Ein Mörder kehrt heim

Christian von Ditfurth

Mit „Ein Mörder kehrt heim“ liegt der letzte Teil Christian von Ditfurths „WG Okerstraße“ vor. Während der erste Band „Das Dornröschen- Projekt“  in erster Linie die Charaktere vorstellte und den eigentlichen Fall in den Hintergrund drückte, versuchte der Autor mit „Tod in Kreuzberg“ zu viele Baustellen zu füllen und präsentierte eine kritisch gesprochen schwache Lösung bei einer weiter intensiven und positiven Auseinandersetzung mit seinen gedanklich manchmal in den siebziger Jahren stehenden gebliebenen Figuren. Wie bei der Stachelmann- Serie präsentiert sich der Historiker und Kriminalautor in blendender Form, wenn er in einen aktuellen Kriminalfall nähere gesamtdeutsche Geschichte anschaulich, informativ und niemals belehrend einbinden kann. Auch wenn das Grundmotiv – ein linker RAF Terrorist kehrt nach Berlin“ heim“, um je nach Facette mit der Vergangenheit und den Jahren auf der Flucht zu brechen oder seinen eigenen Tod zu initiieren oder mit einer spektakulären, in diesem Fall sogar besser als in „Tod in Kreuzberg“ zum Handlungsverlauf passenden  Aktion auf die bundesdeutsche Rechtsbeugung Nazis und ihren Helfern gegenüber im Vergleich zu den linken Revolutionären hinzuweisen – eher ambivalent beschrieben worden ist und Georgs abschließende Handlung seinen Äußerungen konträr gegenüber steht. Zumindest hat der eher als Schattenkrieger den Plot im Hintergrund dominierende Ex- Terrorist und Mitglied der RAF Führungsebene seine alten linken Genossen aus der Klemme geholt, in die er besonders das Mitglied der Okerstraßen WG Matti hinein manövriert hat.

Zusätzlich lassen sich die Mitglieder der WG – Matti, Dornröschen und wahrscheinlich auch der deutlich jüngere Twiggy – jetzt auch zeitlich eher einordnen. Zu Beginn der siebziger Jahre waren zumindest Matti und Dornröschen aktiv, müssen also mindestens sehr agile Mittfünziger sein. Auf der anderen Seite lässt  sich durch den aktiven Bogenschlag in die unruhige RAF Zeit die liebenswerte Exzentrik, das kommunistische Außenseitertum gepaart mit einem gewissen Fatalismus und die Kunst, mit fast Nichts überleben zu können besser einordnen. Die Zeiten haben sich scheinbar geändert, die teilweise mit Scheuklappen vorgetragenen Ideale nie. Nur Twiggy als Computerfreak und professioneller Hacker ragt aus dieser kleinen Gruppe notwendigerweise – sonst wäre das Amateurermitteln schon am Ende von „Das Dornröschen- Projekt“ zu Ende gewesen – positiv wie zu opportunistisch „negativ“ heraus. In allen drei Romanen ist es wichtig, dass der Leser die rechtsbeugende Vorgehensweise – kleinere Verbrechen sind erlaubt, um größere Taten aufzuklären oder zu verhindern – der Protagonisten akzeptiert, wobei Christian von Ditfurth im vorliegenden abschließenden Band der Trilogie die unorthodoxe Handlungsweise schon mit Anflügen von schlechtem Gewissen unterlegt.  

Matti ist dabei das aktive Bindungsglied. In den siebziger Jahren stand er zumindest verbal im Vergleich zur stetig kommentierenden, höchstens bei Demonstrationen aktiven Dornröschen dem bewaffneten Widerstand näher und kannte einige Terroristen persönlich. Jetzt bittet ihn die attraktive Anja, ihm zu bestätigen, das Georg wirklich ihr Vater sein könnte. Ihr biologischer Vater. Georg hatte eine Affäre mit Ingeborg, die kurze Zeit später auch aufgrund ihrer terroristischen Aktivitäten verschwunden ist. Der Prolog könnte einen Hinweis geben, aber Christian von Ditfurth verzichtet auf die Möglichkeit, die Thema der Eliminierung von Verrätern zu polarisieren. Matti bestätigt Anja diese Möglichkeit und findet bei einem gemeinsamen Treffen mit Georg dessen Leiche im Park wieder. Bevor die Polizei eintrifft, ist George verschwunden. Auch Anja taucht kurze Zeit später unter, nachdem sowohl Matti als auch sie bedroht worden sind. Die Idee, Matti mittels Drohungen von seinen Ermittlungen abzuhalten, ist das schwächste Glied des Romans. Erstens hätten die Planer wissen müssen, dass so etwas nicht funktioniert und zweitens gibt es ausreichend andere Kandidaten, die der Leser mit der Okerstraßen WG kennenlernt, die eher für die Rolle des potentiellen Sündenbocks und Zeugen in Frage kommen. Matti wird schnell Verdächtiger, da plötzlich einige Gegenstände von Georg am "Tatort" auftauchen und zweitens sich Blut von Anja und Georg im alten VW Bus der WG findet. Dornröschen und Twiggy müssen sich auf die Suche nach Georg machen, um Matti aus dem Gefängnis zu halten. Wie angedeutet ist Matti das Bindeglied. Viele alte Aktive erkennen ihn noch, auch wenn sie wenig zu berichten haben. Der Leser erfährt ausgesprochen interessante Informationen über die Zeit der RAF von ihren demonstrativen revolutionären Beginnen über die Terrorherrschaft bis zur Zerschlagung bzw. dem Aufgeben der aktiven Kämpfer. Ihre Flucht teilweise in Ausland, teilweise in die DDR.

Dornröschen spielt dabei den Mittler. Als Figur verkörpert sie die weiterhin hoffnungslos optimistische Genossin mit einer Sammelaktion für Mattis Kaution, ihren Aufrufen oder Artikeln. Von allen Figuren scheint sie am meisten in der Vergangenheit verhaftet zu sein und wirkt bei den Observationen bzw. dem Einsatz der modernen Technik wie ein Fremdkörper. Auf der anderen Seite dient sie trotz ihrer passiven Teilnahme an diesen Zeiten als eine Art Resonanzkörper für den Leser. Nicht selten wird ihr etwas erklärt oder stellt die einzelnen Bezüge zu der eigentlichen Tat klar. In den letzten Romanen wirkte Dornröschen als gute Seele der WG - diese Rolle nimmt sie weiterhin ein-, aber als Aktive hätte man sich gewünscht, dass diese Figur noch dreidimensionaler oder offensiver beschrieben worden wäre.

Twiggy- in Kombination mit seinem Kater Robbi als Fleisch gewordener Ausdruck der Stimmungen innerhalb der WG - ist  im Grunde der Mittler zwischen den Welten. Schon im letzten Roman hat von Ditfurth angedeutet, dass er sehr viel mehr als nur Horrorfilme schauen kann. Er ist ein klassischer Hacker, der exzentrisch auf alles eine Lösung findet. Als Teilhaber an einem Getränkegroßhandel ist er auch ein wenig Kapitalist, aber dank des Beschaffens moderner Wanzen auch der Heilsbringer in diesem Fall. Vielleicht gelingt Twiggy ein wenig positiv gesprochen zu viel, aber in seiner bedingungslosen Loyalität ist er vielleicht der sperrige Freund und Leidensgenosse, den sich ein jeder Mensch wünschen könnte.

Um die drei WG Bewohner herum hat von Ditfurth eine Reihe von ambitioniert gezeichneten, aber manchmal auch funktionellen Charakteren platziert. Da wären mit dem Terroristen Georg und seiner Tochter Anja die Katalysatoren der Katastrophe. Für Anja kommt ein neuer biologischer Vater gerade recht, da sie mit ihrem Stiefvater im Streit liegt. Vorsorglich hat sie anscheinend schon länger unter falschem Namen irgendwo gewohnt. Sie schließt sich zu bedingungslos ihrem Vater an und die Beziehung zum deutlich älteren Matti wirkt auch eher opportunistisch. Nur entschließt sich der Autor nicht, diese Idee konsequent zu Ende zu interpretieren. Georg dagegen ist der zumindest in den Beschreibungen ambitionierte und rücksichtslose Altterrorist, der anscheinend wieder entweder in die Zivilisation zurückkehren möchte oder ein letztes großes Ding plant, um den Klassenfeind Bundesrepublik bloßzustellen. Auch wenn die Grundidee faszinierend ist, kann der Leser Georgs Motivation, die zumindest in der Theorie zu zwei Morden führt, nicht immer folgen. Er zieht ja auch vielleicht wegen seiner Tochter seinen Plan nicht bis zum Ende durch. War es nur seine Absicht, der die Altnazis und ihre Schergen duldenden Bundesrepublik den Eulenspiegel ins Gesicht zu halten, dann ist es gelungen. Sollte es wirklich seine Absicht gewesen sein, reinen Tisch zu machen, dann wirkt dieser Plan zu wenig konsequent durchgeführt. Und das zum reinen Sterben auch das Auffinden einer Leiche gehört und nicht nur eine vage Zeugenaussage, sollte einem Mann wie Georg klar sein. Unabhängig von dieser Tatsache nutzt Christian von Ditfurth die "Ungerechtigkeit" des Systems, um die gnadenlose Verfolgung der RAF Helfer zu relativieren. Oder pragmatisch gesprochen müssten die Nazischergen genauso hart verfolgt und bestraft werden wie die RAF Helfer. Auf Seiten der RAF sind noch die Politoffiziere der DDR, die mit ihren mickrigen Renten ihre kargen Existenzen zu retten suchen und deswegen auch nicht positiv überrascht sind, als Georg wieder auftaucht und Gefallen einfordert. Von Ditfurth schildert sie als immer noch gefährliche Männer, die nicht verstehen, dass ihre Arbeit für den falschen Staat nicht irgendwelche Anerkennung findet. Zynisch gesprochen bilden sie eine Art Bindeglied zwischen den Helfern der Nazis und den RAF Verbrechern. Auch deren Taten in der ehemaligen DDR werden selten bestraft und mit kargen "Renten" belohnt. Die Figuren sind absichtlich grau und verschlagen zu gleich gezeichnet. Ihre Motive sind auf den reinen Selbsterhalt reduziert, was sie ungefährlich und gefährlich zu gleich macht. Zudem nutzt von Ditfurth diese Prämisse, um die Verbindungen zwischen der ehemaligen DDR und den Ruhezonen suchenden Terroristen zu beleuchten. Hinzu kommen aber sehr viele weitere, interessante und ausbaufähige Nebenfiguren, mit denen der Autor sein Berlin im wahrsten Sinne des Wortes bevölkert.  

1977 veröffentlichte Jack Finney mit „The Night People“ einen von der Struktur her unter Ignoranz der „Morde“ vergleichbaren Roman. Da verabschieden sich zwei Paare nach einigen Mutproben mit einer spektakulären, aber nicht die Gesellschaft bedrohenden oder terroristischen Aktion von der Öffentlichkeit. Christian von Ditfurth folgt ein wenig dem hier etablierten Muster, durchbricht die Schemata seiner bisherigen „Oker WG“ Bücher mit dem Verzicht auf zwei Leichen und zeigt, dass selbst Terroristen über einen Hauch von Gerechtigkeit verfügen und im Gegensatz zum Eindruck der vielleicht auch manipulierten Öffentlichkeit den eigenen Reihen gegenüber kritischer als gedacht gegenüberstehen. Im Rahmen dieser liebenswerten und hoffentlich wiederkehrenden WG Reihe ist „Ein Mörder kehrt heim“ der bislang beste Roman, dessen Struktur konsequent, wenn auch positiv Dialoglastig entwickelt worden ist. Die Auflösung des „Falls“ ist weniger stark konstruiert als zum Beispiel in „Tod in Kreuzberg“, wo zu viele rote Fäden ausgelegt und dann nicht entsprechend zur Lösung der Morde aufgerollt werden konnten. Es gibt auch keine Verschwörungstheorie, sondern geht um die Auflösung der alten Seilschaften. Mit den wie schon angesprochen positiv exzentrischen, das wahre Herz Berlins in sich tragenden  Charakteren erreicht von Ditfurth nicht nur die Qualität der besten Stachelmann Romane, sondern übertrifft sie mit dieser dreidimensionalen, semirealistischen Atmosphäre sogar.

      

 

 

 

  • Broschiert: 368 Seiten
  • Verlag: carl's books (8. Oktober 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3570585182
  • ISBN-13: 978-3570585184
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