Mr. Holmes

Mr. Holmes, Cullin, Rezension, Thomas Harbach
Mitch Cullin

Mitch Cullins schon 2005 veröffentlichter und jetzt mit Ian McKellen in der Hauptrolle verfilmter Roman „Mr. Holmes“ ist weniger ein Kriminalfall – entgegen aller Ankündigungen beendet Holmes keinen Fall, sondern er vervollständigt nur seine Aufzeichnungen – denn eine Reflektion über das Leben an sich. Dabei agiert der Roman auf verschiedenen Ebenen. Kunstvoll verbindet der Autor insgesamt drei sehr unterschiedliche Spannungsbögen. Da wäre Holmes Aufenthalt in Sussex. Über neunzig Jahre alt lebt er abgeschieden in einer einsamen Hütte, kümmert sich um seine Monologe, züchtet Bienen und schließt Freundschaft mit einem kleinen Jungen, der seinen Vater im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Der zweite Handlungsbogen ist die gerade abgeschlossene Reise nach Japan unter anderem auch mit der Besichtigung des Hiroshima Doms. Eingeladen von einem japanischen Bewunderer, der sich Informationen über seinen Vater erhofft. Die dritte die beiden Spannungsbögen verbindende Ebene ist der eigentliche „Fall“, der wie einige von Sherlock Holmes Ermittlungen zu keinem Täter führen wird. Kunstvoll wie gekonnt sind diese drei Bogen an unterschiedlichen Enden miteinander verbunden, ohne dass der Autor abschließende Fragen beantwortet. Dabei steht weniger die Überperson Sherlock Holmes im Mittelpunkt des Geschehens, sondern wie er auf seine Umwelt reagiert und seine Umwelt ihn nicht immer fair, aber pragmatisch einschätzt. In dieser Hinsicht ist es ein erstaunliches Buch. Sherlock Holmes brilliert immer noch durch seine Beobachtungsgabe, aber auf keiner der Handlungsebenen kann er nachhaltig deduzierend einen Fall aktiv lösen. Ihm bleiben nur Vermutungen. Hinzu kommt, dass keine der grundlegenden Reise wirklich abgeschlossen wird, sondern das Leben diese Ereignisse teilweise brutal und vor allem für die Hinterbliebenen nicht immer verständlich unterbricht.

 Aufhänger und fast tragisch das verbindende Element ist die Freundschaft zwischen dem alten Herrn Sherlock Holmes und dem jungen Halbwaisen Roger. Roger stiehlt sich in Holmes Arbeitszimmer und liest die Aufzeichnungen eines letzten „Falls“. Später wird sich Holmes in Rogers Jugendzimmer in der Nacht klammheimlich begeben, um die beiden japanischen Bienen, tot in einem Glas liegend, wieder als Erinnerung an sich zu bringen. Während Roger eine Art Vaterersatz sucht und fast verzweifelt ambitioniert bemüht ist, dem anfänglich unnahbaren Sherlock Holmes nahe zu sein, entwickelt sich von Seiten des Detektivs eine großväterliche Liebe, so weit Holmes in einem der tragisch unbeholfenen Gespräche am Ende des Buches diese Begriffe überhaupt definieren kann. In diesem Moment zerbricht seine raue Schale und ein einsamer, aber noch aktiver Mann tritt zu Tage, der Jahre vor Watsons Tod schon erkennen musste, das mit der Aufgabe der Baker Street, dem Rückzug von den Ermittlungen auch ihre Freundschaft erkaltet ist und sie sich nichts mehr zu sagen haben. Ohne Kitsch, ohne übertriebene emotionale Ausbrüche, alle bestehend aus kleinen Gesten und Zuneigungen, aus der fast übertriebenen Pflichterfüllung heraus entwickelt sich diese ungewöhnliche, aber dreidimensional beschriebene Freundschaft, an deren Ende wie nicht selten ein geradezu grausames fast sadistisches Schicksal zuschlägt und diese ländliche Idylle in Sussex endgültig zu einem Gefängnis werden lässt. Da helfen weder die Spaziergänge zum Meer (nach Mycrofts und Watsons Tod) noch die langen Spaziergänge die grünen Hügel hinauf. Diese wichtige, elementare und vielleicht auch emotional am meisten ansprechend Handlungsbogen teilt sich anschließend in diesen letzten, von Holmes eher unbeholfen, inzwischen ein wenig Respekt für Watsons schriftstellerische Fähigkeiten niedergeschriebenen „Fall“ und die Reise nach Japan, die mit umgekehrten Vorzeichen noch einmal ein seltsames „Vater- Sohn“ Verhältnis, die fast verzweifelte Suche nach einer „heilen“ Familie hervorkehrt.

Der eigentliche Fall ist erstaunlich distanziert beschrieben. Erst mit den später im Alter fortgesetzten Aufzeichnungen gewinnt er an fast melancholischer Tiefe. Plötzlich bringt Sherlock Holmes das Verständnis für das „Opfer“ auf, das er vorher unter seinen detektivischen Beobachtungen förmlich begraben hat. Aber ihm fehlt wie wahrscheinlich auch dem Leser das Verständnis, der innere Zugang zu den Widersprüchen im Menschen selbst, der mit Bienen umgehen kann und doch die innere Leere nach einem persönlichen Verlust – auch hier greifen die im Grunde drei Handlungsebenen ineinander, denn während Holmes im Alter seinen Bruder und vorher seinen Freund verloren hat, vermissen alle drei relevanten Hauptpersonen am Ende Menschen, die kritisch gesprochen alterstechnisch zur Unzeit verstorben sind -   nicht überdecken kann. Auf diesem Spannungsbogen gibt es vielleicht die meisten Zugeständnisse zu den klassischen Sherlock Holmes Geschichten. Ein seltsames Familiengeheimnis, eine Frau, die sich mehr und mehr ihrem Ehemann – bemüht aber innerlich kalt – zu entziehen sucht. Ein geheimnisvolles Instrument und schließlich eine eher dominante Frau, die entschlossen und scheinbar hinterhältig agierend auf den eigenen persönlichen Vorteil aus ist. Nur kurze Zeit wird der Leser auf Höhe des Detektivs und als Kontrast zum naiven, egoistischen Ehemann vom aufmerksamen Sherlock Holmes auf Augenhöhe mitgenommen, der zusätzlich seinem Publikum rechtzeitig einen wichtigen Hinweis gibt und deswegen anders als in den Originalgeschichten mit einem belehrenden Monolog am Ende agiert. Am Ende berührt auch diese tragische Handlungsebene den Leser wie den alten, noch einmal seine beginnende Vergesslichkeit überwindenden Sherlock Holmes, der an der Unerklärlichkeit des Schicksals, das sich immer seinen Fähigkeiten als Detektiv entzogen hat, fast auf eine plötzlich zutiefst menschliche Art und Weise zu scheitern droht. 

Es ist die Reise nach Japan, welche dien Grundlagen für dieses Altersweisen, aber auch müden Sherlock Holmes legt. Nach langer Korrespondenz eingeladen von einem Bewunderer zeigt sich, das es auf dessen Seite auch persönliche Motive gibt. Anfänglich brüskiert und desillusioniert dieser Mr. Holmes seinen Bewunderer, in dem er den Deerstalker, die Pfeife und vielleicht auch sein markantes Aussehen ins Reich der Fabeln Doktor Watsons und damit auch den Strand Magazines verweist. Er bevorzugt Zigaretten. Während die beiden Männer durch ein vom Zweiten Weltkrieg immer noch gezeichnetes, aber erstaunlich distanziert beschriebenes Japan reisen, kommen sie sich näher. Es stellt sich heraus, dass Sherlock Holmes den Vater den nicht mehr ganz jungen, in einer homosexuellen Beziehung mit einer verwirrten, aber immer noch dominanten Mutter lebenden Mannes gekannt ist. Die Anspielungen auf die platonische Beziehung zwischen Watson und Holmes gehen in diesem Kontext fast unter. Es gibt nur zwei Probleme. Holmes hat aufgrund der brisanten Fälle die Tagebuchaufzeichnungen Watsons dieser Jahre um 1903 verbrannt und er kann sich nicht mehr erinnern. Emotional überzeugend, behutsam beschreibt Mitch Cullin, wie Sherlock Holmes quasi gezwungen ist, auf Watsons Spuren zu wandeln und einen „Fall“ natürlich von politischer Brisanz erfinden muss, damit sein Gastgeber den Anschein erhält, sein Vater wäre aus einem wichtigen Grund und nicht vielleicht nur wegen des erkennbaren „Wahnsinns“ seiner Ehefrau und damit der Mutter des Gastgebers aus England nicht zurück gekehrt. Zum zweiten Mal auf einer Handlungsebene nähert sich Sherlock Holmes seinem Chronisten an. Es ist wahrscheinlich auch rückblickend der Spannungsbogen, in dem die Saat für die beiden anderen relevanten Plotarme gelegt wird. Mr. Holmes ist ein Mann, der förmlich von seiner literarischen Legende erdrückt wird. Natürlich deduziert er zwei/ drei Mal eher zur Belustigung seines unterschiedlichen Publikums in diesem Roman als es für die Lösung eines egal wie unwichtigen Falls relevant ist. Er versucht auf der anderen Seite immer wieder aus seiner ihm von Watson aufgedrängten, aber auch aus Eitelkeit akzeptierten Rolle auszubrechen. Am Ende erkennt Holmes, das er sich selbst in einem Gefängnis gefangen hat. Exemplarisch ist, das er auf der einen Seite die täglich eintreffende Post mit Missfallen betrachtet und sie doch wie ein kleiner Kind vor dem Gabentisch aufmacht und liest.  Natürlich ist er immer noch ein wenig arrogant, fast ein Beamter in seinen Tagesabläufen, stoisch darauf bedacht, die geordnete Unordnung in seinem Büro nicht durcheinander zu bringen. Er kann tagelang mit wenig Essen und noch weniger Schlaf auskommen,. Während er aber früher diese körperliche Geißelung benutzt hat, um seinen Verstand während eines Falls zu schärfen, ist es jetzt eine Mischung aus erkennbarerer Altersvergesslichkeit, einer fehlenden inneren Uhr und schließlich auch der körperlichen Erschöpfung, die ihn zusammen mit seiner harten Schale – der weiche Kern wird immer deutlicher herausgearbeitet – von seinen Mitmenschen auch isoliert, die in ihm immer noch den dynamischen Ermittler sehen, dem Watson ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Es sind diese offensichtlichen Widersprüche, die Mitch Cullin an keiner Stelle positiv für den ganzen Roman erklären will, welche „Mr. Holmes“ zu einem vor allem zwischen den Zeilen ungewöhnlich interessanten und vor allem auch vielschichtigen Buch machen.  Für einen relativ an Lebensjahren „jungen“ Autoren ist es aber auch ein Roman voller Altersweisheit, der sich an der markanten, aber auch überzeugenden Beschreibung eines „alten“ Sherlock Holmes hinaus mit den Unbilden des Lebens beschäftigen. Momente voller „Glück“ und Tragödien wechseln sich ab. Für Holmes ist es eine Erfahrung, das Verlustängste in jedem Lebensabschnitt passieren können. Diese Erkenntnis öffnet ihm auch die Augen gegenüber seinen Mitmenschen, wobei es fast kindlich unbeholfen wirkt, wenn er eine Frau zu trösten sucht, die nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren Jungen verloren hat. Ohne zu nah an den Kanon heranzutreten oder gar auf die berühmten Fälle einzugehen – der einzige Hinweis ist, dass sein japanischer Gastgeber als erstes Buch auf Englisch „The Hound of the Baskervilles“ verschlungen hat – ist „Mr. Holmes“ die Beschreibung eines letzten Lebensabschnitts, der ohne Bedauern, aber doch mit einem Gefühl der Leere auf die vielen Jahre zurückblickt, die er teilweise auch mitgestaltet hat. Stilistisch elegant ohne erdrückend zu sein lebt dieser „Mr. Holmes“ nicht nur durch das Bild, das sich plötzlich mit Ian McKellen aus der Adaption verbindet, sondern vor allem durch die Handlungen, die er rückblickend fast zum eigenen Bedauern unterlassen hat.       

 

 

  • Taschenbuch: 253 Seiten
  • Verlag: Canongate Books Ltd.; Auflage: Tie-In - Film tie-in (4. Juni 2015)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 1782113312
  • ISBN-13: 978-1782113317
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