Die Zeitläufer

Wilko Müller jr, die Zeitläufer, Titelbild, Rezension
Wilko Müller jr.

Wilko Müller jr. hat immer wieder betont, dass „Die Zeitläufer“ eine Art Schlüsselstellung in seinem Werk einnehmen. Das Buch ist zum ersten Mal 1994 veröffentlicht worden. Inzwischen liegt in Kooperation mit Renald Mienert grundlegend überarbeitet und erweitert das Buch als handlicher Paperback wieder vor. Auch wenn das Titelbild von einem Science Fiction Roman spricht, handelt es sich wie der Fantasy Zyklus um Stronbart Har“ eher um Phantastik nicht nur mit mystischen Einschlägen wie der allgegenwärtigen, aber nicht natürlich entstandenen Energie, sondern um ein Buch, das seine Erklärungen teilweise  wo anders sucht. Das mag vor allem in der vorliegenden Form ein wenig stilistisch unbeholfen erscheinen – so gibt es „das Ding“, eine Entität, dessen Ursprung erst in einem anderen Buch „Mandragora“ deutlich umfassender erläutert wird -, lässt sich aber akzeptieren. In einem Vortrag hat Wilko Müller erläutert, das „Die Zeitläufer“ nicht nur parallel zu dem zwei Jahre vorher begonnenen „Stronbart Har“ begonnen worden ist, sondern das vor allem für die zahlreichen unabhängig veröffentlichten kürzeren Texte eine Art Rahmen gesucht werden musste. Diese Kurzgeschichten sind immer noch zu erkennen und wirken teilweise ein wenig in der Gesamtkonzeption wie Fremdkörper, da sie nicht nur von unterschiedlicher Qualität oder konträren thematischen Ansätzen sind, sondern vor allem, nicht immer wirklich nachhaltig interessant genug erscheinen, um eine alleinige Episode zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite hat Wilko Müller mit seinem umfassenden Rahmen aber ein Korsett erschaffen, an dem sich einige andere Werke wie „Das Haus“ – auch hier geht es schließlich um den Übergang zu anderen Dimensionen bzw. Planeten -  orientieren.

Die Konzeption ist herausfordernd und selbst in der überarbeiteten Fassung sind nicht alle Komponenten abschließend miteinander verbunden. Vor allem leidet das Buch ein wenig zu stark unter der zu Beginn erschaffenen Idee, das das Zeitalter der Magie zu Ende gehen wird. Diese Erkenntnisse beschreibt Wilko Müller 1500 Jahre vor der „Jetztzeit“. Die Magier inklusiv eines Vertreters der Kirche rufen eine letzte Konklave ein. Ein eigentlich aufgrund der nur noch latent vorhandenen Magie gefährlicher Blick in die Zukunft zeigt, dass einige Kinder wieder die magischen Kräfte entdecken.  Katalysator ist dabei die geheimnisvolle Entität, die Magie als eine Art Test für die Menschen einsetzt und sie ihnen auch wieder entziehen kann. Wilko Müller greift diese Idee immer wieder in Form einer distanzierten Off- Erzählung auf und nähert sich dann von der Fantasy Seite den Aspekten, welche die frühen „Star Trek“ Episoden mit ihren gottgleichen und doch mit Fehlern behafteten Seiten immer wieder angesprochen haben. Durch die eher ambivalente Beschreibung dieses „Dinges“ fehlt dem Roman aber in dieser Hinsicht die Balance. Der Autor deutet immer wieder die Intentionen dieses Wesens an. Dabei reagiert es vor allem auf das Verhalten der nicht magisch begabten Menschen, die es eigentlich deutlich besser kennen müsste. Es ist schade, dass dieser Teil des Rahmens nicht besser in den wichtigen Handlungsebenen eingebaut worden ist. Die Vergangenheitsebenen mit ihrer schwindenden Magie, einer spürbaren Melancholie und einer Zeit des Abschieds hätten durchaus ausgebaut werden können, zumal einige der Magier mit ihren gegensätzlichen Persönlichkeiten zu kurze Auftritte haben. In der Gegenwart dagegen agieren sie zwar immer wieder mehr oder minder am Rand des Geschehens und positiv umschifft Wilko Müller die üblichen Klischees eines „Fisches außerhalb des Wassers“ und baut sie dann gut in die laufende Handlung ein, aber der Anfang mit seinen zu vielen Handlungsebenen und einer Art Informationsüberflutung bietet selbst in der vorliegenden überarbeiteten Form immer noch zu wenig inhaltlichen Fluss an und könnte ohne Probleme geschmeidiger, emotionaler und schließlich auch aus sich selbst heraus angesichts der bekannten, aber noch nicht ausgeschriebenen Thematik tiefergehender entwickelt werden.  

 In der Gegenwart erkennen eine Reihe von normalen Bürgern – nicht nur Kinder sind gemeint – ihre eher paranormalen Fähigkeiten. Wilko Müller und Renald Mienert decken dabei ein sehr breites Spektrum ab. Dabei sind es nicht immer nur „natürliche“ Fähigkeiten, über welche die Menschen verfügen. Es reicht alleine, dass magische Sprüche aus den entsprechenden alten Büchern aktiv eingesetzt werden. Einige der Texte wirken wie gewöhnliche Rachegeschichten mit einem perfiden Ende. Bei anderen Geschichten verweisen die Autoren durchaus auf die Risiken, die Stephen King schon mehrfach in Büchern wie „Friedhof der Kuscheltiere“ aktiv heraufbeschworen hat. Hinzu kommt, dass neben der spürbar kritischen Auseinandersetzung mit der Wendepolitik und den Folgen vor allem wie den DDR Arbeitsmarkt genau wie die anscheinend nicht tot zu kriegende Bürokratie die Autoren immer wieder auf einige gewalttätige Exzesse wie das Bombenattentat auf ein neu eröffnetes Kaufhaus hinweisen. In der Zeit fast alltäglicher Gewalt in den europäischen Hauptstädten wirken diese Szenen unangenehm realistisch, aber trotz der Idee der Zeitreise und der teilweise selbstironischen Heraufbeschwörung von Gefahren schließen die Autoren die einzelnen Episoden nicht zufriedenstellend ab. Nicht immer sind es die Schuldigen, welche durch Magie bestraft werden. Wenn die Exfrau quasi mit ihrem untreuen Gatten abrechnen will und auch noch die neue Freundin im falschen Moment zu früh von einer Reise zurückkommend am falschen Ort ist, dann erscheint diese offensive Nutzung von Magie genauso opportunistisch wie die Zugreisende, welche im Nachbarabteil ihren Exfreund mit seiner neuen Freundin bestrafen will und dabei die Falschen erwischt. So unterhaltsam diese Episoden auch sind, sie müssten besser in den großen Plan eingepasst werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob das plötzliche Aufkommen von Magie durch das Ding die dunklen Seiten der Menschen animiert und deswegen kontraproduktiv wird oder die Kinder schließlich eine Art ausgleichendes Element darstellen könnten. Alleine eine bessere Strukturierung und vor allem intensivere Einbindung der zu vielen Charaktere in die Haupthandlung hätte „Die Zeitläufer“ in diesem wichtigen Mittelabschnitt interessanter und vor allem kompakter erscheinen lassen. Wie bei einigen anderen Wilko Müller Romanen ist das ein wenig zu offene Ende pragmatisch wie fatalistisch zu gleich. Auf der einen Seite haben sich die Magier in der Vergangenheit hinsichtlich der Konsequenzen der wieder erstarkten Magie deutlich geirrt. Auf der anderen Seite wird quasi eine zu einfache, in erster Linie die Kinder umfassende Lösung präsentiert, während die Erwachsenen mit ihren Zauberbüchern nicht weiter angesprochen werden. Diese Vorgehensweise wirkt zu einfach, zumal die komplexe Grundidee mit der Magie in enger Kombination mit dem die verschiedenen Schauplätze aus der relativen Distanz beobachtenden Dinges  sehr viel mehr Potential enthält als Wilko Müller zu heben bereit ist. Vielleicht hätte es dem ganzen Mosaikroman im Vergleich zu einer Episodengeschichte gut getan, wenn die Autoren auf einige der Episoden zu Gunsten einer deutlich komplexeren Grundgeschichte verzichtet hätten.

Stilistisch sehr klar strukturiert, vielleicht manchmal ein wenig zu emotional und vor allem Variationen des Tempos vermissend lebt der Roman von den unterschiedlichen, zu vielen Charakteren. Die Autoren geben sich redlich Mühe, den einzelnen Protagonisten eigenständige Persönlichkeiten zu geben und mit einigen sozialen Klischees zu spielen. Rückblickend sind es aber zu viele Charaktere, die kurze Momente in der Handlung durchaus ausführlich vorbereitet verbringen, um dann im nächsten Augenblick meistens gewaltsam wieder zu entschwinden. Da sich dieser Szenenaufbau zu oft wiederholt, wirkt vor allem der Mittelteil von „Die Zeitläufer“ statischer als er es bei einer genaueren Betrachtung ist.     

Ohne Frage ist „Die Zeitläufer“ einer der Schlüsselroman in Wilko Müllers Werk, das er über die Jahre mehr und mehr miteinander verwoben hat. Ohne Frage verfügt das Buch über sehr viele interessante Ansätze wie die Idee, dass 1500 Jahre in der Zukunft die Magier durch einen kleinen Fehler im Raumzeitkontinuum nicht in der Gegenwart, auf der dem Leser bekannten Erde landen, sondern kleine Unterschiede auf eine Parallelwelt hinweisen. Das abschließend die Kinder fast wie in Baxter/ Pratchetts später veröffentlichten Serie um „Die lange Erde“ unendlich viele Möglichkeiten haben und das ihr Abschied gleichzeitig ein neuer Beginn ist. Wie „leicht“ es Magie den Menschen macht könnte, ihre in erster Linie niederen Instinkte auszuleben und die natürlichen Grenzen auszudehnen. Wie stark die Angst vor der Jahrtausendwende gewesen ist. Wie schwierig die sozialen Umwälzungen vor allem in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung gewesen sind und wie sehr vielleicht auch aus Frust und Enttäuschung der Autor für seine Mitmenschen geschrieben hat. Das sind alles interessante Aspekte, welche die besseren Episoden dieses ohne Frage ambitionierten, aber immer noch unvollständigen, nicht in sich selbst ruhenden Mosaikromans auszeichnen. Dazwischen finden sich zu viele Füllaspekte mit Protagonisten, welche dem Leser nicht wieder begegnen und vor allem einer viel zu hektisch gerafften Handlung, die vor allem angesichts der zahllosen nicht abschließend extrapolierten Ideen viel mehr Raum verdient als es diese zu stark an ein Korsett erinnernde Struktur zulässt. Wer sich intensiver mit Wilko Müllers Werk auseinander gesetzt hat, wird sehr viel Freude an den zahlreichen Querverweisen wie auch der Nutzung aus anderen Büchern wie zum Beispiel „Der Zauberer aus dem All“ bekannten Persönlichkeiten finden.      

 

 

Paperback, 288 Seiten
Edition SOLAR-X 2005
ISBN 978-3-86237-626-1