
Lavie Tidhars “Roman” “Central Station” setzt sich aus seiner Reihe von ursprünglich unabhängig in diversen Science Fiction Magazinen über einen Zeitraum von mehreren Jahren veröffentlichten Kurzgeschichten zusammen.
Der 1976 in Israel geborene und inzwischen auch in London lebende Lavie Tidhar hat in seinem umfangreichen Werk nicht nur immer die jüdische Kultur auf eine teilweise spielerische, manchmal auch sehr unpolitische, aber niemals die arabische Welt ignorierende Art und Weise eingebaut. Hinzu kommt ein melancholischer Schreibstil, der einige seiner in fiktiven Alternativwelt spielende Arbeiten – siehe “A Violent Century“ und vor allem „A Man lies Dreaming“ – nicht nur belebte, sondern vor allem angesichts des beschriebenen, leider auf realen historischen Ereignissen basierenden politischen Irrsinns dem Leser eine kleine Fluchtmöglichkeit geschenkt hat. Es lässt sich trefflich streiten, ob dieser Stil auch bei einem an Spielbergs Film „Terminal“ erinnernden Episodenroman passend ist. Aber wie an einigen anderen Stellen mit der fast klassisch zu nennenden Hommage an C.L. Moores Kurzgeschichte „Shambleau“ erweckt Lavie Tidhar von der ersten Seite an ein sehr ungewöhnliches Genre aus seinem Dornröschenschlaf.
Das Auftaktkapitel ist reiner Cyberpunk. Diese nur vordergründig technokratische, anonyme und vor allem „kalte“ Welt der achtziger Jahre, in denen virtuelle Welten immer bizarr und bedrohlich erscheinen mussten. Deren Protagonisten mit Sonnenbrillen und Lederjacken den Rocker am Ende der Straße ähnelten und doch wie im Film Noir verletzlich und fragil erschienen.
Mit wenigen Beschreibungen zieht der Autor seine Leser in diese Welt abseits der großen Ereignisse und doch irgendwo im Schatten der „Central Station“ auch im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit liegend. Central Station ist ein Weltraumbahnhof, ein klassischer Tor zu den Sternen, aber nicht über einen entsprechenden Fahrstuhl zu erreichen, sondern der Andockpunkt für die Gleiter, welche die Astronauten zu ihren Schiffen bringen oder sie wieder auf die Erde holen. Eine gigantische Konstruktion auf den Boden Israels, die inzwischen ein Eigenleben entwickelt hat.
Es geht nicht um die großen Triumphe und Tragödien im All. Das macht Lavie Tidhar mit der Rückkehr eines einfachen Mannes überdeutlich klar. Aufgrund einer enttäuschenden Liebe und vor allem keiner wirtschaftlichen Zukunft ins All geflohen kehrt er zurück und sieht zu seiner Überraschung seine Jugendliebe wieder, die einem aufgefundenen, inzwischen fünf Jahre alten Jungen die Basis zeigt. Dieser hofft, dass sein Vater irgendwann aus dem Tor tritt und er bei ihm leben kann, weil seine Mutter sehr früh gestorben ist. Schnell könnte diese Idee zu einem Klischee werden, aber Lavie Tidhar hat seine Figuren im Griff und nutzt diese zufällige Begegnung als Ausgangspunkt für eine Reihe von Familiengeschichten, deren „Kreise“ bis in die Mitte des im Grunde nur aus diesen Begegnungen bestehenden Plots immer weiter werden.
Es sind die Figuren, welche den Roman beleben. Da gibt es den weltfremden Bruder, der vor allem alte Pulps sammelt. Hefte aus Papier. Er hat eine kleine Buchhandlung. Es ist eine Oase, in welcher diese von der breiten Öffentlichkeit mit Verachtung und Ignoranz „belegten“ Abenteuer geliebt und vor allem gelesen werden. Diese Szene wirkt so archaisch, so fremd, ist aber für die weitere Entwicklung der Handlung auch wichtig. Denn viele der hier gesammelten Geschichten scheinen wahr zu sein, wobei Lavie Tidhar seinem Episodenroman mit ausführlichen Zitaten eines noch zu entstehenden Buches einen vergleichbaren, sehr offenen und leider nicht im Epilog abgeschlossenen Rahmen gibt. Dieses Überschneiden von fiktionaler Realität in seinen Büchern und der Idee, das parallel irgendwo diese Stoffe wieder zu einem Roman nicht selten auch von Inkarnationen seiner Protagonisten verarbeitet werden, findet sich in einigen seiner längeren Arbeiten. Sowohl „Osama“ als auch “A Man lies Dreaming“ implizieren diese Möglichkeit, wobei der Autor in „Central Station“ nach der Nutzung dieses Ansatzes auf den ersten Seiten nicht zu dieser Idee zurückkehrt und es sich selbst schwermacht.
Das Spektrum wird erweitert. Der zurückkehrende Raumfahrer will in erster Linie bei seinem im Sterben liegenden Vater sein, einem der Männer, der mit seinen Händen buchstäblich Central Station teilweise in schwindelerregender Höhe gebaut hat. Das Motiv, das die größten Leistungen immer wieder von einfachen Menschen vollbracht werden, zieht sich ebenfalls wie ein roter Faden durch nicht nur dieses Buche.
Boris Chong – wie der potentielle Freund, Vater und Sohn heißt – kehrt aber nicht alleine zur Erde zurück. In seinem Schatten folgt Carmel, eine Shambleau. Eine dieser mystischen weiblichen Vampirartigen Kreaturen, die allerdings auf der Erde mehr an Wissen denn an Blut interessiert ist. Es empfiehlt sich, C.L. Moore zeitlose Geschichte vorher zu lesen. In dieser Novelle wird die Identität Shamleaus und ihr „Fluch“ erst sehr spät im Handlungsverlauf offenbart. Lavie Tidhar ist einen Schritt schneller, aber alleine seine Beschreibung dieser mystischen, gefährlichen und doch auch verletzlichen Figur ist ein Höhepunkt dieses Buches und zeigt zusammen mit den Hinweisen auf die Pulpliteratur, wie stark Lavid Tidhar sein Buch im Genre selbst so stark verankert hat wie die Menschen Central Station im Schatten von Tel Aviv.
Carmel aber verliebt sich auf eine eigenartige und nicht erklärte Art und Weise in den angesprochenen Pulpliteraturliebhaber. Gemeinsam müssen als Detektive einer vagen Spur folgen, während eine weitere faszinierende surrealistisch erscheinende Figur – Der „Lord of Discarded Things“ in der Originalsausgabe so wunderschön nicht übersetzbar tituliert – in seinem Mühlplatz den Abwahl dieser anscheinend ihren Höhepunkt überschrittenen Zivilisation sammelt. Die meisten „Teile“ sind zerbrochen und diese Atmosphäre des Verfalls, der kontinuierlichen Zerstörung zieht sich durch den ganzen Roman.
Der Junge und seine Freunde sind in einer der wenigen nicht überzeugenden Wendungen übernatürlich begabt, wobei der Autor in dieser Hinsicht eher oberflächlich ambivalent argumentiert und ihre künstliche Zeugung im Reagenzglas als Ursache dieser Mutation impliziert.
Es ist eine erschöpfte Erde, welche der Autor im Kleinen mit sehr vielen Details entwickelt. Die Raumfahrt hat ihre Romantik verloren, vielleicht niemals in der Form der Pulpabenteuer erhalten. Das Leben und Arbeiten im All ist genauso hart und gefährlich wie das Überleben vor allem in den ärmeren Vierteln auf der Erde. Der technologische Fortschritt hat seinen Höhepunkt erreicht, die nächste Bewegung führt folgerichtig nach innen. Virtuelle Alptraumwelten; Symbiosen mit vom Mars stammenden Parasiten und schließlich Carmel als Vampirin, die in ihrer Gier auch Menschen aussagen und töten kann. Da Lavie Tidhar fast ausschließlich seine Geschichte aus der Welt der armen Menschen, der Rechtelosen erzählt, fehlt jegliche politische Ordnung.
Wie eingangs erwähnt hat der Autor seine Welt mit wenigen, aber kraftvollen sprachlichen Bildern erschaffen. Jetzt ist es am Leser, diesem kontinuierlichen Verfall zuzuschauen. Zwischen den Zeilen versucht Lavie Tidhar eine unmögliche Balance zwischen dem jüdischen Glauben mit seinen strengen Regeln inklusiv der Beschneidung eines Säuglings scheinbar in Form eines virtuellen Kammerspiels; einer Extrapolation gegenwärtiger sozialer Ungerechtigkeiten und der allgegenwärtigen Dominanz der „Central Station“ , die rückblickend eher wie ein magischer Anziehungspunkt für die Menschen erscheint denn als das nicht selten in der Science Fiction überzogene Sprungbrett nicht nur zu den Sternen, sondern einer besseren Zukunft.
Für einen Episodenroman bestehend aus den im Anhang der Originalausgabe aufgelisteten, aber sehr überarbeiten und eingepassten Kurzgeschichten fasst Lavie Tidhar die einzelnen Handlungsstränge am Ende sehr zufriedenstellend zusammen. Vielleicht liegt es daran, dass sich die einzelnen Protagonisten mit einer fast spielerischen, unauffälligen Leichtigkeit immer wieder im Grunde während ihres Alltags begegnen und sich daraus Episoden, aber keine dramaturgisch unrealistisch erscheinenden Abenteuer ergeben. Es ist ein ausgesprochen ruhiger Roman, der dank des kraftvollen emotionalen Stils seines Schöpfers auf Stimmungen setzt und dadurch überzeugen kann. Nicht selten finden sich die kleinen, aber guten Ideen in den Nebensätzen der Handlung wieder, währen die „Central Station“ in ihrer Dominanz zu erdrückend, zu befremdlich und damit auch zu distanziert erscheint.
Von seinen längeren Arbeiten ist „Central Station“ Lavie Tidhars atmosphärisch bester Roman, dessen Inhalt nicht so provokativ oder erschütternd ist wie bei „Osama“, „A Man lies Dreaming“ oder „The violent Century“, aber wie in seiner längeren Novelle „A Martian Sands“ unterstreicht der Autor, das er sich im Genre nicht nur wohlfühlt, sondern die Nebenaspekte der Science Fiction – wann stand schon die Bodenstation im Mittelpunkt eines Buches – aufnimmt, wohlwollend verfremdet und auf eine eindringliche, aber nicht aufdringliche Art und Weise der gegenwärtigen Lesergeneration immer mit einem wachen Auge auf die „Klassiker“ präsentiert.
- Format: Kindle Edition
- Seitenzahl der Print-Ausgabe: 288 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (9. Januar 2018)
- Übersetzung: Friedrich Mader
- Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
- Sprache: Deutsch
- ASIN: B071XRQHMW