Nach „Quantum“ legt der Piper Verlag den zweiten Roman Hannu Rajaniemis auf Deutsch vor. Im Original heißt „Fraktal“ „The Fractal Prince“ und unterstreicht so die implizierte Anlehnung an die Märchen aus tausendundeiner Nacht in einer fernen Zukunft, die vom Autor so bizarr wie möglich teilweise absichtlich zu Lasten des Plots erzählt wird. In „Quantum“ orientierte sich der Autor an einer sehr stringenten, fast absichtlich karg erzählten Grundstory eines geschickten Meisterdiebes, der zusammen mit farbenprächtigen Charakteren auf einer gefährlichen Mission nicht nur an die Wurzeln des bekannten Universums stößt, sondern viel über die eigene Vergangenheit erfährt.
Für Neueinsteiger empfiehlt es sich, nicht die wahrscheinlich als Trilogie geplante Geschichte Jean Le Flambeurs mit „Fraktal“ zu beginnen, sondern „Quantum“ zu erst zu lesen. Rajaniemi erwartet zu viel von seinen Lesern und versucht auf diesen Informationsüberfluss aufbauend seinen Erstling zu überbieten. Dabei agiert er überambitioniert und versucht auf vielen Hochzeiten zu gleich zu spielen. Die Stärke des Erstlings bestand aus einer fast perfekten Balance aus einem charismatischen Helden, der im Grund aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit ein Antiheld sein müsste; einer bodenständigen Handlung, die nur durch Rajaniemis experimentelle Erzählweise bizarr erschien; ausreichend politischen Anspielungen, um den Hintergrund zu beleuchten und schließlich einer klassischen Quest. „Fraktal“ scheint alle diese Aspekte ebenfalls zu beinhalten und wirkt trotzdem unruhiger. Der Leser hat stellenweise das Gefühl, als habe sich Rajaniemi auf der Suche nach dem zweiten intellektuellen Blitzschlag ausgeschrieben. Anstatt ab und zu relevante Informationen wie das Auftauchen der Sobornost Flotte mit einfachen Worten zu beschreiben und von dieser Ausgangsprämisse ausgehend die Handlung voranzutreiben, überfüllt der Autor die folgenden Sätzen mit kritisch gesprochen nicht relevanten Informationen und verliert im Zuge des sich anfänglich phlegmatisch nach vorne entwickelnden Plots wichtige Bezugspunkte aus den Augen. Gleiches gilt für die Politik hinter den Kulissen. Nur Anspielungen und Querverweise reichen im Vergleich zum ersten Roman nicht aus, um den Leser zu befriedigen. Dieser ist ihn Flambeurs Welt eingetaucht und will jetzt mehr wissen. Diese Informationen verweigert der Autor kontinuierlich seinen Lesern. Während die Motive der Sobornosts nicht weiter extrapoliert werden, fehlt das zutiefst humanistische Element des ersten Buches.
Flambeur soll im vorliegenden Roman den ersten Klon eines Sobornost Gottes stehlen, in dessen virtuellen Sphäre sich ein legendäres Artefakt befinden soll, das natürlich den Schlüssel zur Unsterblichkeit beherbergt. Ihm zur Seite steht wieder Mieli und ihr Raumschiff. Das Problem dieses weiteren Coups liegt in den Details versteckt. Rajaniemi hat sich so in seine Figuren verliebt, das er ihnen kontinuierlich und literarisch nicht uninteressant ausgesprochen schöne Dialoge auf den Leib schreibt. Wenn über Schrodinger´s Katze und virtuelle Geister in der Kiste philosophiert wird, folgt der Brückenschlag zu ersten Begegnung mit dem Jäger, der es auf Flambeur abgesehen hat. Wenn Flambeur seine Pläne fragmentarisch vor Mieli und damit dem Leser offenbart, benutzt er eine blumige Sprache, die anfänglich fasziniert, im Verlaufe des Romans allerdings frustriert. Rajaniemi findet an einigen Stellen keinen Weg zurück in eine futuristische Realität und das märchenhafte Ambiente ist zu wenig stark ausgearbeitet, als das es wirklich grundlegend überzeugen kann. Rückschauend bleiben dem Leser zu wenige Informationen übrig, als das er sich wirklich ein zufrieden stellendes Bild über die ganze Mission machen kann.
Viele dieser Schwächen gleicht der Autor mit dem Schlussbild aus. Während in „Quantum“ ich die relevanten Figuren in der marsianischen Stadt Oubliette trafen, in welcher die Zeit eine wichtige Währung gewesen ist und jeder Mensch an den allgemeinen Erinnerungen teilnehmen konnte, hat Rajaniemi für vor den vorliegenden Roman eine Art arabisches Wunderland erfunden. Sirr ist eine Stadt, die von wild gewordener und nicht mehr zu kontrollierender Nanotechnologie umgeformt worden ist. Sie ähnelt den arabischen Märkten, wobei der Grad zwischen Innovation und Klischee ein schmaler ist. So interessant dieser Hintergrund auch sein mag, Rajaniemi unterminiert seine Glaubwürdigkeit kontinuierlich, in dem er zu viel impliziert, absichtlich der Phantasie seiner Leser überlässt und zu wenig erklärt. Grundsätzlich ist diese Einstellung lobenswert, wenn es aber zu Lasten des ganzen Romans geht und der Autor seiner Neigung zu sprachlichen Bildern zu sehr frönt, dann wirkt das Gesamtbild zu gestellt, zu konstruiert und vor allem zu wenig dreidimensional. Auf der anderen Seite hat der Autor hinsichtlich der Gesamtkonstruktion des Buches die erzählerischen Besonderheiten der „Geschichten aus 1001 Nacht“ intelligent in einen Science Fiction Roman übertragen. Das beginnt bei der absichtlich überdimensional gestalteten, aber nicht relevanten Rahmenhandlung und geht über einige unzuverlässige Erzähler, verschiedene absichtlich ins Leere laufende, geschickt gewählte falsche Spuren hin zu den absichtlich in einander laufenden Erzählperspektiven. Vieles erscheint auf den ersten Blick verwirrend und fordert zum sehr genauen Lesen heraus. Es zeigt aber auch nachdrücklich, wie genau der Autor auf der technischen Seite seinen Roman strukturiert und komponiert hat. Das das Gerüst qualitativ teilweise über der eigentlichen Handlung steht, ist bedauernswert. Aber zumindest für den Versuch muss Rajaniemi ausdrücklich gelobt werden.
Neben der auffällig, in diesem Fall perfekt märchenhaften Struktur sind es die einzelnen Charaktere, die „Fraktal“ trotz der zahlreichen, angesprochenen Schwächen zu einem interessanten und lesenswerten Buch machen.
Mieli überzeugte als genetisch überzüchtete Kriegerin schon im ersten Band. Sie bildete einen interessanten Kontrast zum eleganten wie arroganten Flambeur. In „Quantum“ musste sie gegen ihren Charakter agieren. In der letzt endlich falschen Hoffnung, ihren Liebhaber Sydän wieder frei zu bekommen. Rajaniemi hellt ihr bislang eher ambivalente Vergangenheit deutlich auf. Es wirkt zwar fast kitschig, wenn Sydän und die bislang eher unterkühlte Mieli gigantische Eiskreaturen im All schaffen, nur um der Welt bzw. dem Leser zu zeigen, dass es möglich ist und das die gleichgeschlechtliche Liebe in einer toleranteren Zukunft eine Alternative zu Cybersex und virtuellen Irrealitäten ist. Da sich der Autor auf diese in den Rückblenden überzeugend gezeigte Liebesbeziehung konzentriert, wird sie wahrscheinlich im dritten und abschließenden Roman eine wichtige Rolle spielen. Im Vergleich zu Flambeur, der sich als Figur nicht weiter entwickelt, wirkt die Tochter einer der mächtigsten und folgerichtig elitärsten Familien der Erde Tawaddud wie ein Kompromiss. Sie versucht sich ihrer Familie gegenüber durch ihre Handlungen gleichzeitig zu beweisen und abzugrenzen. Auf der anderen Seite will sie ihre Stadt vor den aggressiven Außerirdischen schützen. In Tawaddud manifestieren sich noch stärker als in Mieli aus dem ersten Buch die Widersprüche der Zukunft. Während Flambeur mit seinen außergewöhnlichen Handlungen Druck für sich selbst aufbaut, werden alle weiblichen Figuren durch Druck von Außen, durch Umstände, die sie selbst nicht kontrollieren können, bestimmt. In Rajaniemis Zukunftsvision gibt es keine klassischen Familienverbünde mehr. So futuristisch distanziert seine Zukunft auch sein mag, emotionale Grundbedürfnisse wie Liebe und Anerkennung sind die Triebfedern seiner weiblichen Figuren. Trotz der epochalen Kulisse, dem sich stetig weiter aufbauenden intergalaktischen Konflikt und letztendlich Flambeurs provokanten und deswegen auch so interessanten Missionen überschatten die emotionalen Konflikte Rajaniemis Hang zur Verspieltheit. Was im ersten Buch “Quantum“ eine interessante Mischung aus Fabulierfreude und literarischer Provokation darstellte, wirkt teilweise im zu konstruierten, zu mechanischen „Fraktal“ schon abgenützt. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung der Autor schließlich die übergeordnete Story des Konfliktes mit den Sobornost auflösen möchte. Es bleibt zu hoffen, dass er auf keine unnötigen „Deus ex Machina“ Lösungen zurückgreift. Ansonsten sollte und wird „Fraktal“ in erster Linie Fans des ersten Bandes der Trilogie ansprechen, die in seinem verzweigten Universum inzwischen Fuß gefasst haben.
- Broschiert: 400 Seiten
- Verlag: Piper (12. März 2013)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3492701949
- ISBN-13: 978-3492701945
- Originaltitel: The Fractal Prince