Die opulente und teilweise exzentrische Verfilmung Bong Joon- Hos wirft den Blick zurück auf den schon 1983 veröffentlichten Comic „Schneekreuzer“ und die beiden eine halbe Generation nach Jacques Lob Original veröffentlichen Fortsetzungen. In wie weit sich der Belgier Jacques Lob von Akira Kurosawas lange Zeit unverfilmten Drehbuch „Runaway Train“ hat inspirieren lassen, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall setzte Andrej Konchalowski den Stoff eines durch die Eishölle Alaska immer schneller fahrenden Zuges. An Bord sind zwei entflohene Sträflinge und eine Eisenbahnarbeiterin. Mehr und mehr wird diese Reise in die Unendlichkeit zu einer Allegorie auf das Leben.
Das erste ursprünglich alleine publizierte Album von „Schneekreuzer“ „Der Entflohene“ von Jean Marc Rochette absichtlich skizzierend dargestellt ist die Geschichte eines doppelten fliegenden Holländer. Da wäre auf der einen Seite der Schneekreuzer. Ein Luxuszug für diejenigen, die in ihrem Reiseleben bislang alles erlebt haben. Mit dem Zug soll es in das ewige Eis gehen. Vierzehn Tage in dekadentem Luxus. Nur braut sich anscheinend vor der Jungfernfahrt Unheil über der Welt zusammen und der Einsatz von zwei Klimabomben lässt die Temperatur der Erde auf neunzig Grad Minus – so steht es zumindest in der Fortsetzung – sinken und die Erdoberfläche wird von ewigen Eis überdeckt. Eine kleine Oberschicht findet Platz im Schneekreuzer, einer Perpetuum Mobile Maschine, die ohne Energie von außen zu erhalten durch den Schnee pflügen kann. Es werden noch einige notdürftig hergerichtete Wagen für die dritte Klasse, das einfache, aber in diesem Fall zynisch gesprochen auch nutzlose Volk angehängt.Der Comic beginnt mit einem Einbruch. Der kräftige Proloff hat sich außen am Zug von der dritten Klasse in die zweite vorgearbeitet und dringt durch das Zerschlagen eines Fensters in einen Bereich des Zuges ein, der ihm nicht zusteht. Bevor er zurück geschickt werden kann, beeinflussen zwei Ereignisse sein Leben. Die junge attraktive Adeline gehört zu einer Hilfsorganisation, welche die Menschen aus der dritten Klasse umsiedeln lassen möchte und aus einem nicht näher erklärten Grund möchte der an der Spitze des Zuges lebende Präsident den Einbrecher kennen lernen. Es beginnt eine Odyssee durch den Zug, während dieser durch die Unendlichkeit des Schnees rast.
So faszinierend wie absurd die Grundidee auch sein – der Zug braucht Schienen und spätestens nach einigen Monaten des Schneefalls sollten diese nicht mehr befahrbar sein - , streifen Rochette und Lob die wichtigsten Aspekte der menschlichen Existenz. Neben einer Reihe von Science Fiction typischen Ideen – Kunstfleisch für die dritte und wahrscheinlich zwei Klasse, hochwertige Kaninchenzüchtung für die erste Klasse – kritisieren die Autoren das typische egoistische Klassendenken. Die Reichen schwellen im Luxus und selbst Proloff wird einen Augenblick verführt. Sein schlechtes Gewissen ist die aktive wie reaktionäre Adeline. Auf seiner Reise begegnen sie nicht nur der sexuellen Dekadenz, den Ausschweifungen und schließlich einem eher hilflosen Präsidenten, sie werden auch mit dem Plan konfrontiert, den anscheinend immer fast unmerklich langsamer werdenden Zug durch das Abkoppeln nicht nur der Wagen der dritten Klasse, sondern mit möglichst vielen Reisenden der zweiten Klasse in diesen Viehtransportern den ganzen Zug zu erleichtern und damit auch wieder zu beschleunigen. Wie schon angesprochen funktioniert diese doppelte Reise auf einem oberflächlichen, aber auch provozierenden Niveau. Die beiden von den Wachen vor sich her getriebenen Liebenden – warum sich Adeline zum Proletarier Proloff wirklich hingezogen wird, extrapoliert das Manuskript an keiner Stelle – nehmen den Leser auf diese Reise mit. Es sind immer nur Facetten und Bruchstücke, die sie sehen. Viele Informationen bis zum vorhersehbaren, nihilistisch passenden Ende müssen sich Protagonisten und Leser selbst zusammensetzen. Durch die kompakte, fast spärlich rudimentäre Präsentation von Fakten und Legenden – beide Begriffe sind gegeneinander austauschbar – kommt die Odyssee der Beiden einer abnormalen Reise gleich, in welcher der Betrachter auch nur subjektiv Informationen aufnehmen und nur selten vor Ort verarbeiten kann. Ob es Zufall oder Absicht ist, dass mit Proloffs Aus- und Einbruch die fragile Ordnung in dem Zug endgültig zusammenbricht, bleibt genauso ungesagt wie die Idee, dass Proloff im Gegensatz zu den in der dritten Klasse brutal für Ordnung sorgenden Soldaten ein Virus mitgebracht haben könnte. Lob und Rochette kritisieren das brutale Unterdrückungssystem, das an den in den achtziger Jahren herrschenden Sozialismus genauso erinnert wie an die Diktaturen in Afrika oder Lateinamerika. Die Muster einer als Demokratie mit einem Präsidenten getarnten Diktatur sind austauschbar.
Der erste Teil von „Schneekreuzer“ ist ein abgeschlossener Plot. Der Anfang steht gleichzeitig für das Ende. Die Technik wird den Menschen überdauern, der sein Ende durch Leichtsinn – wahrscheinlich eine Allegorie auf den damals noch herrschenden Kalten Krieg – hervorgerufen hat. Auch wenn die einzelnen Charaktere dank Rochettes Zeichnungen eher wie Skizzen, wie Chiffren wirken, gewinnen sie im Laufe der kurzweiligen, episodenartigen und teilweise vorhersehbaren Handlung allerdings an beachtenswerten, aber nicht liebenswerten Format, während die Zeichnungen des Schneekreuzers absichtlich stilisiert wirken und aus dem gigantischen Zug ein Monster machen, das wie die Dinosaurier durch eine unwirtliche Landschaft pflügt. Auf einer Reise ohne Ziel.
Für die Fortsetzungen mussten Rochette und der Romancier Benjamin Legrand einen zweiten Schneekreuzer, Eisbrecher genannt, der ebenfalls durch die unendliche Schneelandschaft fährt. Das wirkt auf der einen Seite wie eine ganz schwache Prämisse für eine Fortsetzung, ist aber auf der anderen Seite konsequent und notwendig. Unglaublich ist, wie Legrand und Rochette nicht nur über einige wenigen Figuren, sondern eine spektakuläre Kaperung in „Der Landvermesser“ ihre Geschichte mit dem Original verbinden. Auf beiden Schneekreuzern herrschen totalitäre Systeme, wobei sich Legard mit der Lotterie und einer virtuellen Reise als Hauptgewinn der Gegenwart angepasst hat. In beiden Geschichten ist es der Aufstieg eines Außenseiters, der in im ersten Fall ein Eindringling, im zweiten Fall einer der Landvermesser ist, welche ab und zu den Zug verlassen, um zynisch Kunstwerke aus dem ewigen Eis für die Kirche zu bergen. Beide Geschichten enthalten Liebegeschichten zwischen den Klassen. Während bei „Schneekreuzer“ die Struktur unabhängig von den vergleichbaren hierarchischen Klassen sich auf zwei Reisen konzentriert, an deren Ende der eine Charakter erkennt, dass er nichts weiß, während er am Höhepunkt seiner Reise einen Menschen trifft, der alles weiß, geht Legrand intensiver, aber auch nicht immer konsequent auf die Struktur des Eisbrechers ein. Die Obrigkeit warnt vor einer Kollision mit dem Schneekreuzer, dem sie folgen. Mit dieser Drohung wird das einfache Volk unter Kontrolle gehalten. Der Eisbrecher verfügt nicht nur über ein differenziertes ökologisches System, sondern auch über Aufklärungsflugzeuge, mit denen vor einer eingestürzten Brücke gewarnt wird. In beiden Romanteilen ist allerdings erstaunlich, in welch gutem Zustand die Schienen noch sind. Legrand beschreibt im ersten Teil durch die Augen eines allerdings erstaunlich agilen und schnell gut vernetzten Außenseiters die politisch schwierige von Paranoia gekennzeichnete an Bord des Eiskreuzers, der mehr als ein Geheimnis in sich trägt, während der abschließende dritte Teil „Die Überquerung“ die Jagd nach Musiksignalen beschreibt, welche der Kreuzer auffängt. Dazu müssen sie ein zugefrorenes Meer überqueren. So interessant diese Prämisse auch ist, so konsequent das Ende erscheint, es ist eine Kopie von Stanley Kramers „On the Beach“. Erfahrene Leser erwarten auch keine andere Lösung. Der Mensch ist konsequent in seinem Tun ist nicht nur die Botschaft der doppelbändigen Fortsetzung, sondern auch des ersten Teils, der eher als eine Mensch- Maschine Allegorie in „Der Landvermesser“/ „Die Überquerung“ eingebaut worden ist. Mit dem Eiskreuzer – unabhängig von der relativ „schnellen“ Konstruktion – verfügen die Autoren über eine größere Dimension, die vielleicht technologisch ein wenig zu abstrakt ist. Die Beschreibungen bleiben vage und dienen in erster Linie dazu, den Plot visuell voranzutreiben. Während im ersten Band von „Schneekreuzer“ eine klassische Diktatur mit einem nur faktisch gewählten Präsidenten vorherrscht, ist die Macht auf zumindest zweieinhalb Köpfe in den Fortsetzungen verteilt. Die Kirche und der Staat mit dem Militär als ambivalenten Mittler, dessen Loyalität im wahrsten Sinne des Wortes flexibel ist. Die inneren Strukturen verzichten auf das zu grobe Klassendenken des ersten Bandes. Natürlich sind alle korrupt und auf den eigenen Vorteil im Vergleich zum Überleben der Rasse bedacht. Das entspricht manchen Klischees. Im Vergleich zum ersten Band ist die Suche auch ausgeweitet. Es ist nicht mehr das klassische, im Kern allerdings auch wen ein wenig klischeehafte Motiv des fliegenden Holländers, sondern mit besserer Charakterisierung die verzweifelte von schwindenden Vorräten begleitete Suche nach einer noch so kleinen Zukunft der Menschheit.
Zusammengefasst – der Sammelband von „Jacoby& Stuart“ umfasst zusätzlich ein interessantes, aber auch teilweise oberflächliches Interview mit Jean Marc Rochette, das einen guten Einblick in die Entstehung des ersten Bandes und den stilistischen Unterschied zwischen Original und Fortsetzungen gibt – eine interessante, ohne Frage dank des Films auch ausbaufähige, originelle Post Doomsday Geschichte, in der Stil über Format geht. Auch wenn die Handlung beim ersten Durchblättern eher fragmentarisch erzählt erscheint, ergeben die zwei langen Handlungsbögen schließlich suggestiv, ohne Frage provokant und plakativ eine fesselnde Symbiose auf dämonischer, aber überlebensnotwendiger Technik und dem Drang des Menschen, sich nicht nur selbst zu vernichten, sondern als intelligente Spezis auszurotten.
- Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
- Verlag: Verlagshaus Jacoby & Stuart GmbH; Auflage: 1 (28. August 2013)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3942787083
- ISBN-13: 978-3942787086