Wolf Welling hat sich in den letzten Jahren durch eine Reihe von Erzählungen und Kurzgeschichten den Ruf eines vielseitigen Stilisten und stimmungsvollen Erzählers erarbeitet. In dieser Hinsicht wirkt sein erster Roman "Die Wächterin" wie eine natürliche Fortschreibung im positiven Sinne dieser Ideen. Es ist ein Roman, der im Grunde auf zwei parallel laufenden Ebenen funktionieren soll, wobei sich von der Struktur her die Frage stellt, ob das Ende in mehrfacher Hinsicht nicht zu abrupt gestaltet worden ist. In Bezug auf die Gegenwartshandlung belässt es der Autor bei Implikationen. Der Leser kann nicht abschließen feststellen, ob wirklich alle Erlebnisse auf dem fremden Planeten "real" sind und es zu dieser doppelten Begegnung mit der "Vergangenheit" und dem Fremden gekommen ist. Es könnte sich auch um die letzte Stufe des Wahnsinns handeln, dem die Wärterin verfallen ist. Aus der Vergangenheitsstufe - sie erzählt quasi der Datenbank stellvertretend für den Leser ihre Lebensgeschichte bis zum dreißig Jahre umfassenden vertrag, auf einer einsamen Wüstenwelt auf ein Artefakt aufzupassen - könnten entsprechende Schlüsse gezogen werden, wenn diese Erzählungen nicht im ersten Drittel die Wache entstanden wären. Es gibt noch einen kleinen Nachtrag für fünfzehn und zwanzig Jahre, sowie einen Ausblick auf die bevorstehende Rückkehr zur Erde. Dieser Nachtrag wird unmittelbar darauf durch die Gegenwartsbene überrollt. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, die einzelnen Einträge zeitlich etwas besser über die lange Zeit als Wächterin zu verteilen, um das im Grunde aus dem Nichts kommende hektische Ende ein wenig zu entzerren.
Unabhängig von den strukturellen Unstimmigkeiten präsentiert sich aber "Die Wächterin" auf eine faszinierende wie ungewöhnliche Art und Weise, die vielleicht vielen gegenwärtigen Lesegewohnheiten widerspricht und langsam wie stetig eine bedrohliche Atmosphäre trotz einiger Absurditäten wie einem Dutzend lebendiger Puten aufbaut.
Dabei leidet die Gegenwartsebene lange Zeit unter den Erzählungen aus der Vergangenheit, die dreidimensionaler, erotischer und immer ein wenig auch am Rande des Klischees entlang schlitternd dem Leser vertrauter sind.
In der Gegenwart hat sich die Protagonistin Ayra entschlossen, aus einer sauer gewordenen Beziehung zu einer anderen Frau zu fliehen. Ihre Firma hat vorher an ihr mit ihrer Einwilligung PSI Experimente durchgeführt, um in einem überfluteten Verbrauchermarkt neue Anreize zu setzen und Produktplacement effektiver durchzuführen. Sie verlässt schließlich die Firma überstürzt und heuert unter einem falschen Namen auf einem entfernten Planeten an. Dort soll sie für 30 Jahre ein außerirdisches Artefakt quasi überwachen, das bislang keine Reaktion gezeigt hat. Diese Artefakte finden sich auf verschiedenen Planeten. Sie darf in einem überdimensionalen Schloss leben, das sich der erste Wärter auf dem Planeten hat bauen lassen. Neben einem männlich gestalteten Roboter als intellektuellen wie sexuellen Begleiter nimmt sie zwölf Putten mit, die als Nahrungsquelle für die automatische Küche dienen. Der erste Wächter hat sich ein Schloss bauen lassen, Ayra lässt sich Flügel anpassen, mit denen sie wie eine Ente über die Weiten des Wüstenplaneten schweben kann. Daneben kann sie verschiedene Sportarten ausüben. Auch wenn sie keinen durch Pflichten geregelten Tagesablauf hat, hat sie keine richtige Langeweile und scheint die Einsamkeit in den Tiefen des Alls gut zu überstehen. Gegen Ende ihres Einsatzes - wenn sie wahnsinnig werden sollte, verfällt ein großer Teil ihres Gehalts und ihrer Boni - häufen sich aber seltsame Phänomene. Ohne weitere Erklärungen baut der Autor wie eingangs erwähnt eine vielschichtige Atmosphäre auf, wobei die bedrohlichen Elemente eher angedeutet werden. Diese Ambivalenz wirkt vielleicht gegen Ende, wenn sich die Ereignisse überschlagen, auch wenig zu oberflächlich, aber Wolf Welling will wahrscheinlich zuerst dem Leser die wichtigste Protagonistin mittels der anfänglich deutlich interessanteren Rückblenden vorstellen.
Hier liegt vielleicht eine kleine weitere Schwäche des Romans. Ayra greift gleich zu Beginn ihrer persönlichen Memoiren spannungstechnisch in die Zukunft und will mit verklausulierten Anmerkungen darauf hinweisen, dass ihre Beziehung mit der attraktiven wie labilen Miriana anscheinend von Beginn an geplant worden ist. Gegen Ende verläuft dieser Faden im Sande. Es bleibt bei Anspielungen, auch die Variation einer Einschleimkandidaten um einen attraktiven Job mit der Maßgabe, Ayra zu schaden, wird im Gegensatz zu einer wirklich nachhaltig enttäuschten Liebe einer inzwischen psychopathischen fremdgehenden Expartnerin abgelegt. Dabei verschenkt der Autor sehr viel Potential. Sowohl die subversive Umklammerung der charakterlich nicht sonderlich starken Ayra als auch ein langfristig angelegter Plan, ihre berufliche Existenz von außen zu gefährden hätten effektiver gewirkt als der abschließende Versuch, eine futuristische Version von "A Fatal Attraction" mit leicht variierten Prämissen zu erzählen.
Auf der anderen sehr viel positiveren Seite ist es selten, dass ein Autor mit seinem Debütroman so stark an den Figuren feilt und ihnen eine zugängliche Dreidimensionalität vor einer unwirtlichen Atmosphäre schenkt. Während Ayra unabhängig von ihrer Unsicherheit als Erzählerin ja quasi das Geschehen maßgeblich beeinflussen und dem Leser als einziges subjektives Resonanzboard dient, ist die deutlich aktivere, vielleicht ein wenig zu wilde, zu impulsive, ohne Frage auch freizügige und doch teilweise auch unsicher wirkende Miriana die interessantere Figur. Wie gesagt, es ist schade, dass sie schließlich derartig in ihren Handlungen „reduziert“ wird. Dem Buch hätte eine abschließende Plotwendung in der Tradition von Filmen wie „Die Teuflischen“ besser getan und den Leser deutlich mehr provoziert.
Stark konstruiert wirkt, dass Miriana in der vorliegenden Form sehr spät in das Geschehen wieder eingreift. Dieses langfristige Denken scheint ihrer in den Aufzeichnungen beschriebenen Figur fremd zu sein. Eine weitergehende Begründung liefert der Autor nicht. Es ist notwendig, um von der inneren Reflektion über die verschiedenen mysteriösen Phänomene schließlich spät, aber bei einem inhaltlich so kompakt auf der emotionalen Ebene aufgebauten Buch nicht zu spät den Plot wieder in Gang zu setzen, das Tempo hochzuschalten und eine wirklich effektive Bedrohung zu inszenieren. In diesem Abschnitt gelangen Wolf Welling auch sprachlich einige verstörende Bilder voller Gewalt, Verrohung und schließlich dem obligatorischen Kampf ums Überleben, bevor der Autor nicht unstimmig, aber zu hektisch auf eine metaphysische „2001“ Ebene wechselt und ein Hinterfragendes offenes Ende hinterlässt.
Der Leser muss sich auf die Figuren und die einzelnen Situationen noch stärker einlassen als in einem klassischen Roman. Im Grunde ist „Die Wärterin“ eine Art Kammerspiel, eine Herausforderung an die Geduld und die Fähigkeit, die subtilen Zwischentöne einordnen zu können. Die Science Fiction Elemente sind im Grunde Versatzstücke, welche auch als eine Metapher für die inneren Widersprüche; die Schranken und geistigen Barrieren der Hauptperson stehen könnte.
Die Stärke des Buches liegt wie eingangs erwähnt trotz einiger Klischees in der Zeichnung der Figuren und vor allem dem Mut des Autoren, eine Story mal auf eine andere Art und Weise zu erzählen. Das Ausgangsszenario ist eines der interessantesten der letzten Jahre und zeigt, dass Action nicht unbedingt eine treibende Kraft sein muss, während Wolf Welling gegen Ende vielleicht einige Kompromisse zu viel eingeht und die exzentrische Ausgangslage - ein Schloss auf einem entfernten Wüstenplaneten mit einer einsamen dreißig Jahre dort lebenden Frau - nicht auf eine interessante Spitze treibt, sondern ein wenig zu sehr auf konventionellere Elemente des Thrillergenres zurückgreift.
AndroSF 75
p.machinery, Murnau, Februar 2018, 308 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 123 5 – EUR 11,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 7438 5636 3 – EUR 5,99 (DE)