Das umfangreiche Nachwort des Herausgebers Neil Clarke wird von dessen Impressionen einer Science Fiction Dienstreise nach China dominiert. Seit nunmehr drei Jahren veröffentlicht der Amerikaner immer wieder SF Geschichten aus dem Reich der Mitte. Er zeigt auf, welche Trends in China parallel zur europäischen / amerikanischen SF laufen und welche sich gänzlich unterscheiden. Vielleicht passt dazu Craig DeLancey ketzerisch/ ironische Frage, ob wir alle in einer der Simulationen leben, die uns die "Matrix" als Realität verkaufen will. Alethea Kontis spricht davon, dass das Verhältnis zwischen Autor und Leser/ Käufer gar nicht so einfach ist wie viele Menschen denken. Der Autor berührt in seinem Essay eine Reihe von Fragen, die im Grunde alle Bereiche berühren. Dabei spielt es keine Rolle, ob auf der populäreren Seite ein Autor, ein Filmstar oder ein Fußballer steht. Chris Urie spricht mit Ken Scholes über dessen Fantasy- Serie, wobei in diesem Fall es für den Leser wichtig ist, zumindest ein wenig über die Bücher gehört zu haben.
Mit Ian McDonald und Ken MacLeod sind dieses Mal zwei namhafte Autoren bei den Nachdrucken vertreten. Allerdings fällt auf, dass der für die Nachdrucke zuständige Redakteur Gardner Dozois in letzter Zeit sehr gerne auf ohne Frage auch gute Texte aus Anthologien zurückgreift, die er selbst mit publiziert hat. Der Protagonist muss sich freikaufen, nachdem er eine Affäre mit der Ehefrau des Besitzers einer Raumstation angefangen hat. Um sich das Geld zu beschaffen, übernimmt er eine gefährliche Mission auf einem Planeten, der den roten Zwerg Wolf 359 umkreist. In einer konstruierten Wendung sind die Überreste der Raumstation genutzt worden, um einen neuen Planeten zu bebauen. In einer Art Zeitraffer hilft der Mann den barbarischen Ureinwohnern, sich von der Unterdrückung zu befreien und innerhalb weniger Jahre ein Imperium zu gründen. Wahrscheinlich in einer längeren Fassung hätte der Text wie Biggles "Monument für ein Genie" überzeugt. Viele Ereignisse überschlagen sich förmlich in den letzten Absätzen und das Ende wirkt zu ambivalent. Politisch spricht Ken MacLeod bekannte Themen an, die irgendwo zwischen Sozialismus und Kommunismus, aber auf jeden Fall antikapitalistisch sind.
Dagegen ist Ian McDonalds "Botanica Veneris: Thirteen Papercuts By Ida Countess Rathangan" ein vielschichtiges Meisterwerk, das aus der empfehlenswerten Anthologie "Old Venus" stammt. Wie bei vielen Arbeiten Ian McDonalds ist die zugrundeliegende Handlung sehr stringent. Lady Iva besucht die Venus, die Ureinwohner halten diesen Besuch in Bildern aus Papierblumen fest. Erst rückblickend aus der Perspektive einer Nachfahrerin erfährt der Leser den Hintergrund dieses Besuchs. Es geht um eine kleine Familientragödie inklusiv des Diebstahls eines wertvollen Saphires. Vor allem über die dreidimensionale und interessante Charakterisierung der Protagonistin arbeitet sich der Leser sehr gut in ihre schwierige Position zwischen den langen Schatten der Vergangenheit und ihrem gegenwärtigen Liebhaber ein. Ein wenig kitschig erscheint, dass Lady Iva ihren Arthur einen Tag vor dessen Tod nach mehr als fünfzehn Jahren findet und sie die Missverständnisse und Beschuldigen rechtzeitig und pathetisch aus der Welt geschafft werden können, aber solche Szenen gehören zu einer sehr komprimierten, aber vielschichtigen Familiensaga, da in der Gegenwart erst das Geheimnis des letzten Papierschnitts offenbart wird.
Ian McDonald ist wie Ken MacLeod ein kraftvoller Erzähler, der mit seinem ambitionierten wie passenden Stil genauso wie Ken MacLeod den legendären Charakter seiner Texte unterstreicht. Im Gegensatz zur ersten deutlich kürzeren Story verfügt Ian McDonald genau über den Raum, den er für den vielschichtigen, ansprechenden, ungewöhnlichen und interessanten, sogar auf einer klassischen Vorlage basierenden Inhalt benötigt.
Insgesamt fünf neue Texte präsentiert die letzte Ausgabe des Jahres 2017. Da keine Novelle dabei ist, finden auch sehr kurze Geschichten wie "Landmark" von Cassandra Khaw Platz. Sie beschreibt eine Long Distance Liebe, die im All noch schwieriger aufrecht zu erhalten ist als auf der Erde. Die beiden Partner müssen sich entscheiden, ob und wie sie die Beziehung aufrecht erhalten. Leider schafft es die Autorin nicht, Sympathien für die Protagonisten im Leser zu wecken und ihr Stil wirkt gestelzt und übertrieben. Viele interessante Aspekte sind durch die Kürze der ganzen Geschichte nur angerissen und wie im richtigen Leben scheint es keine echte Lösung für die zugrundeliegende Problematik zu geben. Die zweite stilistisch schwache Geschichte ist "Darkness, Out Mother" von der leider in den letzten Monaten viel zu oft vertretenen Eleana Castroianni, welche die Geschichte vom Labyrinth und dem Minotaurus aus umgekehrten Perspektiven auf dem Planeten Cemar, dessen Schutz eine Priesterschaft von Mathematikern übernommen hat. Der Plot ist unnötig kompliziert und vor allem steht sich die Autorin mit einigen Ideen wie der theoretisch interessanten, praktisch aber schwerfällig eingesetzten Gruppe von Mathematikern selbst im Wege.
Lettie Prells "Crossing LaSalle" ist ein wenig besser. Die Prämisse ist wackeliger, aber die Protagonistin Mara dreidimensionaler und damit zugänglicher gezeichnet. Maras Leben ist im Grunde von Einsamkeit, Selbstzweifeln und schließlich auch Selbstmordtendenzen bestimmt. Es gibt aber eine Zone, in welcher neue Körper "hergestellt" werden und die zerbrochene Zivilisation hinter sich gelassen worden ist. Viele Informationen fügt die Autorin erst nach und nach in den ansonsten ein wenig statisch Plot ein. Die Aufnahmekriterien am Ende der Reise wirken ein wenig vage, so dass der Eindruck bleibt, als wenn Lettie Prell überzeugende Antworten auf die Probleme gefehlt haben, die sie selbst im Laufe der Geschichte entwickelt hat.
In den beiden längsten Geschichten taucht der "Mars" im Titel auf, wobei besonders in Josh Pearces "Falling in Love with Martians und Machines" der Mars und die groß gewachsenen Marsianerinnen eher wie ein Wunschtraum eines Teenagers als ein wichtiges Handlungselement erscheinen. Auf den ersten Blick erscheint die Novelle wie eine Variation von George Millers immer grotesker werdenden "Mad Max" Serie. Chromium Jim ist mehr Maschine als Mensch. Er fährt teilweise illegale Rennen mit seinem Wagen. Babe ist seine Freundin, Mechanikern und Begleitung, vom Straßenrand aufgelesen. Jim nimmt in jedem Ort auf den Weg nach Alaska zu den wenigen verbliebenen Fliegerstaffeln jede Herausforderung an, um Geld zu verdienen. Er hofft mit seinen körperlichen Veränderungen als Pilot angenommen zu werden, Babe sucht ein Lebensziel abseits der Machowelt.
Die verschiedenen Rennszenen sind brutal, aber effektiv geschrieben worden und der Funke springt buchstäblich auch auf den Leser über. Gegen die Vorgehensweise Chromium Jims spricht, das der von ihm betriebene Aufwand, um nach Alaska zu kommen, in keinem Verhältnis zu einem einfachen Flugticket steht. Hier hätte der Hintergrund dieser nahen Zukunftswelt besser extrapoliert werden können.
Auch die körperlichen Veränderungen mit Raketentreibstoff, der von außen als eine Art Blutersatz nur während der Rennen aufgenommen werden kann und den plötzlich zu reaktionsschnellen Supercomputern werdenden Gehirne wirken hintergründig wenig durchdacht, vordergründig sollen sie diese besondere Gesellschaft der allerdings nicht professionellen Rennfahrer zeigen. Alleine diese Logistik unterminiert den absichtlich in dem Hard Boiled Slang geschriebenen Plot.
Wie erwähnt wirkt das Auftauchen der Marsianer - sie bilden keine Überraschung und versuchen auch keine Invasion - mit ihrem Faible für Autorennen wie absichtlich für niedrige Schwerkraft konstruierten Fahrzeugen eher wie eine "Deus Ex Machina" Lösung, um Babes emotionalen Konflikt nicht unbedingt überzeugend aufzulösen. Da die Erzählerin Babe meistens eine Art Opfer ist und sich aber auch in dieser Rolle ausgesprochen gut fühlt, wäre es sinnvoll gewesen, mit dem eindimensional gezeichneten, aber durch die körperlichen Veränderungen faszinierenden Jim eine andere Identifikationsfigur auszuwählen. Leider wird er wie alle Extremsportler so unnahbar, so unsympathisch beschrieben, da die Geschichte vor allem über die angesprochenen Actionszenen alleine zu definieren ist. Diese sind gut geschrieben, der Rest leider zu mechanisch im Fachjargon gesprochen unprofessionell angebaut worden.
Die beste Story der 135. Clarkesworld Ausgabe ist „The Rains on Mars“ von Natalia Theodoridou. Die Geschichte könnte in der Vergangenheit oder Gegenwart auch auf der Erde spielen, die phantastischen Elemente sind unnötig, was die Qualität des zwischenmenschlichen auszeichnet. Mac arbeitet auf dem Mars an einem Projekt, das unterirdisch die einzelnen Basen auf dem Mars verbinden soll. Es ist gefährliche, aber auch gut bezahlte Arbeit, mit welcher er Schulden auf der Erde abbezahlen kann. Diese Schulden haben das Leben seines Bruders gekostet, den Geldeintreiber vor seinen Augen tot geschlagen haben. Während der Arbeit auf dem Mars kommt es zu einem Unglück. Mac wird beschuldigt und übernimmt auch fatalistisch die Verantwortung.
Mac ist aber durch seine Schuldgefühle ein fast zu passiver, zu sehr von Beginn an mit oder ohne Schuld zu einem Opfer werdenden Protagonist. Dabei ist er am Tod seines Bruders ja selbst Schuld und dieses schlechte Gewissen wird auch nicht kleiner, weil er auf dem Mars die Verantwortung für etwas übernimmt, was er nicht getan hat. Am Ende präsentiert die Autorin auch keine echte Lösung, sondern Mac steht weiterhin zwischen allen Stühlen. Bis dahin handelt es sich aber um die auf der menschlichen Ebene zugänglichste Geschichte dieser soliden, aber auch nicht herausragenden „Clarkesworld“ Ausgabe, deren Titelbild allerdings ein Augenfänger ist.