Robert Charles Wilson ist einer der Science Fiction, der vergleichbar Robert W. Sawyers Entwicklungen der Gegenwart ausgesprochen überzeugend und vor allem auf einem humanistischen Fundament mit dreidimensionalen Charakteren in eine nahe, durchaus realistische Zukunft übertragen kann. Unter diesen Aspekten funktionieren auch Romane kosmopolitischer Bedeutung wie seine „Spin“ Trilogie, die eine phantastische Idee extrapolierend – die Sterne erlöschen scheinbar von der Erde aus betrachtet – vor allem im Auftaktroman über seine Charaktere funktioniert. Aber nicht jeder seiner Romane ist zufriedenstellend aufgebaut. So konnten die Grundideen von „Kontrolle“ nicht überzeugen, weil gegen Ende des ebenfalls sehr stringenten Buches die Zeichnung der Protagonisten auseinanderfiel.
Auf den ersten Blick könnte „Netzwerk“ eine Variation von Kontrolle sein, in dem Robert Charles Wilson einen Trend der gesteuerten Sozialisierung und der Freundschaftsbünde gefunden nicht auf den sozialen Medien, sondern mittels eines Algorithmus ermittelt geschickt extrapoliert und dabei impliziert, dass diese perfekten und perfektionierten Netzwerke irgendwann in der Zukunft eine dominante Stellung erreichen könnten. Eine derartige dominierende Position, dass sie nicht nur die anderen Verbünde/ Netzwerke zu beherrschen suchen, sondern Logen entsprechend die Macht hinter der offiziellen Politik durch ihre Verbindungen darstellen können und einzelne Netzwerke betrachtend sogar wollen.
Die Grundidee ist faszinierend einfach. Das tech Start Up InterAlia hat ein System entwickelt, mit welchen Personen nicht nur auf ihre Zusammengehörigkeit oder möglichen Sympathien nicht nur im partnerschaftlichen, sondern auch sozialen Umfeld und der Arbeit zusammengeführt werden können, sondern im Grunde neue Lebensgemeinschaften in Form von interaktiven Großfamilien „erschaffen“ werden. Wer den Test nicht besteht, erhält sein Geld zurück. Das positive Ergebnis des Testes ist der erste Schritt zu einer jeweiligen vorbestimmten Gruppe. Es gibt nach dem griechischen Alphabet insgesamt 21 mögliche Gruppen. Im Laufe des Romans schälen sich zwei besonders starke Affinitäten heraus.
Adam Fisk stammt aus der Kleinstadt Schuyler. Er ist zum Studieren nach New York gegangen. Sein Vater ist als selbstständiger Unternehmer eine dominante Persönlichkeit, die gerne nicht nur Minderheiten beleidigt, sondern vor allem auch die eigene Familie unterdrückt. Adam ist nach Aaron der zweiälteste Sohn und steht damit im Schatten des großen Bruders, während der dritte Bruder schüchtern und eingeschüchtert ist. Mit groben Zügen beschreibt Robert Charles Wilson das besonders schwierige Familienleben mit der Großmutter, welche den Verbund unabhängig von ihrer Krankheit auf der einen Seite zu glätten sucht, während Adam Fisks Stiefmutter auf der anderen Seite mit ihrer zurückhaltenden mütterlichen Art die charakterlichen Schwächen ihres Ehemanns auszugleichen sucht. Adam Fisk ist im Grunde ein gefundenes Fressen für die Affinitäten. Seine Großmutter hat bislang sein Studium finanziert, ihre Krankheit verhindert weitere monetäre Unterstützungen; sein Vater möchte ihn am liebsten wieder in der Kleinstadt sehen und seine Sandkastenliebe hofft, dass er sie irgendwann heiraten wird.
Da die Tests bei Nichtbestehen kein Geld kosten, lässt sich Adam Fisk testen. Er wird in die Gruppe der Tau aufgenommen, eine der größeren Affinitäten. Innerhalb weniger Stunden erhält er ein Zimmer in einem Haus zweier Taumitglieder, einen neuen Job in einer Werbeagentur und schließlich trifft er sogar eine interessante, aus Kanada stammende Frau mit indischen Vorfahren.
Fast unnötig baut Robert Charles Wilson noch einen globalen Konflikt an dieser Stelle ein. Pakistan mit Chinas Unterstützung versucht Indien anzugreifen und kommunikationstechnisch zu isolieren. Diese Vorgehensweise hat während des finalen Showdowns globale Auswirkungen. Dieser Ansatz wird zum Einen nicht befriedigend abschließend extrapoliert und zum Zweiten ist er angesichts der politischen Entscheidungen – eine hierarchisch streng organisierte Affinität soll quasi die anderen Affinitäten im Auftrag der amerikanischen Regierung kontrollieren, der Teufel soll im übertragenen Sinne den Beelzebub austreiben – innerhalb der USA auch unnötig. Natürlich passiert der Blackout sowohl des Stroms als auch der Telekomunikation während einer entscheidenden Phase des Showdowns und droht lange aufgebaute Pläne zu unterminieren, aber die Folgen beschreibt der Autor zu wenig nachhaltig und vor allem relativiert er bis auf das persönliche Schicksal Adam Fisks zu viele Ansätze relativ schnell wieder.
Mit dieser Vorgehensweise agiert der Autor kontraproduktiv, da insbesondere die Affinitäten mit ihren wirtschaftlichen Wechselwirkungen und vor allem auch der Bildung offener Beziehungen – so hat Adam Fisk so lange keine Problem, dass seine Freundin auch mit einem anderen Mitglied der Gruppe schläft, bis sie diesen Mann heiratet - der wichtigste Aspekt des Buches ist.
Adam Fisk ist – wie auch der Epilog zeigt - im Grunde ein einsamer Mensch, der Wärme und Geborgenheit sucht. Er muss sie außerhalb seiner Familie nach dem Tod seiner Großmutter finden, da sein Vater alle familiären Beziehungen systematisch durch seinen Zynismus, durch seine Präsenz und schließlich auch durch sein stupides dogmatisches Verhalten unterminiert. Wie eine Sekte wirkt die Affinität auf ihn. Robert Charles Wilson nimmt sich ausgesprochen viel Zeit, um diese Auswirkungen im Detail zu beschreiben und dadurch die Verführung basierend auf einer wissenschaftlichen Methode zu beschreiben.
Dass die Affinitäten auch gefährlich sein können, ignoriert Adam Fisk im Gegensatz zum in dieser Hinsicht sensibilisierten Leser sehr viel länger als es glaubwürdig erscheint. Als die Codes, auf denen die Berechnungen basieren, von einem sterbenskranken Geschäftsführer der InterAlia der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollen, regiert eine der mächtigsten Affinitäten. Immerhin haben die Affinitäten inzwischen eine eigene Sozialversicherung auf die Beine gestellt, eine Altersversorgung in Form von Beteiligungen an Affinitätsnahen Unternehmen oder streben mit Strohmännern nach politischer Macht in den USA. Sie bilden einen Staat im Staat, der vordergründig warmherzig und sozial ist, aber auch knallharte geschäftspolitische Interessen vertritt.
Vielleicht wirkt der Übergang vor einer indirekten Warnung gegenüber Sektenartigen Gemeinschaften selbst in modernster Form und einem politischen Paranoia Thriller zu krass und Robert Charles Wilson kann die angedeuteten politischen Bewegungen an keiner Stelle wirklich nachhaltig in adäquate Gefahrensituationen umsetzen – auch die Idee der Entführung eines Familienangehörigen, um das Durchsetzen eines Gesetzesentwurfs nicht zu behindern, erscheint eher wie eine Art fauler Kompromiss als eine nachhaltige originäre Idee -, aber die Gesellschaft, welche der Autor vor allem in der ersten Hälfte seines Buches entwirft, ist derartig verführerisch pragmatisch, dass der Leser wahrscheinlich ähnlich wie Adam Fisk gehandelt hätte. Und wie viele Menschen bleiben die positiven Erinnerungen hängen, so dass die im Epilog beschriebenen Folgeentscheidungen nachvollziehbar sind.
Robert Charles Wilson hat als Schriftsteller die bemerkenswerte Fähigkeit, teilweise mit wenigen Zügen so menschliche Protagonisten mit nachvollziehbaren Handlungen zu entwickeln, dass diese Sympathieebene den Leser viel stärker in seinen Bann zieht als manche inhaltliche Exkursion. Es sind viele kleine Nuancen, die seine Figuren basierend auf der Gegenwart einfach lebendig erscheinen lassen und selbst bei einigen seiner schwächeren Bücher wie dem schon angesprochenen „Kontrolle“ das Interesse des Lesers aufrechterhalten. Vor allem ein Buch über die Suche nach sozialer Wärme in jeglicher Form braucht diese lebendigen Figuren und von denen gibt es in „Netzwerk“ auf allen Handlungsebenen ungewöhnlich viele.
In einem weiteren Punkt folgt Wilson auch seinem kanadischen Kollegen Sawyer. Seine Romane haben keine echten Abschlüsse. Die sozialen Tendenzen der Affinitäten, ihre Machtansprüche und schließlich die gesetzliche Kontrolle sind Sprungbretter für einen deutlich komplexeren zukünftigen Handlungsverlauf, der sich ausschließlich in der Phantasie der Leser abspielen wird. Diese Vorgehensweise kann frustrieren, aber da Wilson ausschließlich aus einer subjektiven, sehr persönlichen und dadurch auch eingeschränkten Perspektive seine Geschichten erzählt, erschließt sich dem Leser bis auf die „Spin“ Trilogie niemals das große Ganze. Vieles ist der eigenen Phantasie überlassen und damit intellektuell stimulierend wie provozierend.
Die Affinitäten bieten abschließend keine neue Weltordnung, keine Zuflucht im politisch sozialen Chaos, sie sind trotz ihrer algorithmischen Basis im Grunde auch nur verzweifelte Versuche einsamer Menschen, sich unabhängig von den nicht mehr intakten Familienverbünden gegen die Herausforderungen des Lebens als Gemeinschaft zu wappnen. Und gerade dieser Punkt hebt mit seinem nicht abgeschlossenen sozialen Experiment „Netzwerk“ aus der Masse vieler zu glatter Science Fiction Romane so positiv trotz einiger handlungstechnischer Kompromisse dem normalen Leser gegenüber heraus.
- Taschenbuch: 384 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (13. Juni 2017)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3453316576
- ISBN-13: 978-3453316577
- Originaltitel: The Affinities