Kinder der Zeit

Kinder der Zeit, Tschaikovsky, Titelbild
Adrian Tschaikovsky

Adrian Tschaikovsky ist vor allem durch seine „Shadows of  the Apt“  Fantasy Serie bekannt geworden. Daneben hat der britische Autor eine Handvoll von alleinstehenden Romanen veröffentlicht. Für „Die Kinder der Zeit“ ist er mit dem insgesamt 30. Verliehenen Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet worden.  Hollywood plant den Stoff zu adaptieren, wobei hier auch eine gewisse Kurzsichtigkeit mitschwingt.  Einige Prämissen des Buches sind nicht unbedingt originell, sondern erinnert an Vernor Vinges ebenfalls ausgezeichneten Roman „A Deepness in the Sky“, dem der Amerikaner einige Jahre später eine Fortsetzung folgen ließ. Dabei geht es nicht nur um die „fremden“ Kreaturen – es handelt sich um Spinnen -, deren Evolution und einhergehend den Aufbau einer entsprechenden Zivilisation der Leser verfolgen kann.  Beide Romane sind großartige,  inhaltliche viele Äonen umfassende Geschichten mit fundierten wissenschaftlichen Fundamenten.  Im Gegensatz zu Vinge schließt Tschaikovsky den Handlungsbogen am Ende seines Buches zufriedenstellend ab.  Bis dahin lernt der Leser eine paradiesische Welt kennen, welche von verschiedenen Interessengemeinschaften als entweder neue Heimat oder Vermächtnis angesehen wird. Tschaikovsky zeichnet in seinem Epos ein dreidimensionales, keine Position einnehmendes Bild seiner Figuren.  Durch diesen Verzicht auf Wertungen hat der Leser selbst die Möglichkeit, einzelne Facetten des Geschehens außerhalb der sehr bildhaft beschriebenen Entwicklung der Spinnen auf dem Planeten selbst zu bewerten und einzuordnen. Diese Vorgehensweise ist gewöhnungsbedürftig, macht aber rückblickend Sinn. 

Vor allem weil Tschiakovsky in die bekannte Handlung einer evolutionären Entwicklung auch einige neue Ideen eingebaut und auf klassische schwarzweiße Malerei verzichtet hat. Schon der Auftakt zeigt, wie weit verzweigt sich die Handlung entwickeln wird.  

Die Erde ist ökologisch ruiniert, die letzten Überlebenden fliehen an Bord eines Raumschiffs zu einem Planeten, der eine zweite Erde sein könnte. Der Klappentext gibt in dieser Hinsicht einen verfälschten Eindruck. Denn das längst untergegangene erste Imperium der Erde hat vor vielen Jahrtausenden Sonden ausgeschickt, mit denen Welten terrafomt werden sollen. Parallel zu diesen Expeditionen hat sich die erste Menschheit in einer Reihe von Kriegen  selbst zerstört. Die Auswirkungen dieser Auseinandersetzungen verfolgt der Leser ohne Kenntnis der Hintergründe im Auftaktkapitel. Dr Ivana Kern leitet diese erste Expedition und will mit ihren Affen intelligentes Leben auf der Welt ansiedeln.  Ein ökologischer Terrorist, der gegen diese Aktion ist, sprengt sich in letzter Sekunde vor dem Einsetzen des Experiments in die Luft und zerstört das Raumschiff. Ivana Kern kann zwar fliehen,  lässt sich aber körperlich veränderte und zu einer Art künstlichen Cyborgintelligenz mutiert in den künstlichen Tiefschlaf versetzen. Als das eingangs angesprochene Raumschiff der Menschen ohne Kenntnis dieser Experimente und Terraformingprozesse über der Welt erscheint, lässt sie sich erwecken. Sie will nicht, dass selbst die letzten Überlebenden der im Grunde zweiten Erde sich in den mittels Nanoviren beschleunigten Evolutionsprozess auf dem Planeten einmischen. 

Die Ausgangsprämisse ist unglaublich gut und packend beschrieben. Lange Zeit ahnt der Leser nicht, dass Ivana Kern eben ein längst untergegangenes Reich vertritt. Vorher nur von ihren Experimenten besessen scheint sie im zweiten Teil des Romans wahnsinnig zu sein. Da helfen auch nicht die doppeldeutigen Anmerkungen ihrerseits. Jegliche Argumentation der zweiten Menschheit wird von ihr brachial abgewürgt.

Unter diesem zwischenmenschlichen wie vertrauten Konflikt schwelt aber eine zweite, sehr viel interessantere Handlungsebene.  Tschaikovsky setzt den Begriff des Terraforming nicht gänzlich richtig ein.  Der Planet wird nicht den Menschen angepasst, um zukünftig dort leben zu können, es geht eher darum, mittels genetischer Manipulation und den angesprochenen ambivalenten Nanonviren Leben auf einem Planeten auszusetzen und zu beschleunigen, um die menschliche Evolution auf der Erde zu kopieren. In seinem Roman wird nicht der Planet seinen Bewohnern, sondern „neue“ Bewohner ihrer zukünftigen Welt angepasst.  

Subversiv beutet der Autor diese Idee auf eine noch andere Art und Weise aus. Die besessenen, aber auch in ihrer Sonde oberhalb des Planeten aus unerklärlichen Gründen auch betriebsblinde Ivana Kern ahnt nicht, dass ihr Experiment gescheitert und gleichzeitig geglückt ist.

    Der Roman besticht durch die wechselnden Perspektiven, symbolisiert quasi durch die Planetenebene und den Konflikt im planetennahen Bereich.  Der Leser muss aber akzeptieren, dass die Menschen ihre Vergangenheit derartig komplett vergessen haben, dass die Wiederentdeckung der Welt, die Begegnung mit Ivana Kern und die Ignoranz eines früheren Krieges für die zweite „Welle“ der Aussiedler eine Überraschung darstellen. Diesen zeitlichen Horizont kann der Autor nicht gänzlich zufriedenstellend in Worte fassen, aber für die Prämisse ist es absolut notwendig, dass der Leser diese Idee akzeptiert. 

 Wie bei einigen anderen Büchern eines Jack Vance, eines Hal Clements, eines Vernor Vinges und manchmal mit Einschränkungen eines Alan Dean Fosters sind die außerirdischen Handlungsteile interessanter als der menschliche Konflikt, wobei Tschaikovsky immer wieder durch Ivana Kern auch den Schöpfungsgedanken einfließen lässt. Unbewusst und durch einen Zufall basierend auf ihrem Scheitern ist Ivana Kern die Mutter dieser Evolution geworden. Besser gesagt… die Stiefmutter. Sie fühlt sich für ihre „Schöpfungen“ und damit auch den Planeten verantwortlich, obwohl sowohl sie als auch Jahrtausende später die Besatzung der „Gilgamesh“ aus den gleichen Gründen die Erde verlassen haben.

 Während die Menschen an Bord der „Gilgamesh“ hinsichtlich des Erhalts der Rasse argumentieren, widerlegt die Natur auf dem Planeten diese These und greift direkt zurück auf Darwin und das Durchsetzen des Stärkeren zurück.  Abschließend ist der Austausch der Argumente eine absichtliche Quadratur des Kreises, um die Hilflosigkeit der technologisch ohne Frage überlegenen Menschen darzulegen. Dabei stellt Tschaikovsky nur die einzelnen Positionen gegenüber ohne zu bewerten.

Auf der Planetenebene hat der Autor es einfacher.   Er erschafft eine bedingt fremde Kultur. Die irdischen Vorbilder sind inklusiv ihres entsprechenden Verhaltens und werden durch die Integration von Emotionen verfeinert.  Da das Geschehen auf diesem Handlungsbogen ohne menschliches Eingreifen wirkt es teilweise exotisch, aber da der Autor sich an der menschlichen Evolution beginnend bei den Höhlenmenschen im Zeitraffer orientieren muss, kann er wenig grundsätzlich originelle Impulse setzen. Interessant wird es, als diese Wesen erkennen, dass sie – wenn auch durch einen Zufall – „erschaffen“ worden sind und die Kommunikation mit dem mystischen/ göttlichen Botschafter aufnehmen. Vor allem als die Erschaffer bzw.  deren Nachkommen zurückkommen, um das aus ihrer Sicht Ungeziefer zu vernichten und den beginnend mit den ersten Jagderfolgen über den Bau von Städten bis zu einer primitiv technologischen Nation egoistisch zu unterbrechen.   

Tschaikovky hat im Verlaufe ihres Prozesses immer wieder andere Schwerpunkte gesetzt.  Obwohl die Vorgehensweise und Motive klar zu erkennen sind, lebt der Roman von eine emotional anderen Ebene mit anderen Schwerpunkten. Natürlich sind diese Wesen auch neugierig, intelligent, manchmal wie die Natur es vorgibt auch brutal, aber sie zeichnet auch ein anderer Lebensweg aus, welcher im Leser Verständnis erweckt. Das ist die Stärke des differenziert aufgebauten Romans, der schließlich in einem fatalistischen Ende gipfelt, das auf den ersten Blick keinen Raum für ein Zusammenleben bietet und in einer abschließenden Vernichtungsorgie gipfeln könnte.

„Die Kinder der Zeit“ ist unabhängig von einigen kleineren Schwächen wie eines ambivalent entwickelten Hintergrunds der Menschheitsgeschichte ein herausforderndes, auf verschiedenen Ebenen auch emotional ansprechendes Buch, das viele Frage aufwirft und sich phasenweise nicht scheut, dem Leser Lösungsansätze, aber keine Absolutismen anzubieten.  Und damit ist „Die Kinder der Zeit“ den empfehlenswerten beiden Büchern Vernor Vinges ebenbürtig.

  • Taschenbuch: 672 pages
  • Publisher: Heyne Verlag (12 Feb 2018)
  • Language: Deutsch
  • ISBN-10: 3453318986
  • ISBN-13: 978-3453318984
  • Original Title: Children of Time