
Jack Ketchums Roman „The Lost” – im Original sehr viel ambivalenter und passender “Lost” betitelt – ist nicht nur ein fast vierzig Jahre zurückschauender Einblick in die Psyche des Serienkillers Charles Howard Smith jr, den er in der Figur des jugendlichen Rye Pye wieder belebte, sondern die Beschreibung der USA; die sich nicht nur durch Vietnam – alleine vier gefallene Soldaten in der kleinen Gemeinde, in der Pyes abschließender Amoklauf stattfindet -, sondern durch den Mord an Sharon Tate oder den beginnenden „Sommer der Liebe“ mehr und mehr von der Nachkriegsgeneration abspalten sollte.
Obwohl schon zweimal verfilmt und im Mittelpunkt einer Kurzgeschichte von Joyce Carol Oates hat Jack Ketchum die grundlegenden Aspekte von Smiths Taten aufgegriffen und zu einem ausgesprochen kompakten, allerdings im Mittelteil auch phlegmatisch ein Beziehungsgeflecht herstellenden Roman verbunden, der nicht nur die Taten des eitlen Mörders untersucht, sondern vor allem dessen Umfeld zu analysieren sucht. Dabei greift Ketchum auf Doppelungen zurück, um die Personen intensiver und nachhaltiger miteinander zu verbinden.
Der Roman beginnt mit dem Mord an zwei jungen Frauen, die Rye Pye aus Mordlust erschießt. Das eine Mädchen kommt gleich ums Leben, die andere Frau fällt ins Koma und stirbt erst viele Jahre später in dem Moment, in dem die Gegenwartshandlung einsetzt. Obwohl die Polizei überzeugt ist, das nur Pye der Täter sein kann, haben sie keine Beweise. Nur dessen Freundin Jennifer und ein Schulkamerad sind Zeuge der Tat, schweigen aber aus unterschiedlichen Gründen. Ketchum weicht dann allerdings von einer klassischen Amokläuferanalyse ab und versucht Pye nicht ganz entschlossen einen vielschichtigeren Hintergrund zu geben. Der kleinwüchsige Mann, der seine Stiefel mit Papier und Dosen ausfüllen muss, verdingt sich als örtlicher Drogendealer, während er bei seinen Eltern lebt und im von der Familie betriebenen Hotel hilft. Dabei wäre diese Vorgehensweise unnötig, zu sehr etabliert Ketchum Pye als durchweg unsympathischen und verlogenen Charakter, der erst fällt, als er die Grenzen bei seiner Freundin Jennifer überschreitet. Zu diesem Zeitpunkt könnte es zu spät sein. Ein Weiberheld, der alle Zimmermädchen im Hotel in sein Bett zu bekommen sucht. Ein eitler Junger, der die Unsicherheit hinsichtlich seiner Größe mit einer arroganten Vorgehensweise zu überdecken sucht. Ein Hitzkopf. Mit der Auftaktszene schockiert Ketchum ganz bewusst die Leser. Wie kranke Tiere tötet er die beiden Frauen. Als Entschuldigung sagt er, das sie Lesben sind – eine andere Perspektive entkräftet das Argument – und aus reichem Hause kommen. Anschließend versucht er das Bild eines kranken Jungen zu suchen, der dominant seiner Umwelt gegenüber ist, aber teilweise auch von Mädchen provoziert wird. Hier sei Katharine genannt, die Abenteuer sucht und ihn lange reizt, bevor sie plötzlich die Beziehung abbricht und damit den späteren Amoklauf auslöst. Dazwischen steht ausgerechnet eine junge andere Frau, die ihn von Beginn an ablehnt während sie mit einem örtlichen Polizisten zusammenlebt, der zwei Jahre älter als ihr Vater ist. Ausgerechnet den Polizisten, der Pye immer im Verdacht gehabt hat und der zumindest in der Theorie nicht aufgehört hat, nach den entsprechenden Beweisen zu suchen. Diese Vorgehensweise könnte für eine ambivalente Zeichnung eines jungen, verstörten Menschen sprechen. Aber in dieser Hinsicht fehlt dem Roman auch die Tiefe, die Joe Lansdale seinen Büchern schenkt und unbewusst rückt Ketchum sehr nahe an die Splattereffekte eines Richard Laymon heran. Es scheint erstaunlich, dass die Polizei immer wieder so naiv vorgeht und eine Drogenparty auf ausgesprochen dümmliche Art und Weise sprengt. Das ihn niemand mit Alkohol am Steuer angesichts seines Verbrauches kontrolliert und das vor allem die Verwüstung inklusiv des Diebstahls eines verlassenen Hauses – gegen Ende des Buches wird es von den Erben anscheinend erst nach drei oder vier Jahren ausgeräumt ! – niemand mit ihm und der in unmittelbarer Nähe verübten Tat in einen engeren Zusammenhang bringt. Auf der anderen Seite ist bis auf das Drogendealen – in den sechziger Jahren eine plötzlich aufkommende gängige Praxis – an Rye nur das typische Verhalten eines aggressiven, pubertierenden Jungen festzustellen, der Sex liebt und Arbeit verabscheut. Sein Umfeld ist dabei interessant. Sein bester Freund und Dienstbote schneidet sich immer eine kleine Menge aus den Drogenpaketen in die eigene Tasche ab. Seine „Freundin“ ist devot bis zum Unerträglichen. So entschuldigt immer dessen Eskapaden mit der Tatsache, das sie ihn liebt. In beiden Fällen wird der Hintergrund dieser Figuren genau wie bei Ryes Eltern kaum beleuchtet. Jennifer lebt auf jeden Fall noch bei ihren Stiefeltern, obwohl sie volljährig ist. Auch Ryes bester Freund lebt in einem intakten Elternhaus. Ryes Eltern betreiben ein kleines Familienhotel, wobei die Mutter dominierend und der Vater immer abwesend zu sein scheint. Es gibt aber keine Grenzüberschreitungen, keine Erklärungen für dessen Fehlentwicklung. Die abschließende Explosion von Gewalt stammt aus einer Kette von kleinen Ereignissen, mit denen Rye von seinem Thron gehoben und ihn die Ecke gestellt wird. Die Polizei kommt ihm nicht zuletzt durch das Durchbrechen der Phalanx des Schweigens mehr auf die Spur, ohne wirkliche Beweise für die Ermordung der beiden Mädchen zu haben. Während die eine junge Frau nichts von ihm wissen will, macht die andere mit ihm Schluss, weil sie auf der Beerdigung der Mutter jemand anders kennen gelernt hat. „The Lost“ ist vielleicht deswegen so beeindruckend, weil es keine Entschuldigungen gibt. Rye ist kein gequälter junger Mann, der sich rächt. Er ist auch nicht wie in anderen Filmen oder Büchern von Geburt an böse. Er ist nicht einmal das Ergebnis einer Umwelt, die ihn so geschaffen hat. Es gibt keine Erklärungen für seine Emotionslosigkeit. Wenn am Ende Rye auf eine pervertierte und vielleicht zu sehr als Kompromiss gegenüber dem Leser erscheinende Art und Weise „bestraft“ wird und das Schicksal erleiden muss, das er zumindest Jennifer als seine Leibsklavin angetan hat, dann füllt der Autor vielleicht zu sehr die Leere auf, die durch die Tötung von interessanten und im Grunde guten Charakteren entstanden ist. Es ist eine bittere Ironie, das es in erster Linie die wirklich unschuldigen Menschen erwischt, während die Luntenzünder teilweise schwer verletzt am Leben bleiben.
Aber über diesen realistisch extrapolierten teilweise auf Tatsache basierenden Fall hinaus bemüht sich Jack Ketchum, ein Bild einer sich ändernden USA zu zeichnen. Interessant am Roman ist, das es zwei unterschiedliche Generationen sind, die mit diesen Veränderungen klar kommen müssen. Die älteren stoisch langweiligen Mütter und Väter, die hofften, dass das stereotype Leben in den amerikanischen Kleinstädten nie zu Ende geht. Für die eine Fahrt nach New York eine Weltreise darstellt und der Besuch des Kinos ein Ereignis. Die Fischen und Trinken, Heiraten und Kinder bekommen. Die am gleichen Ort sterben, an dem sie geboren worden sind. An Hand der beiden befreundeten Polizisten beschreibt Ketchum diesen Übergang erstaunlich gut. Während der eine Polizist ein sehr junges Mädchen als Freundin und Angst hat, das der Ort über sie tratscht, ist sein Kollege entschlossen, durch Verhöre und Druck die Lunte zu legen, die nicht zu Ryes Überführung, aber zu seiner Explosion führt, die mehr als einer Handvoll Menschen das Leben kosten wird. Auf der anderen Seite die Jugend mit ihrer Angst vor Vietnam, der beginnenden sexuellen Revolution mit ihren natürlich in die Gegenrichtung schlagenden Extreme, den Drogen und schließlich auch der Erweiterung ihrer Horizonte, die aus den sie ein engenden Gemeinde auszubrechen drohen. Es sind Schlaglichter, die Ketchum in dieser im Vergleich zu vielen seiner anderen Romane auch umfangreicheren Studie setzt. Er beleuchtet die sich verändernde USA. Dabei steht Ryes Amoklauf gleichbedeutend mit den Taten der Masonanhänger oder der Ermordung Sharon Tates. Es ist aber auch ein kritischer Blick hinter die Kulissen des Kapitalismus. Kaum ist die Ermordung bekannt geworden, zeigen die Kinos wieder Polanskis „Tanz der Vampire“ natürlich mit Sharon Tate in der Hauptrolle.
„The Lost“ – Rye ist nicht verloren, er hat nie einen Weg für sich gefunden – ist keine kritische Abrechnung mit diesen aufeinander treffenden Kulturen. Der Roman bezieht keine Position, weist keine Schuld zu. Er zeigt nicht unbedingt klinisch distanziert, sondern wie schon angesprochen gegen Ende einen fiktiven Amoklauf mit den drei entführten jungen Mädchen, die Rye „wichtig“ in ambivalenter Hinsicht erschienen sind. Nicht nur mit den Dialogen, sondern mit den sexuell implizierten Phantasien überschreitet Ketchum zum Negativen seine bis dahin gelungene Studie einer wandelnden Zeitbombe und entwertet an Richard Laymon heranrückend einen bis dahin beeindruckenden und sehr gut recherchierten Roman deutlich. Der Leser fühlt mit den liebevoll gezeichneten, aber nicht an einer Stelle bewertenden Protagonisten, die teilweise viel zu früh ihre hoffnungsvollen Leben verlieren. Das ist der zynisch gesprochen positive Kern des Buches, welches das dunkle Herz Amerikas nicht in den Kleinstädten, sondern allenfalls in einem Einzeltäter gefunden hat.
- Taschenbuch: 448 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (10. Dezember 2012)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453676270
- ISBN-13: 978-3453676275
- Originaltitel: The Lost