Jules Verne und sein Werk

Jules Verne und sein Werk, Rezension, Titelbild
Max Popp

Mit der Ende 1908 und wahrscheinlich 1909 veröffentlichten Monographie über nicht nur Jules Vernes Leben und sein Werk, sondern einem Blick zurück in die Entwicklung des phantastischen Reiseromans und voraus zu Vernes „Nachfolgern“ präsentiert der Verlag Dieter von Reeken eine sehr seltene Ausgabe in einem qualitativ gewohnt sehr ansprechenden Nachdruck.
In seinem Nachwort weist der Herausgeber darauf hin, dass es inzwischen auf deutsch eine Reihe von Biographien über den französischen Autoren gibt und Volker Dehs umfangreiche Arbeit als Standardwerk angesehen werden kann. Trotzdem hat diese kurze Studie einen besonderen Reiz. Sie ist kurz nach Jules Vernes Tod in einer Zeit erschienen, in welcher das Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen schon wieder als angespannt angesehen werden kann. Sie ist in einer Zeit veröffentlicht worden, in der es wieder chic gewesen ist, deutsch zu denken. Nicht umsonst wirkt der Hinweis auf eine Eindeutschung des Julius Verne vor allem aus heutiger Sicht befremdlich. Max Popp geht aber auch immer wieder auf die Abneigung Jules Verne gegenüber den Deutschen ein. Spätestens nach dem verlorenen Krieg 1870/1871. Da hilft es nicht, da der Kaiser als Jugendlicher ein Fan von Jules Vernes Büchern gewesen ist. Auch wenn im Verlaufe der Biographie der Autor immer wieder die Globalisierung des Werkes Vernes vor allem in Hinblick auf meistens außerhalb von Frankreich spielenden Geschehnissen hinweist, es wirkt teilweise bemüht, aus dem populären Franzosen auch noch einen Deutschen gegenüber freundlichen Schriftsteller zu machen.

Vor allem aber ist dieser kurzweilig zu lesende Text eine lange Hymne an einen Schriftsteller, der Max Popp als Mann der Agrarwissenschaft anscheinend sein Leben lang fasziniert hat. Wie einige von Jules Vernes Helden – siehe hier vor allem „Nemo“ mit seinen Unterwassergärten – hat sich Max Popp Zeit seines Berufslebens mit der perfekten Düngung, der Erhöhung der Produktivität der Böden auseinander gesetzt. Neben dieser Studie über Jules Verne hat Max Popp vor allem Fachbücher und Fachartikel geschrieben.
Nach seinem euphorischen Vorwort setzt sich der Autor auf den nächsten Seite sehr prägnant, auf zahlreiche teilweise direkt aus Jules Vernes Umfeld zurückgreifende Quellen mit dessen Leben auseinander. Es ist wie es sich für fannische Monographien gehört eine Hymne an die Originalität des Autoren und gleichzeitig eine Studie in menschlicher Bescheidenheit. Max Popp fasst die wichtigsten Stationen in Jules Vernes Leben effektiv zusammen. Ein am Leben und Werk des Franzosen interessierter Mensch kann diese Studie als Einstieg nehmen. Dabei erkennt der Jules Verne Fan allerdings auch, dass Max Popp teilweise ein wenig blind und naiv auch Fakten verschoben hat. So hat Jules Verne gleich mit der Veröffentlichung seines ersten Buches „Fünf Wochen im Ballon“ einen entsprechenden Vertrag über viele Jahre mit seinem Herausgeber unterschrieben. Es ist aber ihm wie einigen anderen deutschen Kolportageautoren auch zu einer Last geworden, immer wieder per Termin zu „liefern“. Da hilft auch wenig seine an den Tagesablauf eines Beamten erinnernde Arbeitsweise.
Auch ignoriert Max Popp, dass natürlich manche wissenschaftliche Fakten mit viel Phantasie ausgeschmückt worden sind, aber auch nicht jedes Buch Jules Vernes ein Meisterwerk aus sich heraus ist.
Neben Jules Vernes Leidenschaft für die Seefahrt und seine Arbeiten im Parlament seiner kleinen Heimatstadt finden sich Verweise auf zwei vom Franzosen initiierte und auch bezahlte Maskenbälle, sowie einige Begegnungen mit wichtigen Persönlichkeiten. Sein Tod, natürlich in Würde ertragen, rundet diese stilistisch sehr getragene, aber effektive kurze Einführung in Jules Vernes Leben zufrieden stellend ab. Sie ist mit seltenen Bildern gut illustriert.
Ganz bewusst und folgerichtig hat Max Popp seine Studie aber in zwei große Bereiche aufgeteilt. Das Leben Jules Vernes schließt er mit dem Hinweis, dass noch Gelder für ein Denkmal gesammelt werden müssen und fügt eine für die damalige Zeit und die Distanz der Recherche erstaunlich vollständige seiner Veröffentlichungen ab.
Anschließend unterbricht Max Popp seine Monographie und erweitert sie gleichzeitig. Bevor der Autor auf die Besonderheiten in vielen Jules Verne Romanen und Kurzgeschichten eingeht – im Lebenslauf finden sich in dieser Hinsicht nur Fragmente – ordnet er sie literaturhistorisch durchaus mit kritischen Anmerkungen den Vorgängern und Nachfolgern gegenüber ein.
Dabei spielt nicht nur die Geschichte des phantastischen Reiseromans eine wichtige Rolle. In diesem Punkt kann seine Monographie höchstens als Inspiration und Vorläufer von Jakob Bleymehls „Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der utopisch phantastischen Literatur“ – ebenfalls in einer bemerkenswerten Ausgabe von Dieter von Reeken nachgedruckt worden – angesehen werden. Der Autor streift in erster Linie die Standardwerke. Erweitert wird Max Popps Spektrum aber durch die Arbeiten von Edgar Allan Poe, den er nicht nur hinsichtlich seiner Detektivromane, sondern auch der beschriebenen Expeditionen in ferne, mehr und mehr fiktiv werdende Länder als ein Vorbild Jules Vernes ansieht. Nicht umsonst hat der Franzose auch eine Novelle/ Kurzgeschichte des Amerikaners weiter geführt.

Anschließend folgt ein Überblick über die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, mit denen ja viele von Jules Vernes Romanen in einem direkten oder indirekt extrapolierenden Zusammenhang stehen. Max Popp weist darauf hin, dass Jules Vernes Werk in dem historischen Kontext seiner Entstehung gesehen werden muss und das die Wissenschaft einige seiner Extrapolationen inzwischen bestätigt oder verworfen hat. Dabei geht der Deutsche sehr geschickt vor. Immer wieder stellt er in den Bereichen der Astronomie, der Naturwissenschaften oder der Aeronautik den allgemein gültigen Stand der Forschung zu Jules Vernes Zeit – es liegen durchschnittlich dreißig Jahre zwischen dem Entstehen der Romane und Max Popps Monographie, schon damals eine wissenschaftliche Unendlichkeit – seinen phantastischen Reiseromanen gegenüber. Dazu zitiert er dessen Erfindungen ausführlich und prüft sie gegen die inzwischen vorliegenden weiteren Studienergebnisse. Beim Schuss mit der Kanonenkugel zum Mond muss sich Max Popp allerdings auch verbiegen, um hinter Jules Vernes phantastisch ironischer Idee aber auch ein wissenschaftliches Konzept zu entdecken. Bei anderen Arbeiten wie die Entführung auf einen Kometen hat es der Autor deutlich einfacher. Er ignoriert die wissenschaftliche Unmöglichkeit. Abgerundet wird diese interessante wie lesenswerte Gegenüberstellung vor allem auch durch die historischen Geschichten, die Familiendramen, die Jules Verne neben seinen bekannten Robinsonaden verfasst hat. Manche Idee, wie der Erwerb einer Insel oder die Entstehung der schwimmenden Produktionsstadt hat die Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts erst nach Jules Vernes Tod eingeholt.
Vielleicht tut Max Popp schon beginnend während des biographischen Teils Jules Verne auch Unrecht, in dem er behauptet, der Autor habe vor allem die einzelnen wissenschaftlichen Ideen mit dreidimensionalen Figuren verbunden und dann wie eine Skizze angefangen mit den einzelnen Kapitelüberschriften seine Texte entwickelt. So mechanisch sind wie weder im 19. noch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts erschienen. Viel mehr hat sich ja Jules Verne Ideen und technische Erfindungen auf mehr als 20.000 Notizzetteln notiert, um sie bei Bedarf in seinen nicht selten auch schnell herunter geschriebenen Büchern zu verwenden. Auch eine andere Note ist interessant. Während Max Popp Jules Verne gegen Ende seiner Laufbahn als „ausgeschrieben“ und „erschöpft“ ansieht, ist es bei einer umfassenden Betrachtung seines Werkes eher so, dass Jules Verne wie sein Kapitän Nemo dem Menschen gegenüber immer kritischer und distanzierter, seine Bücher pessimistischer, dunkler und sozialkritischer geworden sind. Da agiert kein Kapitän Nemo mit seiner indisch adligen Herkunft mehr, sondern ein „Robur, der Eroberer“, dessen Ziele eine überzogene, aber pointierte Reflektion des politischen Machtsstrebens vor allem in Europa in der Zeit ist, in welcher Jules Verne das Buch veröffentlicht hat.

Im letzten Abschnitt geht Max Popp auf die Texte ein, welche den utopisch phantastischen Faden Jules Vernes weiter tragen. Dabei ordnet der Autor sie nach Themen. Belustigend erscheint der Querverweis auf Doyles Sherlock Holmes, der als „Chemiker“ Kriminalfälle löst und dabei von Edgar Allan Poes Pym inspiriert worden ist. Auch erscheint es unwahrscheinlich, dass der mehr und mehr erblindende Jules Verne die wichtigsten Werke von H.G. Wells selbst gelesen hat.
Ansonsten folgt Max Popp dem Schema, das er in der Gegenüberstellung wissenschaftlicher Fakten und Jules Vernes Romanen etabliert hat. In erster Linie werden Bücher vorgestellt, die auf deutsch erschienen sind. Dabei spielt ihre Herkunft weniger eine Rolle. Viele der deutschen Texte wird der Leser inzwischen auch aus Dieter von Reeken umfangreichen Nachdruckprogramm – Hoffmann, Grunert, Lawitz – kennen. Ein wenig zu sklavisch an Jules Verne überzogenen literarischen Geist und zu langem Schatten hängend versucht Max Popp die Stärken und natürlich Schwächen der einzelnen Autoren herauszuarbeiten, wobei insbesondere Grunert und Lasswitz im Gegensatz zum eher unbeschwerter abenteuerlicher schreibenden Jules Verne noch sehr gut wegkommen. Bei einigen seltenen Werken finden sich ausführlichere Inhaltsangaben.
Unabhängig von der engen Bindung an das eher phantastische und weniger utopische Werk des Franzosen gibt dieses Abschlusskapitel einen weiteren Überblick über die Science Fiction Veröffentlichungen in Europa bzw. schwerpunkttechnisch Deutschland. Ohne Frage sind noch einige Bücher zu entdecken.
Was entschuldigend den Wert der utopischen Literatur noch einmal herausstellend verabschiedet sich Max Popp von seinen Lesern. Zusammengefasst ist „Jules Verne und sein Werk“ eine sehr bewundernswert minutiös und detailliert zusammengestellte und euphorisch recherchierte Arbeit, die stilistisch dem Zahn der Zeit geschuldet, sehr gut unterhält und vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nur wenige Jahre vor dem Schrecken des Ersten Weltkriegs einen schwärmerischen, unschuldigen Blick auf Jules Vernes Werk wirft und dem Zeitgeist geschuldet einen gelungenen Überblick über die heute fast gänzlich vergessene utopische Literatur hinzufügt, so dass „Jules Werk und sein Werk“ nicht nur für Anhänger des Franzosen in dieser schön gestalteten Ausgabe mehr als einen Blick wert ist.

  • Gebundene Ausgabe: 215 Seiten
  • Verlag: Verlag Dieter von Reeken
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3931997081
  • ISBN-13: 978-3931997083
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