Der 1896 geborene Otto Willi Gail ist heute in erster Linie durch seine ersten beiden mehrfach wieder veröffentlichten Romane „Der Schuss ins All“ (1925) sowie „Der Stein
vom Mond“ (1926) und zahlreiche Sachbücher zu technischen Themen in Erinnerung geblieben. In seinen sekundärliterarischen Texten hat sich Gail Themen wie Physik, den Naturwissenschaften, der Astronomie und der Raumfahrt basierend auf den Konzepten Max Valiers und Hermann Oberths auseinandergesetzt. Mit seinem dritten Roman „Hans Hardts Raumfahrt“ (1928) das erste Mal veröffentlicht hat Gail sich zum zweiten Mal mit einem Flug zum Mond auseinandergesetzt, wobei Gail durchaus eine internationale Zusammenarbeit von Geld – das kommt aus den USA – und Hirn – deutsche Ingenieure und eine Raumfahrtbasis in Friedrichshafen am Bodensee, von wo aus die legendären Zeppeline gestartet sind – angestrebt hat. Auch wenn der Roman eher für eine reifere Jugend verfasst worden ist, verfügt die auch heute noch stringent zu lesende, was die Charakterisierung angeht allerdings kitschige Geschichte über eine Reihe von technischen Aspekten, welche die NASA sehr viel später bei der Entwicklung der Space Shuttles mit aufgenommen hat.
Der Roman beginnt mit einem eigentümlichen Geschwindigkeitsrekord. Dem amerikanischen Journalisten Bighead – eine absichtliche Anspielung – begegnet nach einer durchzechten Nacht am Rand einer Straße ein junger Mann, der ihn mehrmals penetrant nach der Uhrzeit fragt. Er lässt sich diese Uhrzeit in seinem Pass quittieren und schenkt dem überforderten Journalisten ein Bier aus München. Später erfährt Bighead, das es sich um einen Rekordflug und bei dem kühnen Piloten um den deutschen Ingenieur Hans Hardts gehandelt hat. Das der Rekord wirklich stattgefunden und die Überquerung des Atlantiks in nicht mehr als eineinhalb Stunden durch einen Flug außerhalb der Atmosphäre gelungen ist, erfährt Bighead indirekt durch die deutsche Ausgabe einer Morgenzeit, in die das Bier eingeschlagen worden war. Bighead überredet Hans Hardts Onkel, das nächste Unternehmen in Form eines Flugs in All durch die Zeitung mit finanzieren zu lassen. Dafür sollen alle Nachrichten und Berichte exklusiv von Bigheads Chef an die Weltöffentlichkeit gegeben und der lebensfreudige Reporter aus erster Hand berichten können.
Das erste Drittel des Romans nimmt die ausführliche Vorbreitung der Weltraumexpedition an Bord des extra dafür gebauten Raumschiffes „Wieland“ - ein einer Heldensaga entstammender Schmied – ein, wobei Gail nicht nur auf die technischen Vorraussetzungen wert legt, sondern auch die extremen Anforderungen an die zukünftigen Astronauten an mehreren Beispielen wie eine archaische Zentrifuge demonstriert. Bigheads Gegenspieler ist der treu bayerische Ingenieur Anderl, der Hans Hardts schon einmal das Leben gerettet hat. Natürlich schleicht sich Bighead schließlich an Bord des Raumschiffs und bringt die Pläne Hans Hardts genau durcheinander wie ein auf den ersten Blick kleiner kosmischer Begleiter des Mondes, der anscheinend Reste des durch eine Abfolge von Naturkatastrophen untergegangenen Atlantis mit sich trägt.
Im gleichen Jahr wie dieser Roman hat Otto Willi Gail seine Studie „Mit Raketenkraft ins All“ veröffentlicht. An einigen Abschnitten hat der Leser auch das Gefühl, als verliere sich Gail eher in dem sekundärliterarischen Buch. In abwechselnder Reihenfolge darf Hans Hardts in erster Linie als überdimensionaler Protagonist wie Wissenschaftler oder unerschrockener Textpilot dem amerikanischen Journalisten Bighead; dann seinen mitgereisten Onkel, der als Archäologe für die entsprechenden kosmischen Funde verantwortlich ist und den Anderl belehren. Gails Rakete basiert auf dem klassischen Rückstoßprinzip unter Nutzung von angereichertem Uran, das allerdings erst außerhalb der Erdatmosphäre eingesetzt wird. Die eigentliche Raumkapsel könnte als Vorläufer der Apollomissionen durchgehen, da hier wie dort das Cockpit mit den Astronauten zur Landung abgesprengt werden kann, im Notfall sorgen vom restlichen Raumschiff abgetrennt werden muss. Von den Space Shuttles hat Gail die Idee übernommen, dass das eigentliche Raumschiff mit wieder verwertbaren Kraftstofftanks und deren Raketenschubkraft aus der unmittelbaren Erdanziehungskraft geschossen wird, bevor die Atomtriebwerke einsetzen. Während die Raumanzüge aus Naturleder etwas archaisch erscheinen, hat sich Gail ausgesprochen minutiös mit der Versorgung der Astronauten mit Druckluft auseinandergesetzt. Hier greift der Autor insbesondere Herrmann Oberth vor.
Auf dem Mond selbst – die Landung erfolgte durch einen Unfall, da Bighead auf dem Hinflug ausgerechnet einen kleinen Meteoriten eigenständig untersuchen musste – finden die Astronauten im Vergleich zur zeitgleich entstandenen, aber ein Jahr später erst ausgestrahlten gigantischen UFA Produktion „Die Frau im Mond“ keine Atem bare Atmosphäre vor. Es gibt nur geringe Spuren von Sauerstoff, allerdings teilweise bei sieben Grad Celsius flüssiges Wasser. Ein Streichholz brennt und mittels einer Verdichtung kann der spärliche Sauerstoff zum Betrieb der Triebwerke für den Rückflug nutzbar gemacht werden. In einer übertriebenen und nicht unbedingt zufrieden stellend geschriebenen Sequenz stoßen die Männer auf eine an einen Moloch erinnernde Lebensform, die unter der dicken Eisschicht des Mondes lebt. Diese Sequenz ist genauso unwahrscheinlich und negiert den bislang streng wissenschaftlichen Ansatz Gailes wie der Fund eines kleinen Mondbegleiters, der ein Erbe der untergegangenen Zivilisation Atlantis darstellen könnte. Insbesondere in der utopischen Literatur zwischen den Weltkriegen stellte Atlantis ein wiederkehrendes Thema dar. Paul Alfred Müller sollte diesem Trend mit „Sun Koh- der Erbe von Atlantis“ die Krone aufsetzen. Die einheitliche These der Autoren ist, dass die Hochkultur von Atlantis mit Feuer und Schwert ihren Einfluss sowohl in Lateinamerika als auch dem vorderen Orient durchgesetzt und die Pyramiden im Grunde Erinnerungen an den untergegangenen Kontinent sind. Vielleicht wirkt der verbal vorgetragene Exkurs von Hard Hardts Onkel ein wenig zu eloquent, da die Astronauten wie auch hinsichtlich der Lebewesen vom Mond schließlich ohne Beweise, im Fall des Amerikas als ironische Übertreibung nackt wie ihn Gott schuf zur Erde zurückgekehrt sind. Die Balance aus zugänglichen sehr visuellen wissenschaftlichen Erläuterungen und einer Reihe von kleinen Actionszenen unter Verzicht auf Waffengewalt oder Übertreibungen funktioniert. Otto Willi Gail versteht sich darauf, die stringente Geschichte mit einem Fokus auf den Hinflug auf Irrwegen zum Mond solide zu erzählen. Wie in fast allen anderen früheren Weltraumbüchern verläuft der Rückflug bis zum Eintritt in die Atmosphäre relativ entspannt, wobei hier Hans Hardts zum ersten und einzigen Mal im ganzen Buch eine Fehleinschätzung eingestehen muss.
Im Vergleich zu Hans Dominiks frühen Arbeiten ist der Deutschnationalismus noch nicht unerträglich stark ausgebaut. Natürlich ist es deutsche Ingenieurskunst, deutsches Know How und ein deutscher „Weltraumflughafen“, von dem die Expedition losgeht. Wie schon angesprochen kommt das Kapital aus den Staaten, wobei der joviale wie leicht arrogante amerikanische Reporter Bighead Tragödie - er schmuggelt sich an Bord und durchkreuzt die Berechnungen hinsichtlich des Verbrauchs von Treibstoff - und Triumph in einem. Seinen Fehler macht er mehrmals im Verlauf der Reise durch beherztes, im Grunde typisch amerikanisches Eingreifen auf handgreiflicher Ebene wett, während sein Ausflug zum kleinen Begleiter des Mondes eine Selbstmordmission darstellt. Ein bisschen auf die Tränendrüse drückend steht schließlich während des Anflugs auf die Erde die ganze Welt bereit, um den Astronauten nach der Landung zu Hilfe zu eilen. Es ist sicherlich mehr als ein Zufall, dass ausgerechnet ein italienisches Kreuzfahrtschiff die in ihrer Kapsel im Wasser treibenden aufnimmt und nach Haus bringt. Trotzdem steht für Hans Hardts eine friedliche im zweiten Schritt wirtschaftliche Nutzung des Alls vor allen nationalen Bestrebungen. Mehrmals betont er, dass die Erforschung des Alls in erster Linie kostet und den Menschen Wissen verschafft, aber in einem Punkt irren sich Autor wie sein agierendes Alter Ego. Die Millionen, welche in die Erkundung des Alls gesteckt worden sind, haben sich durch eine wirtschaftliche Nutzung der kleinen Nebenideen mehrfach ausgezahlt.
Während der wissenschaftliche Hintergrund für die damalige Zeit sehr gut herausgearbeitet worden ist und die stringente Handlung selbst aus heutiger Sicht noch über Spannung verfügt, wirken die agierenden Figuren ein wenig zu sehr mit dem Holzhammer charakterisiert. Überragend natürlich der zumindest in wissenschaftlich technischer Hinsicht Lebemann Hans Hardt, dem entweder alles gelingt oder er in letzter Sekunde nicht nur auf eigene Ideen, sondern passenderweise auf ungewöhnliche Vorschläge seiner Mitreisenden zurückgreifen kann. Hans Hardts Onkel agiert als eine Art weiser Ratgeber, der mit seinen achtundfünf zig Jahren aber auch über ausreichend jugendlichen Elan verfügt, um die zwölf bis sechzehnjährigen Interessierten anzusprechen. Frauen kommen in diesem utopisch technischen Roman nicht vor. Die Dialoge sind ausgesprochen realistisch geschrieben, wobei der Hang zu in erster Linie technisch erklärenden Monologen unverkennbar ist.
Zusammengefasst ist „Hans Hardts Mondfahrt“ ein geradliniger Weltraumroman, in dem die Faszination des Autoren am technischen Fortschritt und der Erkundung des erdnahen Raums auf den Leser überspringt. Trotz seines Alters wirkt die Geschichte immer noch frisch und solide erzählt, wobei die Schweitzer Buchausgabe mit zahlreichen Innenillustrationen vermutlich von Galle für eine Nachkriegsveröffentlichung auch textlich behutsam überarbeitet trotz des etwas sperrigen, aber eine dramatische Szene des Romans zeigenden Titelbilds den nur noch antiquarisch schwer zu erhaltenden Vorkriegsausgaben in altdeutscher Schrift zu bevorzugen ist.
Roman, Hardcover, 254 Seiten
Schweizer Buchclub 1928