
Nnedi Okorafors „Lagune“ ist ein ungewöhnlicher „First Contact“ Roman, der beginnend mit seinem exotischen Hintergrund – der Stadt Lagos in Nigeria – mehr und mehr zu einer sozialen Studie der gegenwärtigen afrikanischen Gesellschaft und ihrer Exzesse wird. Dank ihrer lebendigen Figuren und einer verschachtelten Struktur erweitert die Autorin kontinuierlich den Handlungskreis, bis sich die Welt beginnend mit Lagos in grüner Manier zu verändern beginnt.
Kritisch gesprochen gehören die klassischen Science Fiction Elemente des Buches zu den schwierigsten Passagen. Die Autorin bleibt in vielen Punkten zu ambivalent und orientiert sich auch ein wenig an den klassischen Vorlagen wie Robert Wises „Der Tag, an dem die Erde stillstand“, ohne zu belehrend zu agieren und vor allem paramilitärische Drohungen der ohne Frage impliziert technologisch überlegenen Außerirdischen in die Handlung einzuflechten.
Von Beginn an sind diese Fremden – stellvertretend steht für sie die Frau/ das Wesen Ayodele – nicht nur wie sie sagen an einem friedlichen Austausch interessiert. Sie suchen für sich Lebensraum, wobei ihr gigantisches, anscheinend lebendiges Raumschiff im Meer vor Nigerias Küste abgestürzt ist. Sofort beginnen sie, das Meer vom Unrat der Menschen zu reinigen. Es entstehen wieder Lebensformen, die anscheinend seit Jahrzehnten nicht mehr in den Gewässern gelebt haben. Mit einer Flutwelle, ausgelöst durch den Absturz des Raumschiffs, werden nicht nur die Leben und Schicksale dreier sehr unterschiedlicher, auch teilweise für den Zwiespalt der gegenwärtigen nigerianischen Kultur stehender Menschen miteinander verbunden, aus dem Meer steigt das Wesen Ayodele als eine Art Heilsbringer. Es stellt sich der Meeresbiologin Adora, dem in Afrika berühmten Rapper Anthony und schließlich dem Soldaten Agu vor. Alle drei Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen in dieser Nacht an den Strand von Lagos gegangen, um alleine zu sein. Auch wenn Ayodele sich anfänglich in Adoras Haus versteckt hält, will sie sich den Menschen zeigen. Ihre Botschaft ist relativ simpel. Sie sind gekommen, um positiv zu helfen und einen Lebensraum für sich zu finden. Sie wollen weder kontrollieren noch dominieren. Sie wollen aber die Mensche leiten, ihnen Alternativen aufzeigen und so das Leben in der chaotischen Stadt Lagos angenehmer machen. Ayodele ahnt nicht, welches Chaos sie mit ihrer Botschaft auslöst.
Hinsichtlich der Fremden bleibt Nnedi Okorafor ambivalent. Sie nutzt immer wieder die moderne Mediengesellschaft, die es ermöglicht, sie zu einer Person des öffentlichen Interesses zu machen und vor allem Neid, Hass, Missgunst, aber auch Bewunderung und Hoffnung in den Menschen auszulösen. Ihre Kräfte sind nicht messbar. Ayodele kann Menschen in Tiere verwandeln, ist selbst ein Gestaltswandler und verfügt über die Fähigkeit, sich am Ende opfernd zu vervielfachen. Sie ist aber auch nur ein Handlanger einer großen im Hintergrund stehenden und höchstens eindimensional gezeichneten "Macht". Vielleicht ein wenig frustrierend hält die Autorin in dieser Hinsicht den Vorhang zu und lässt ihre Protagonisten diese Begegnung mit der nächsten Instanz schlicht und einfach durch Löschung des Gedächtnisses vergessen. Auch die Opferung Ayoeles erinnert wie eingangs erwähnt anden pazifistischen Weg, den der Fremde in „Der Tag, an dem die Erde stillstand“ gehen musste. Allerdings verlässt sie sich nicht alleine auf eine Geste, sondern dringt in viele Menschen ein.
Die ohne Frage auch manipulierende Veränderung der inneren Einstellung allerdings von außen soll die alten Seilschaften aufbrechen und beginnend mit einem geheilten, plötzlich Initiative zeigenden Präsidenten Nigerias stellvertretend Afrika und vielleicht auch die ganze Welt zu neuen Ufern führen.
Neben den Charakteren ist diese moderne, zeitlose und dich auch irgendwie an die Vernunft der Menschen appelierende simple Botschaft wahrscheinlich die eigentliche Stärke des Romans. Die Landung der Fremden, der First Contact sind nur ein notwendiger Katalysator, um den Schmelztiegel dieser faszinierenden wie abstoßenden Stadt zu reinigen. Es beginnt im Kleinen, wenn die „Christen“ sehen, dass ihr Guru im Grunde auch nur ein Mensch mit vielen Fehlern ist. Wenn die Menschen in den Vierteln erkennen, dass sie gemeinsam stark sind und endet schließlich bei der Politik, wenn der Präsident von einem Herzleiden geheilt den Entschluss fasst, die allgegenwärtige Korruption effektiver zu bekämpfen und sich nicht mehr manipulieren zu lassen. Bislang sind alle seine Pläne an der Anpassungsfähigkeit der Mitglieder seiner Regierung hinsichtlich dunkler Geschäfte gescheitert.
Für diese Richtungen stehen auch die drei Protagonisten, welche als erstes Ayodele begegnen. Um sie herum hat die Autorin aber einen weiteren Kreis von interessanten, dreidimensionalen Figuren erschaffen, deren Handlungen und Reaktionen sich gegenseitig bedingen. Der auf den ersten Blick farbenprächtigste Protagonist Anthony ist vielleicht der schwächste Charakter. Gegen den Willen seiner Mutter ist er in Amerika Rapper geworden. Ein Rapper mit einem Sendungsbewusstsein. Er „schützt“ durch seine Popularität schließlich Adaoras Haus, aber im Handlungsrahmen dient er eher als Staffage.
Agu ist ein Soldat mit einem Gewissen. Er hat seine Kameraden und seinen Vorgesetzten niedergeschlagen, als diese eine betrunkene Frau – ihr Schicksal wird später auch aus der Perspektive ihres Bruders beschrieben – nachts mit ihrem Auto angehalten haben, um sie zu vergewaltigen. Agu ist in einem Problemviertel aufgewachsen und hat gehofft, dem langen Schatten der Bandenkriminalität durch das Militär zu entkommen. Er muss erkennen, dass das Militär im Grunde wie die Gangs nur in Uniform agiert. Sein Vorgesetzter lässt ihn verhaften, anstatt ihm zuzuhören. Diese Szene endet in einer der wenigen nicht überzeugenden Passagen mit einer „Deus Ex Machina“ Rettung. Am Ende ist Agu ein Mensch, der für die neuen Ideale streitet und eine Generation junger Menschen in Nigeria vertritt, die bislang positive Veränderung wollten, aber es niemals konnten. Die Wandlung, dieser Drang, positives zu tun, ist früh in der Figur angelegt. Agu fehlen aber die Ecken und Kanten, welche zum Beispiel den Rapper Anthony in einigen wenigen, sehr gut zu lesenden Abschnitten des Romans auszeichnen.
Die interessanteste Figur ist Adaora. Sie ist Meeresbiologin. Sie hat in den USA studiert und sie ist wieder nach Lagos zurückgekehrt. Sie ist verheiratet mit Chris, einem Buchhalter für einen globalen Konzern, der nach einem turbulenten Flug Gott für sich entdeckt hat. Sie haben zwei Kinder und eine Haushälterin. Sie vertreten eine neue obere Mittelschicht in Nigeria. Auch wenn sie inzwischen vermögend sind und sich einiges leisten können, sind sie weiterhin in ihren Standesdünkeln gefangen. Am Abend der Landung hat Chris seine Frau in einem Streit geschlagen. Er sieht in ihr eine Art Meereshexe. Dieser Brückenschlag zu den Mythen Nigerias ist nicht falsch, lenkt aber von den zwischenmenschlichen Problemen auch ab. Adaora ist eine intelligente, eine starke Frau, die ihren Mann liebt und doch sich aber auch nicht unterdrücken lassen möchte. Ihre charakterliche Entwicklung durch die Begegnung mit der Fremden ist einer der lesenswerten Züge dieses Buches. Vor allem weil die Autorin keine Happy Ends anbietet und die inzwischen familiären Krater nicht überdecken möchte.
Um diese drei Menschen herum hat die Autorin wie eingangs erwähnt eine Reihe von interessanten Figuren platziert. Ihre Haushälterin, die an ihren Freund Videos von der Fremden „verkauft“; weil sie glaubt, das er sie heiraten möchte. Eine junge Frau, die als Sekretärin und Prostituierte arbeitet, weil sie hofft, aus dem Loch herauszukommen und reich zu heiraten. Der weiße christliche Priester mit seinen dogmatischen Lehren, der alle Andersdenkenden als Ketzer verurteilt. Der Präsident, der herzkrank und amtsmüde ist. Seine zurückhaltende Frau mit ihren Vorurteilen. Die Mitglieder einer Gang, von denen einer Frauenkleider trägt. Die Entdeckung seines Geheimnis führt zu einem Bruch zwischen Menschen, die sich seit der Kindheit kennen.
Und natürlich allgegenwärtig Lagos. Wie Ian McDonald mit seinen in einem futuristischen Indien oder dem exotischen Brasilien spielenden Science Fiction Romanen ist es das lebendige, das so fremdartige und doch faszinierende gegenwärtig konträr erscheinende Afrika, das im Mittelpunkt des Buches steht. Nicht nur die Autoren bewundert in ihrem Nachwort die Stadt. Auch ihre Protagonisten können sich trotz aller Gefahren oder Abscheu nicht von diesem afrikanischen Moloch lösen. Die Befreiung, der Drang zur Veränderung kann nur von außen über die gedankliche Theorie hinaus angestoßen werden. Im vorliegenden Buch durch die Landung der Fremden. Aber Veränderungen tragen auch Risiken ins sich. Vielleicht trägt der Plot diesen Risiken am Ende zu wenig Rechnung, vielleicht wirkt manche Wendung zu stark konstruiert, aber alleine den gegenwärtigen Zustand zu beschreiben und gleichzeitig Hoffnung zu schenken, ist eine der Kernbotschaften dieses Romans.
„Lagune“ ist anscheinend absichtlich die Klischees des Genres extrapolierend, sie aber gleichzeitig auch respentierend und beginnend mit ihren dreidimensionalen Figuren eine unglaublich lebendige, eine lesenswerte hintergrundtechnisch originelle immer auf Augenhöhe der Afrikaner durchaus kritisch mit ihren Schwächen umgehende, aber auch ihre Stärken betonende Geschichte, die auch durch die bemerkenswerte, sich mehr und mehr wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammensetzende Struktur überzeugen kann. Greg Ruth hat diese Stimmungen auch in seinem auffälligen, den Betrachter förmlich einsaugenden Titelbild zusätzlich eindrucksvoll umgesetzt.
Erscheinungsdatum: 11.10.2016
Verlag Cross Cult
Übersetzung von Claudia Kern