erinnert. Die Geschichte leidet aber unter dem Titel, denn es wird – kritisch gesprochen – nur eine Welt, die Ausgangsposition einbeziehend zwei Welten vorgestellt. Dadurch wirkt der Plot unrund und viel Potenzial wird verschenkt. Unbefriedigend ist bei dieser Art von Geschichten, dass die Übergänge viel zu glatt zwischen den Welten sind und ein Sprung den Protagonisten aus einer mittelbaren Gefahr – er soll nach einer Vereinigung mit dem Leben in dieser Welt bleiben – wieder in die unwirtliche Eislandschaft und damit eine unmittelbare Gefahr bringt. Bettina Ferbus’ Stil ist aber humorvoll, die Dialoge sind pointiert und wäre der grundlegende Plot nicht so vertraut, könnte die Geschichte aus der Anthologie positiv herausragen.
Auch Anna Exels »The Lost Island: Das verlorene Eiland« könnte sich in diese Reihe von Spiegeluniversen einreihen. Zwei Protagonisten stranden auf einem paradiesischen Eiland und müssen sich eher mit sich selbst auseinandersetzen als mit ihrer zu perfekten Umgebung. Der Leser nähert sich nur bedingt den Charakteren, aber das Ende impliziert auch wie »Der Kran« einen möglichen Übergang in eine gänzlich andere Daseinsebene. Die Beschreibungen sind gut, die Atmosphäre (alb-) traumhaft, aber als Ganzes wirkt der Plot durch den getragenen Stil auch ein wenig zu stark konstruiert.
Michael Schmidt präsentiert mit »Holy Pot« eine wunderbare Geschichte. Das Ausgangsbild mit einer schönen Frau, ihrem Trolley und einem Blick in eine außerirdische wie exotische Landschaft wird zu einem Sprungbrett für eine »Mission Impossible«. Eine Formwandlerin soll ein wertvolles Artefakt aus einer Raumstation stehlen. Mit vollem Körpereinsatz und einigen Ideen scheint dieser unmögliche wie gefährliche Auftrag tatsächlich zu klappen. Das Tempo der Geschichte ist ausgesprochen hoch, der Hintergrund exotisch und das Spiel mit den Namen erinnert an Robert A. Heinlein mit seinem galaktischen Pothealer. Die Herausforderungen sind interessant und die sexuell attraktive, über Leichen und Liebhaber gehende Protagonistin dreidimensional, fordernd und sympathisch zugleich. Auch das Ende ist opportunistisch und lässt vor allem auch Raum für eine Fortsetzung. Es sind diese freien Interpretationen in Kombination mit guten Geschichten, welche dem Titel der Sammlung so gerecht werden.
Wie Michael Schmidt in seiner Story spielt Arndt Waßmann in »Planet der Träume« mit der Erwartungshaltung der Leser, aber auch seines Protagonisten. Dieser hat im intergalaktischen Lotto eine Kreuzfahrt zu den Sternen gewonnen. Wer aufmerksam den Plot liest und vor allem einige Zwischentöne aufnimmt, ahnt den Plotverlauf. Trotzdem überzeugt die Geschichte durch ihre Stimmungen und Andeutungen, wobei ein wenig mehr Länge, ein konsequenterer Spannungsaufbau und ein etwas geschmeidigeres Ende der ganzen Story gut getan hätten.
Vincent Voss geht in »Second Life« noch einen Schritt weiter. Der mit Kristallen übersäte Planet Argos soll Herausforderung und Erfüllung zugleich sein. Die Besucher werden mit der Gier der Menschheit im übertragenen Sinne konfrontiert, welche in Form einer Reise teilweise ein wenig zu belehrend präsentiert wird. Es sind interessante Ansätze wie die Definition von intelligentem Leben in dem kompakten, auf zwei Ebenen spielenden Text untergebracht, der strukturell aber überfrachtet, inhaltlich zu stark komprimiert und vor allem angesichts der emotionalen Themen auf der charakterlichen Seite zu schwach aufgebaut worden ist.
Auch Enzo Asui spricht in »Von Distler und von Wiesenfliegen« relevante ökologische Themen teilweise verpackt in eine Farce an. Wie bei einigen anderen Texten fällt die Annäherung an die einzelnen Protagonisten nicht leicht, aber zumindest die zugrunde liegenden Plotelemente sind sehr viel leichter zu erkennen und die Intention des Autors ist klarer. Andreas Schwietzkes Bild ist eher eine Parodie, eine groteske, aber nicht unsympathische Figur mit Fliegenfänger auf der Jagd oder gejagt von einem Rieseninsekt. Die eigentliche Story ist aber wesentlich dunkler und fängt den Leser allerdings auch erst sehr spät inhaltlich ein.
Vor vielen Jahren sorgte ein kleiner böser Horror-Science-Fiction-Film namens »Dust Devil« für Aufsehen. D. J. Franzen hat mit »Der Rainman«, beginnend mit dem zwar noch offenen, aber überraschenden Ende, basierend auf dem Rache-Sühne-Motiv, eine auf einer ausgetrockneten Erde handelnde dunkle Post-Doomsday-Geschichte geschrieben. Der Protagonist jagt den Rainman, sein Motiv bleibt lange im Dunklen. Aber der Autor manipuliert den Leser durch eine Reihe von Andeutungen. Aber aus spannungstechnischer Sicht ist die Verzerrung der tatsächlichen Vorgänge auch notwendig, um die Pointe nicht zu gefährden. Vielleicht sind es auch die zahllosen Genreeinflüsse, die in der Fantasie die einzelnen Versatzstücke zu einem Bild zusammensetzen, das nicht der Wirklichkeit oder vor allem der Intention von Charakter und Autor entspricht.
Die Herausforderungen der Wüste sind überzeugend beschrieben worden; die Charaktere, denen der Protagonist scheu und vorsichtig begegnet, vom unwirtlichen Leben gezeichnet. Wie im Nachwort angesprochen wird, haben Zeichner und wahrscheinlich auch Autor einfach Tendenzen der Gegenwart unabhängig von diesem herausfordernden Sommer extrapoliert und entsprechend gesteigert. Die Idee des Aberglaubens gegen die Wissenschaft ist allerdings eher angedeutet und hätte dem Text vor allem in einer längeren Struktur noch mehr interessante Tiefe geben können.
Es sind bis auf das Ende nicht viele neue oder originelle Ideen vorhanden, aber mit seinem sicheren Stil und einigen sprachlichen Bildern macht der Autor aus der bildlichen Vorlage sowie seinen eigenen Prämissen mindestens zufriedenstellend viel.
»Der Rainman« ist aber nicht die einzige Geschichte, die sich mit einer Welt fast ohne Wasser auseinandersetzt. Susann Obando Amendt fügt dieser Thematik mit »Das Geheimnis der verschwundenen Quellen« eine mehr und mehr mystisch werdende Geschichte vom Überleben einer kleinen Gruppe von Menschen unter der Erde und schlimmer noch unter der Tyrannei eines Diktators hinzu. Neben der Suche einer entschlossenen jungen Frau nach Wasser für ihren Stamm in der unwirtlichen Natur und vor allem unter der ständigen Bedrohung fremder, an der Oberfläche lebender Wesen findet sich eine romantische »Romeo und Julia«-Episode in »Das Geheimnis der verschwundenen Quellen«. Die Bedrohung durch Fremde, die Liebesgeschichte und schließlich die unwirtliche, von Menschen aus Dummheit erschaffene Natur sind Themen, die sich in einer Reihe der hier gesammelten Storys wiederfinden. Meistens ist nur eines der drei Elemente vorhanden, sodass »Das Geheimnis der verschwundenen Quellen« fast wie eine überzeugende Symbiose aus drei ebenfalls vertretenen Storys erscheint. In der Theorie wird sogar das gefährliche Betreten einer unbekannten Welt durchgespielt, denn Amendts Protagonisten erscheinen wie die verschiedenen »Alice in Wonderland«-Variationen, wobei die Autorin deutlich mehr überzeugt als »Das Gefäß« oder »Durch sieben Tore musst du gehen«.
Einige von Andreas Schwietzkes Bilder reizen die Autoren, aus dem bisherigen Heraustreten und im Grunde gegen alle Logik surrealistisch zu »spinnen«. Das ist nicht negativ gemeint. Regina Schleheck hat sich eines der interessantesten, aber wahrscheinlich auch am schwierigsten zu adaptierenden Bilder vorgenommen. Herausgekommen ist bei »Ein Audi« – auch der Titel zielt in eine andere Richtung als beabsichtigt – eine zu Beginn dunkle, fast zynische Geschichte, die wie »Der zerbrochene Mond« schließlich in den satirisch surrealistischen Bereich – allerdings nicht gänzlich befriedigend – übergeht. Aber die ersten Seiten mit der skurrilen Odyssee zum Pol sowie die sich auch in »Der Rainman« widerspiegelnde Warnung vor den immer mehr zur Neige gehenden Trinkwasservorräten erdrücken fast die zweite, zu verspielte Hälfte des Textes.
Die Herausgeberin selbst steuert unter dem Pseudonym Mary Ann Dark mit »Bange Seelen« eine klassische Horrorgeschichte um menschenverachtende Experimente, die Seelen der Verstorbenen, Vergebung und Sühne sowie die Suche in der Gegenwart nach den Resten der Vergangenheit bei. Wie einige andere Texte dieser Anthologie ist die Story sehr gut geschrieben und überzeugt durch eine stimmige Atmosphäre, aber bis auf die brutalen Rückblicke kann die Autorin dem Geistergenre auch keine neuen Ideen hinzufügen, sodass viele Versatzstücke erfahrenen Lesern unabhängig von der guten Umsetzung der Schwietzke-Vorlage auch vertraut vorkommen.
Die letzte Story der Anthologie ist Sascha Dinses »Alioth«. Auf zwei Ebenen versucht ein Familienvater, das Glück mit seiner Frau und seiner Tochter zu verteidigen. Dabei ist von Beginn auch nicht wirklich klar, was auf dem Weg in eine besondere Mission die Realität und was vielleicht Traum oder Fiktion ist. Natürlich ist der Vater bereit, einiges zu opfern, aber betrifft es ihn wirklich? Die Implikation einer Vision statt eines vollständigen zweiten Universums relativiert auch einige Handlungen der Protagonisten. Wie bei fast allen anderen reinen Science-Fiction-Geschichten dieser Anthologie werden bekannte Versatzstücke nicht nur extrapoliert, sondern verfremdet, so dass etwas gänzlich Neues entsteht.
Traurig emotionaler Höhepunkt dieser Modernisierung bekannter Science-Fiction-Ideen ist Felix Woitkowskis »Anhörung in der Sache Herr Arthur Turkur«. Basis ist Richard Mathesons verfilmte berühmte Geschichte um den immer stärker schrumpfenden Mr. C. In distanzierter Berichtsform geschrieben versucht der Autor dem Leser allerdings nur indirekt das Schicksal des Arthur Tukur nahe zu bringen, der immer stärker zu schrumpfen beginnt. Mit dem Zirkus sowie dem Leben in Häusern aus Bauklötzen – der Verweis auf die entsprechende Grafik – schließt sich der Kreis. Felix Woitkowski scheint aber aus diesem tragischen Schicksal eine Parabel machen zu wollen. Er greift mit Andeutungen hinsichtlich des Endes der Menschheit weiter und unterlässt es, diese roten Fäden zufriedenstellend und für den Leser auch überzeugend mit der Hauptstory zu verbinden. Dadurch wirken einige Szenen auch stilistisch zu getragen, zu absichtlich gewollt, anstatt die Lebensgeschichte aus sich heraus einfach fließen und sich entwickeln zu lassen. Auch der Name »Anhörung« ist nur bedingt richtig, da der Plot weit über eine Anhörung im Rahmen eines Prozesses oder eines Untersuchungsausschusses hinausgeht und die emotionale menschliche Ebene dadurch in die Ecke gedrängt wird.
Christian Künnes »Immernacht« könnte man als virtuelle Cyberpunkgeschichte in einem ambivalenten städtischen Moloch spielend titulieren. Vor allem ist die Geschichte zuerst einmal angereichert um zahllose Anspielungen auf den Film Noir wie die schmierigen Bars und das allgegenwärtige Verbrechen. Der Protagonist ist Suchender und Gejagter zu gleich. Die Atmosphäre ist stimmig, dunkel, nihilistisch. Gefahren in verschiedenen Formen lauern überall. Das Schicksal Tams – ihre Hand hat einen letzten skurrilen Auftritt – soll demonstrieren, dass es kein Zuckerschlecken ist. Dabei hat der Leser immer wieder auch das Gefühl, als handle der Plot nicht von einer realen Stadt, sondern ist Bestandteil eines komplexen Computerspiels. Diese Möglichkeit zieht sich bis zum ein wenig hektischen, konstruiert erscheinenden Ende durch, in welchem der Autor noch einmal im übertragenen Sinne den Horizont öffnet und impliziert eine weitere Handlungsebene entwickelt. »Immernacht« liest sich aber trotzdem sehr gut, ist flott geschrieben und unterhält lange Zeit ausgesprochen gut.
Neben Andreas Schwietzkes guten Kommentaren sowohl zu seinen Bildern als auch den jeweiligen Geschichten wird diese interessante, herausfordernde Anthologie durch ein ausführliches Interview mit dem Künstler hinsichtlich seines Lebens, seiner Arbeitsweise und seiner Inspirationen abgerundet.
Auch unter den sehr kurzen Texten finden sich einige Perlen. Frederik Brake impliziert in »El Viaje«, dass die Szene im Süden oder in Mexiko spielt. Ein Stammesältester, der schon gedanklich eher ein wenig abseits über dem Wohl und Wehe seines Volks schwebt, als dass er urteilt. Eine junge Frau ist mit der Wahl ihrer Eltern hinsichtlich ihres Ehemanns nicht zufrieden. Und plötzlich dreht sich das Szenario und basierend auf eine alten Idee der Science-Fiction entsteht etwas vollkommen Neues, total Überraschendes. Axel Kruse versucht in »Die Biene« diesen Weg ebenfalls zu gehen, er bleibt aber hinsichtlich einer möglichen First-Contact-Begegnung zu vage und kann die Mystik nicht gänzlich zufrieden stellend auf den Leser übertragen.
Ohne Frage ist »Inspiration« eine Anthologie, die mit dem Zugang zu Schwietzkes vielfältigem und interessantem Werk steht und fällt. Es ist vor allem ausgesprochen lesenswert und sehenswert, wie unterschiedlich Autor und Grafiker die gleichen Bilder interpretieren und trotz dieser Unterschiede irgendwo auf einen nicht unbedingt gleichen, aber gleichwertigen Nenner kommen. Die Qualität der Geschichten ist mindestens ansprechend bis überzeugend, wobei insbesondere die verfremdeten Science-Fiction-Storys aus der Masse der Beiträge noch einmal herausragen. Eine Fleißarbeit, eine ungewöhnliche Anthologie und ein Projekt, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat, aber Aufmerksamkeit verdient und Nachahmer im positiven Sinne ermuntern sollte.
Die digitalen Welten des Andreas Schwietzke
Außer der Reihe 25, p.machinery, Murnau, Juli 2018, 392 Seiten, Paperback: ISBN 978 3 95765 137 2 – EUR 27,90 (DE)